Eine Weile blieb Robin unter der Brücke stehen und wusste nicht, was er tun sollte. Als hätte sich sein Körper in eine Art Schlafmodus geschaltet, starrte er in den Fluss, und das Einzige, das er denken konnte, war: Siobhan ist nicht da!
Das Wasser gurgelte vor seinen Füßen. Auf der Brücke über ihm rauschten die Autos. Und in der Luft über den hier wie dort gleich grauen Dächern knatterte der Hubschrauber. Und immer noch hockte dort bei aufgeschobener Tür ein blassgesichtiger Soldat, der aussah wie ein kleiner Junge und darauf achtete, dass niemand unten auf der Erde eine Dummheit beging – weder an diesem heiligen Sonntag noch an irgendeinem anderen ganz gewöhnlichen Wochentag.
Nur dass Big Chief ins Ochsenauge gestiefelt war, einfach so, aber gegen Mums Willen, hatte der junge Mann samt seinem schnittigen Selbstladegewehr auf den Knien in all seiner Wachsamkeit auch nicht verhindern können.
Es ist völlig unsinnig, hier zu stehen, in einen gurgelnden Fluss zu starren, die Autos rauschen und den Hubschrauber knattern zu hören und nichts zu tun, schimpfte Robin mit sich selbst.
Auch wenn Robin nach wie vor nicht wusste, was er tun sollte, kletterte er den Hang wieder hinauf.
Die Dezembersonne hatte, so milde sie auch schien, die Pfützen weggedampft und etliche Spaziergänger auf die Uferpromenade gelockt. In Mäntel und Schals gehüllt schlenderten sie den schmalen Kiesweg entlang. Mütter schoben ihre dick eingepackten Säuglinge in Kinderwägen hin und her. Und auf den Bänken dösten, dicht an dicht in Decken gehüllt, die Bewohner des nahe gelegenen Altenheims. Sie hielten ihre Gesichter in die Sonne, als wollten sie noch einmal ausgiebig Licht und Wärme tanken für den langen Winter, wie man vorsorglich den Tank auffüllte, ehe man eine weite Autofahrt antrat. Und hinter ihren grauhaarigen und häufig auch kahlen Schädeln brodelten die schaurigen Geschichten aus „Weißt-du-noch-damals?“ und lauerten darauf, erzählt zu werden.
Als Robin die alten Leute auf den Bänken sitzen sah, merkte er, wie müde er war. Das heißt, nicht er war müde, sondern seine Füße taten ihm weh, als hätte er sich die Sohlen wundgerubbelt. Das lag bestimmt an dem vielen Herumgerenne heute. Auch wenn Robin bei Schwester Basilea zweifelsohne eine beachtliche Pause eingelegt hatte mit allem Drum und Dran, mit Keksen, Sandwiches und Tee, ganz wie es sich gehörte, aber auch – psst, nicht weitersagen! – mit Plumpudding, obwohl das gegen sämtliche Regeln und Vorschriften einer langen Tradition verstieß. (Überall im Vereinigten Königreich gab es den Plumpudding nämlich erst zu Weihnachten. Auch die Iren in der Republik Irland machten das nicht anders. „Wir aber schon!“, hatte Schwester Basilea gesagt und das „Wir“ betont und Robin zugezwinkert dabei, „zumal immer Weihnachten ist, wenn Jesus in deinem Herzen lebt, stimmt es oder habe ich recht?“)
Auf einer der Bänke döste, ganz allein, ein alter Mann. Mit ungezählten Falten im Gesicht, grauhaarig und in sich zusammengesunken wie eine Marionette, deren Fäden sich gelockert hatten, sah er aus, als würde er schon hundert und mehr Jahre leben mindestens und randvoll mit gruseligen Geschichten stecken obendrein. Er stützte sich auf einen Gehstock und hielt die Augen geschlossen.
Und der Platz neben ihm war frei.
Wenn Robin sich seeeehr leise hinsetzte, würde der alte Mann ihn vielleicht nicht bemerken. Das dachte Robin. Das hoffte er. Der alte Mann würde schön brav die Augen geschlossen halten und – was weitaus wichtiger war – vor allen Dingen seinen Mund. Und all die schaurigen Geschichten, die Robin nicht hören wollte, würden nie zu hören sein.
Doch kaum hatte sich Robin behutsam auf die Bank geschlichen, klappte der alte Mann die Augen auf. Und sogleich sprudelte er los. „Da bist du ja, mein Junge!“, rief er, als würde er Robin von klein auf kennen und hätte ihn die ganze Zeit vermisst. „Hast du dich etwa vor der großen Bombe versteckt? Aber das brauchst du doch nicht! Das ist doch schon so lange her, da lagst du sicher noch in Windeln.“ Und er lachte – „hahaha“ – und klopfte dreimal mit dem Gehstock auf den Boden, dass der Kies knirschte.
