Max hatte die Pension schon fast erreicht, als ihm einfiel, dass er gar nicht dorthin wollte, sondern zu Ingo Görlitz. Die Begegnung mit Peter Kautenberger hatte ihn derart aus dem Konzept gebracht, dass er, ohne zu überlegen, losgegangen war und versucht hatte herauszufinden, was ihn bei der Verabschiedung so stutzig gemacht hatte.
Er brauchte Zeit für sich, er musste sich konzentrieren, das gesamte Gespräch noch mal Stück für Stück durchgehen …
Sein Telefon vibrierte in seiner Jackentasche. Es war Böhmer.
»Wo treibst du dich denn herum?«, fragte sein Expartner.
»Ich bin im Ort unterwegs, und du? Bist du schon angekommen?«
»Ja. Ich sitze in der Pension.«
»Oh, okay, ich bin auch gleich da.«
»Lass dir Zeit, ich unterhalte mich hier mit einer sehr charmanten jungen Frau und trinke eine Tasse Kaffee. Eine weitaus angenehmere Gesellschaft als du.«
»Ich brauche fünf Minuten«, sagte Max grinsend und legte auf.
Er überlegte, ob er Böhmer anschließend gleich zu dem Gespräch mit Ingo Görlitz mitnehmen sollte, kam aber zu dem Schluss, dass das keine gute Idee war. Böhmer sollte sich um Jana kümmern, und zudem wollte er nicht riskieren, dass Ingo Görlitz noch mehr abblockte, wenn er plötzlich mit einem weiteren Fremden bei ihm auftauchte.
Als Max kurz darauf den Aufenthaltsraum der Pension betrat, lächelte Lisa Passig ihm entgegen, während Böhmer mit den Augen rollte. »Ich sagte doch, du sollst dir Zeit lassen. Gerade wollte ich diese wundervolle Frau um ein Rendezvous bitten. Wenn sie jetzt ablehnt, ist es deine Schuld.«
»Ich bin überzeugt, Frau Passig wird sich gern von uns beiden zum Essen in die tolle Pizzeria hier im Ort einladen lassen, wenn dieser Fall abgeschlossen ist. Bis dahin wirst du mit mir vorliebnehmen müssen, mein Freund.«
Die Pensionswirtin stand lächelnd auf und griff nach ihrer Tasse. »Dann lasse ich Sie beide jetzt mal allein. Ich denke, Sie haben einiges zu besprechen. Möchten Sie auch einen Kaffee?«
Max winkte ab. »Nein, danke.«
Er wartete, bis sie den Raum verlassen hatte, dann klopfte er Böhmer auf die Schulter und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch.
»Okay, erzähl mir, was ich noch nicht weiß«, sagte Böhmer und sah Max erwartungsvoll an.
»Ich hatte heute Morgen schon einige interessante Gespräche. Unter anderem auch eine längere Unterhaltung mit Peter Kautenberger.«
Böhmers Stirn legte sich in Falten. »Moment. Kautenberger … Ist das nicht der, der vor über zwanzig Jahren verschwunden ist?«
»Genau der.«
»Was? Aber wie … Nun erzähl schon.«
Und Max berichtete. Von Melanie Dobelke über Kornmeier zu dem alten Brandstätt bis hin zu der seltsamen Begegnung mit Peter Kautenberger.
Hier und da schüttelte Böhmer den Kopf, unterbrach Max aber nicht, bis er fertig war.
»Hm …«, brummte er dann. »Was ist dieser Kautenberger für ein Typ? Ich weiß, dass du ein verdammt gutes Gespür für Menschen hast. Wie wirkt er auf dich?«
Max dachte einen Moment nach. »Die Frage stelle ich mir, seit ich mich von ihm verabschiedet habe. Es ist schwierig. Einerseits kann er einem echt leidtun bei dem, was er erlebt hat. Vorausgesetzt, alles ist auch wirklich so passiert, wie er es geschildert hat. Andererseits … dieses Insistieren darauf, dass er weiß, was richtig und was falsch ist, ganz ehrlich, ich glaube, er kann einen auch richtig wütend machen mit seinem permanent erhobenen Zeigefinger. Ob er an sich selbst so hohe Ansprüche stellt, wie er es von anderen erwartet … ich weiß es nicht. Ich denke, Freunde würden wir beide wohl eher nicht werden.«
»Du meinst, er versprüht gern Sozialnebel aus dem Moralhydranten, hat aber selbst eine Schutzmaske auf?«
»Ja, so ähnlich«, bestätigte Max schmunzelnd.
»Und du hast keine Idee, was er mit den Schritten gemeint haben könnte, die dazu führen sollen, dass der Täter sich verrät?«
»Nein, keinen Schimmer. Aber er sagte ja, ich würde es erfahren.«
»Stimmt. Und was hast du jetzt weiter vor?«
»Ich werde Ingo Görlitz einen Besuch abstatten und bin gespannt, wie er begründen wird, dass er mir nichts von Peter Kautenberger erzählt hat.«
»Da könnte ich dich doch prima begleiten.«
»Ich denke, es ist besser, du besuchst Jana im Krankenhaus. Und außerdem solltest du deine Chefin anrufen, bevor sie sich ins Auto setzt und noch mal hierherkommt, weil sie befürchtet, jeder in meinem Umfeld würde ein Opfer meiner Selbstsucht werden, wenn sie sich nicht um alles kümmert.«
»Wenn ich damit verhindern kann, dass sie hier auftaucht, rufe ich sie gleich als Erstes an.«
»Dann mache ich mich auf den Weg zu Görlitz. Wir telefonieren.«
Auf dem Weg zu Ingo Görlitz grübelte Max erneut über Kautenberger nach und über die Frage, warum der ihn mit in sein Versteck genommen hatte, obwohl er weiterhin nicht entdeckt werden wollte. Max hätte Zerbach anrufen und ihm verraten können, wo sich Kautenberger aufhielt. Der Hauptkommissar wäre sicher hocherfreut gewesen, sich mit dem Mann zu unterhalten, dessen Tod er vor vielen Jahren vergeblich aufzuklären versucht hatte.
Kurzentschlossen änderte Max die Richtung und steuerte das ehemalige Weingut der Kautenbergers an.
Nach wenigen Minuten hatte er es erreicht und nahm den gleichen schmalen Weg wie zuvor gemeinsam mit Kautenberger. Dabei fragte er sich, wem das Grundstück jetzt wohl gehörte und ob dort noch Wein produziert wurde. Das würde er klären. Er erreichte das kleine, verlassene Haus, ging außen herum und stand dann vor der Treppe. Neben der unteren Stufe sah er die Blechdose, in der der Schlüssel gesteckt hatte.
Max ging hinab und bückte sich nach der Dose. Wenn der Schlüssel nicht da war, konnte das bedeuten, dass Kautenberger sich noch im Haus aufhielt.
Der Schlüssel steckte in der Dose, Max schloss auf und konnte sich kurz darauf versichern, dass der Raum leer war, völlig leer. Die Isomatte und die Decken waren nicht mehr da.
Das war also der Grund für Kautenbergers Offenheit ihm gegenüber gewesen. Gleichgültig, ob Max jemandem von der Unterkunft erzählt hätte, Kautenberger war erneut verschwunden.
Nachdenklich verließ Max das Gebäude, ging zurück zur Straße und schlug den Weg zu Görlitz ein.
Er wurde aus Peter Kautenberger einfach nicht schlau.