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„Endlich weiß ich es“ – Eisig wie ein Tiefkühlfach

Nachdem die Haustür so unverschämt laut – da wenig rücksichtvoll – zugeschlagen war, glaubte Robin, sein Herz würde stillstehen. Aber das dumme, uneinsichtige Ding klopfte unverdrossen weiter, als wäre Big Chief lediglich ins Ochsenauge gestiefelt, wohin er das Geld für den Assam und die Milch gleich mitgenommen hatte.

Robin wusste nicht, was er tun sollte. Und da Mum schon wieder in der Küche am Fenster stand und ihm den Rücken zudrehte, ging er in sein Zimmer.

In seinem Zimmer auf der Kommode lag Das Buch der hundert Merkwürdigkeiten. Robin öffnete es auf der letzten Seite: „Hier kommt die letzte Merkwürdigkeit in dieser Sammlung: Die letzte Merkwürdigkeit ist eigentlich keine Merkwürdigkeit – sie erscheint nur so. Die Hummel ist das einzige Tier, das rückwärtsfliegen kann. Nach den Gesetzen der Aerodynamik darf eine Hummel allerdings überhaupt nicht fliegen, weder vorwärts noch rückwärts, da ihre Flügel im Verhältnis zu ihrem Körpergewicht nicht groß genug sind. Die Hummel erzeugt aber mit den Flügeln Wirbel, deshalb fliegt sie doch, und sie fliegt eher wie ein Hubschrauber. Hummeln wurden sogar schon am Mount Everest gesichtet auf einer Höhe von über fünftausend Metern. Damit ist die Hummel zugleich das am höchsten fliegende Insekt der Welt.“

Aha, dachte Robin. Das ist sehr wohl merkwürdig. Die Hummel fliegt vorwärts und rückwärts und gaaaanz hoch hinauf, obwohl sie das nach irgendwelchen Gesetzen nicht darf. Vielleicht liegt es aber gar nicht an den Wirbeln, die sie erzeugt, sondern daran, dass sie nichts von den Gesetzen weiß?

Nicht wissen, was man nicht wissen darf.

Nicht wissen wollen, was man nicht wissen soll.

Aber, dachte Robin, ich weiß nun mal, was ich alles nicht kann. Das hier ändern zum Beispiel. Machen, dass Big Chief wieder nach Hause kommt. Das kann ich nicht. Das ist unmöglich.

Unmöglich?

„Bei den Menschen ist es unmöglich, nicht aber bei Gott!“, hatte Vater Faughan in der Messe verkündet, es war noch nicht sehr lange her. Hatte er da einen Scherz gemacht? Oder hatte Vater Faughan sich gar geirrt?

Auf der Kommode stand auch die Glaskugel mit dem Herrn Jesus. Der Herr Jesus sah Robin an. „Und du“, sagte Robin zu ihm, „du kannst das auch nicht! Bei allen heißen Gebeten und bei allem, bei dem du mir bislang geholfen hast, kannst du auch nicht machen, dass Dad wiederkommt und endlich Frieden wird, überall und vor allen Dingen hier zu Hause!“

Der Herr Jesus antwortete nicht. Er breitete die Arme aus, als bettelte er um Schnee.

„Also gut“, sagte Robin, „du hast es so gewollt!“ Und er nahm die Kugel und schüttelte sie und schüttelte und schüttelte. Bis der Schnee in dichten weißen Flocken in der Kugel fiel. Nein, man musste es anders sagen: bis der Schnee in dichten weißen Flocken stob. Der Schnee stob Jesus um das braun gelockte Haar. Er stob um das weiße Gewand mit dem blauen Samtkragen. Und er stob um die weit ausgebreiteten Arme. Bis Robin den Herrn Jesus nicht länger erkennen konnte, weil er im Schneegestöber verschwunden war. Bis es in der Kugel nichts anderes gab als Weiß, Weiß, Weiß. Und da, mit einem Mal, begriff Robin, dass der schöne weiße Schnee in der Kugel in ihm selbst fiel. Dass es in ihm schneite.

Aber diesmal begriff es Robin nicht allein im Kopf, sondern auch im Bauch: All die Kälte und der Schnee, der stob, steckten in ihm. Als wäre er eingefroren.