„Aber du hast schon recht. Das war wirklich eine gewaltige Bombe damals! Obwohl sie das Rathaus, das sie hätte sprengen sollen, nicht gesprengt hat. Nein, das hat sie nicht geschafft. Aber Jimmys Buchladen ging hoch. Und Margies Frisör an der Ecke. Und bei Murphy’s lagen alle Scheiben auf der Erde. Selbst in Corridans Autowerkstatt am anderen Ende der Stadt haben sie den Knall gehört.“ Wieder stampfte er mit dem Gehstock auf. Robin schauderte. „Ich komme gerade aus Murphys Laden, da haut es mich um. Meine Frau hatte mich geschickt. ‚Lauf rasch zu Murphy’s, Paddy‘, hat sie gesagt, ‚wir brauchen Milch fürs Abendessen, sonst bekommen die Kinder bloß Wasser in den Porridge.‘ Und was willst du da machen? Natürlich bin ich noch mal hin. Und wie ich aus der Tür trete mit der Milchflasche unter dem Arm, gibt es einen Knall, so ohrenbetäubend und grell, dass ich denke, mich trifft der Blitz. Mir reißt es die Milchflasche aus der Hand. Und die Beine weg. Weggeknickt sind die, als wären es Streichhölzer! Und um mich herum wirbeln die Scherben. Wie Regen. Aber aus Metall und Steinen. Und all die Schreie. Überall. Dann wird es dunkel um mich her und ich erinnere mich an nichts, nur dass ich im Krankenhaus wieder aufgewacht bin. Und seitdem spüre ich ein Stechen in den Beinen. Besonders an Tagen wie diesen, an denen es die Sonne noch einmal versucht und mit dem Winter kämpft, obwohl du den Schnee schon riechen kannst in der Luft. Das juckt und das sticht, sage ich dir. Willste mal sehen?“
Und ehe Robin antworten konnte „Vielen Dank, Sir, lieber nicht, Sir!“, hatte der Mann schon die Hose hochgekrempelt und streckte Robin sein Bein hin, sodass Robin gar nicht anders konnte, als hinzuschauen.
Von den Knöcheln über das Schienbein bis hinauf zum Knie zog sich eine gezackte Linie aus aprikosenfarbiger Haut. Und über die Wade tanzten rosa Kreuzchen, als hätte jemand nicht richtig nähen können und seine Stiche mal hierhin, mal dorthin gesetzt, ganz nach Belieben und ohne jedes Gespür für Ausgewogenheit.
„Eine Nagelbombe war das“, knurrte der Alte, „ein richtiges Biest!“
„Oh“, sagte Robin, denn es war in der Tat eine überaus stattliche Narbe. Obwohl Robin Narben durchaus kannte. Er hatte selbst eine am linken Knie, auch wenn das ebenfalls schon eine Weile zurücklag, obgleich sicher nicht so lange wie die Nagelbombe.
Die Geschichte ging folgendermaßen: Robin hatte sein allererstes Fahrrad geschenkt bekommen; darauf war er mächtig stolz gewesen. Aber Radfahren glückte nicht von allein wie Schlafen oder Träumen und auch nicht, indem man sich nur einfach auf den Sattel setzte. Man musste es lernen. Big Chief hatte Robin bei seinen ersten Versuchen geholfen. Robin erinnerte sich genau, als wäre es gestern geschehen.
Die Straße, auf der sie miteinander übten, war mit winzigen Steinchen gepudert, der reinste Schotterweg, aber immerhin fuhren hier kaum Autos, die weitaus gefährlicher hätten sein können als der viele Split. Eine Weile lief Big Chief neben Robin her und stützte ihn mit seiner großen flachen Hand. Immer schneller trat Robin in die Pedale, immer flotter und kühner wurde er. Da ließ Big Chief los und Robin sauste alleine weiter. „Daddy, schau her, ich kann es!“ Und schon rutschte das Rad beiseite, weil Robin, im Rufen noch, den Lenker herumgerissen hatte, um sicherzugehen, dass ihn sein Vater auch wirklich sah. Das Rad krachte scheppernd auf den Kies. Robin sauste in hohem Bogen über den Lenker. Peng! Robin bemerkte das Loch in seinem Knie erst, als er das Blut auf den Boden tropfen sah. Sofort fühlte er auch den Schmerz. Stechend. Und heiß. Als würde jemand kleine Nägel in sein Knie hämmern.
Am feinen Schotter hatte Robin sich die Haut aufgerissen, als hätte er Schmirgelpapier darübergerieben. Und in der Hose klaffte ein Loch, das so groß war, dass Robin mühelos eine Faust hindurchstecken konnte. Das Blut war schlimm. Aber das Loch in der Hose war schlimmer. Das Loch in der Hose war sogar das Allerschlimmste. Alle zehn Plagen Ägyptens auf einmal. Der Weltuntergang. Oder Weihnachten ohne Tannenbaum. Denn bis gerade eben war die Hose ganz gewesen. Und neu.