Schwester Basilea hatte gesagt, es sei nicht schlimm, verletzlich zu sein, weitaus gefährlicher sei es, einen Panzer um sich zu schlingen und nichts mehr zu fühlen. Aber brauchen wir den Panzer nicht, damit er uns beschützt, überlegte Robin. Und mein Panzer ist nun mal ein Panzer aus Eis, weil ich nicht will, dass es wehtut. Und vielleicht musste das so sein, weil er sich dadurch selbst bewahrte, wie man Lebensmittel ins Gefrierfach stopfte, damit sie nicht verdarben?

Diese Erkenntnis war es wert, sie einem anderen Menschen mitzuteilen, und da Big Chief davongelaufen war, blieb einzig Mum dafür übrig.

Mum saß am wackeligen Küchentisch und trank ihren Tee, den sie neben die Spüle gestellt hatte und der bestimmt längst kalt geworden war. Ihren haselnussbraunen Assam, ohne Milch und ohne Zucker. Als sie Robin sah, wischte sie sich eine Locke aus der Stirn.

„Hallo, Robin, Darling“, sagte sie, und Robin stellte erleichtert fest, dass ihre Augen nicht rot umrändert waren, auch wenn er sich ein wenig darüber wunderte.

„Mum“, sagte Robin, „stell dir vor: Endlich weiß ich, wie ich mich fühle! Ich bin wie ein Tiefkühlfach. Ganz vereist. Ich fühle nämlich gar nichts.“

Aber wieder erging es ihm wie damals, als Robin Mum die orange Farbe hatte schenken wollen: Sie hätte sich freuen sollen. Aber sie freute sich nicht.

„Ach, Robin“, seufzte sie stattdessen, „komm mal her und lass dich drücken.“ Mum streckte ihre Arme aus, als wollte sie Robin an sich ziehen. Aber zugleich zog etwas anderes Robin fort von ihr und er machte ein paar Schritte rückwärts. Da weinte Mum doch. „Du bist wie ein Igel, der seine Stacheln ausfährt“, schluchzte sie, „ich will dich umarmen. Und du haust ab!“

Es war nicht besonders spaßig, ein Igel und eine Tiefkühltruhe gleichzeitig zu sein, zumal wenn der eigene Vater gerade weggelaufen war und vermutlich nicht einmal dann wiederkehrte, wenn es zum Abendessen ausnahmsweise einmal Hähnchenschlegel geben sollte. Aber zu einer geradezu unerträglichen Zumutung wurde es, die eigene Mutter weinen zu sehen und zu wissen, dass man der Grund für ihre Tränen war. Robin ließ Mum am Küchentisch sitzen und ging zurück in sein Zimmer.

In seinem Zimmer setzte er sich auf sein Bett.

Auf der Kommode stand die Glaskugel mit dem Herrn Jesus. Der Schnee hatte sich gelegt und Robin erkannte den Herrn Jesus wieder völlig klar. Nur ein einziges winziges Flöckchen war nicht auf den Boden gefallen und hatte sich auf dem linken Auge niedergelassen. Es sah aus, als hätte auch Jesus einen Faustschlag abbekommen, weshalb er nun eine Augenbinde trug. Und trotzdem breitete er seine Arme aus, als wollte er die ganze Welt umarmen, auch Robin, und ihn zu sich einladen. Als Robin das sah, packte ihn der Kummer und schüttelte ihn hin und her, dass er weinte und weinte und weinte. Und als es vorbei war, tat es selbst danach noch weh.

Da wusste Robin, dass er dringend etwas brauchte, an das er sich festklammern konnte, weil er gerade dabei war umzufallen. Etwas Handfestes. Greifbares.

So etwas Greifbares war Siobhans Stein.

Robin hatte das steinerne Herz über all der Aufregung schlichtweg vergessen. Und dabei hatte er ihm einen Ehrenplatz versprochen!

Robin fasste in seine Hosentasche. Erst in die linke. Nichts. Dann in die rechte. Wieder nichts. Beide Hosentaschen klafften leer.

Das steinerne Herz war fort.