Mum hatte sie erst am Tag zuvor für Robin gekauft. Vom Haushaltsgeld, das damals schon knapp bemessen, um nicht zu sagen, niemals ausreichend war, aber für eine neue Hose für Robin doch hatte ausreichen müssen. „Weil Robin eben eine neue Hose braucht!“, hatte Mum zu Big Chief gesagt. Und zu Robin hatte sie gesagt: „Weil du auch einmal etwas Schickes haben sollst und weil wir dich lieben.“ Und nun war die neue und schicke und sicherlich viel zu teure Hose kaputt. Und Robins Knie auch. Und das Fahrrad lag verbeult auf dem Boden und auf die Straße tropfte das Blut. Robins Blut. Das war alles ziemlich viel und ziemlich schlimm und deshalb fing Robin zu weinen an. Da packte Big Chief Robin. Er hob ihn auf seine Schultern und stapfte mit ihm nach Hause, ein wenig schwankend wie ein Fahnenmast im Sturm, weil er außerdem das Fahrrad trug. Und dennoch unverwüstlich und zäh.
Robins Knie hatte sehr geschmerzt, aber die Angst vor Mum pochte um einiges größer. Und so weinte Robin die ganze Zeit weiter, selbst als das Hämmern und Pochen in seinem Knie allmählich nachgelassen hatte und er nicht länger wusste, ob er aus Schmerz oder aus Angst weinte. Doch Mum schimpfte nicht mit ihm. Sie nahm Robin in den Arm und hielt ihn fest, wie man jemanden festhielt, wenn er sehr traurig war. Danach hatte Mum Robins Wunde gewaschen und ein großes Pflaster mit lächelnden Teddybären daraufgeklebt.
Trotzdem war ein paar Tage später, als sie das Pflaster wieder abgezogen hatten, ein hauchdünner, silbrig glänzender Streifen am Knie zurückgeblieben. Robins Narbe.
Wenn Robin heute seine Narbe sah, störte sie ihn nicht. Denn obwohl die Wunde sehr gebrannt hatte damals, war Big Chief doch groß und stark gewesen wie einer, der Robin immerzu beschützen würde. Und Mum hatte Robin getröstet und ihn umarmt. Und all das ergab, trotz des Schmerzes und trotz der Angst, eine schöne Erinnerung, denn Robin hatte die Liebe seiner Eltern gespürt wie ein festes Versprechen, das ihm niemand nehmen konnte ein Leben lang.
Da krempelte auch Robin sein Hosenbein hoch und zeigte dem alten Mann sein Knie.
„Oha!“, brummte der Alte. Er nickte anerkennend. „Offenbar hast du selbst ordentlich was abbekommen! Allerhand.“ Und er stampfte mit dem Gehstock auf den Boden. Dann faltete er die Hände über dem Knauf, als wollte er beten, und machte die Augen zu. Und gerade als Robin dachte, der alte Mann sei eingedöst, fing er wieder an.
„Manche sagen: ‚Die Zeit heilt alle Wunden!‘ Aber weißt du, mein Junge, das stimmt nicht. Zumindest ist es nur die halbe Wahrheit. Die Zeit verändert den Schmerz, das schon, aber ein Heiler ist sie nicht. Jede Narbe erzählt ihre eigene Geschichte. Und manchmal erzählt sie von einer Heilung. Und manchmal nicht. Aber immer erzählt sie von einer Wunde, die unter der Narbe liegt und die dir zugefügt wurde. Und manchmal ist die Wunde verheilt. Und manchmal ist sie es nicht.“ Wieder klopfte er mit dem Gehstock auf den Kies. Zweimal. Und dann noch einmal. Dreimal.
Die Sonne hatte sich hinter grauen Wolken verzogen.
„Gleich fängt es wieder an zu regnen“, sagte der alte Mann. „Da will ich mal zurück ins Heim. Zu Toastbrot und Bohnen.“ Ächzend richtete er sich auf, wobei er sich auf seinen Stock stützte. „Gott segne dich, mein Junge!“ Und er schlurfte davon. Als er schon ein paar Schritte gegangen war, drehte er sich noch einmal um. „Und du?“, rief er. „Was machst du eigentlich hier draußen? Und so allein?“
„Ich wollte jemanden treffen“, gestand Robin, „aber sie war nicht da.“
„Wenn sie nicht da war, musst du sie wohl suchen“, sagte der alte Mann. „Oder zumindest versuchen, sie zu suchen. Was vielleicht dasselbe ist. Jedenfalls solltest du nicht so rasch aufgeben.“ Und er schwenkte seinen Stock und stapfte endgültig davon.
Robin sah dem alten Mann nach. Wie er immer weiterging. Schritt für Schritt, gebückt, gebeugt, ein wenig humpelnd, aber dennoch vorwärtskam.