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„Das ist doch ziemlich viel“ – Warten in der dunklen Diele

Robin hatte Siobhans Geschenk verloren.

Wie das geschehen war, wo, wann und warum überhaupt – da Robin doch nach seinem Abschied von Siobhan ohne Umwege nach Hause gegangen war, sogar an der Königlichen Polizeiwache vorbei, weil es sich hierbei eindeutig um die kürzeste Strecke heimwärts handelte –, blieb vollkommen schleierhaft und war in keiner Weise nachzuvollziehen.

Aber sosehr Robin auch suchte und sooft er auch die Hosentaschen umkrempelte, unter seinem Bett nachsah – wobei er zuvor den Farbtopf beiseiteschob –, die Bücher auf der Kommode von links nach rechts rückte und wieder zurück: Siobhans Stein blieb verschwunden. Und sein Verlust wurde zu einer Tatsache, die sich nicht länger leugnen ließ. Wie es auch eine Tatsache blieb, dass es draußen wieder regnete und der große Reisekoffer nach wie vor nicht auf seinen Platz auf dem Kleiderschrank im Schlafzimmer zurückgekehrt war.

Und je mehr Nachmittage vergingen, an denen Robin von der Schule heimkam und er seine Mutter allein am wackeligen Küchentisch sitzen sah, desto mehr wurde es zu einer Tatsache, dass auch Big Chief fort war und fortblieb.

Robin hörte auf, darauf zu warten, dass sein Daddy jeden Augenblick zur Tür hereingepoltert käme. Aber dass er einmal anrufen würde, weil er mit Robin sprechen und seine Stimme hören wollte, das erwartete Robin schon.

Das Telefon stand in der Diele. Und Robin saß daneben. Anrufen ging doch ganz leicht und war vollkommen unaufwendig. Big Chief brauchte nicht vorbeizukommen. Er musste Mum nicht unter die Augen treten und niemanden sehen, nicht einmal Robin. Nur mit ihm sprechen, das sollte er, bitte sehr, schon. Aber das Telefon läutete nicht. Nicht heute. Und auch nicht am nächsten Tag. (Und wenn, dann war es nie Big Chief.)

Und irgendwann verwandelte sich die Diele in einen dunklen Schlauch, der Robin verschluckte. Als wäre der dunkle Schlauch eine gefräßige Riesenschlange, die alles verschlang, was ihr in die Quere kam. Als wäre Robin ein gefundenes Fressen.

Als Robin begriff, dass er dabei war, sich in ein wehr- und tatenloses Opfer zu verwandeln, überfiel ihn eine große Wut. Eine so große Wut hatte er zuletzt gespürt, ehe er die orange Abtönfarbe gekauft hatte.

Danach war die Wut verschwunden und einem großen Fragezeichen gewichen, und das Fragezeichen hatte sich in Robin ausgebreitet von den Zehenspitzen bis zum Scheitel. Aber jetzt war die Wut wieder da.

Die Wut fühlte sich gut an. Wie ein Motor, der Robin anfeuerte, machte sie ihm Beine. Sie erinnerte ihn daran, dass er immer noch etwas tun konnte, auch wenn ihm nicht danach zumute war. Denn Robin war zwar keine Hummel, die nicht wusste, was nicht ging und unbekümmert dennoch tat, was sie nicht können durfte, aber bewegen konnte er sich doch. Auch wenn er es notfalls im Rückwärtsgang versuchte.

Versuchen war das Stichwort.

Oder suchen. Was auch in versuchen steckte.

Wenn etwas verloren ging, konnte man es suchen, und dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um ein kleines Herz aus Stein handelte oder um einen großen Mann auf zwei Beinen. Was die Suche allerdings schon erschwerte, weil der große Mann auf seinen Beinen davonlaufen konnte.

Und davongelaufen war Big Chief. Ohne jeden Zweifel. Mum hatte ihm sogar seinen Turnschuh hinterhergeworfen.

Dennoch zweifelte Robin keinen Augenblick daran, wo er mit der Suche anfangen musste. Schließlich war das Ochsenauge Big Chiefs Lieblingsplatz und der Magnet, der ihn jeden Abend angezogen hatte.

Als Robin ins Ochsenauge kam, hockten die Männer am Tresen, als hätten sie sich keinen Augenblick seit Robins letztem Besuch aus der Kneipe fortbewegt. Aber Big Chief saß nicht unter ihnen; Robin erkannte es auf einen Blick.

„Dein Vater?“ In Seamus’ Augen blitzte blanke Hilflosigkeit; noch nie hatte Robin den Barkeeper so ratlos gesehen. Auch Teekanne rieb sich verlegen das Loch auf der Stirn. „Tut mir leid, mein Junge“, brummte er, „deinen Vater haben wir selbst seit Langem nicht mehr gesehen, nicht wahr, das haben wir doch nicht?“ Die anderen nickten bedauernd. „Nein, das haben wir nicht.“

Plötzlich sauste eine ölige Hand auf Robins Rücken. „Der kommt bestimmt bald wieder“, schnaufte Mister Corridan, „mach dir keine Sorgen!“

Aber Robin stand schon draußen vor der Tür.

Draußen regnete es und nicht zu knapp. Deswegen hingen am Himmel keine Sterne, die über Robin hätten funkeln können, und natürlich waren da auch keine Plejaden, die er suchen, aber nicht bedrängeln sollte. Kein Orion, kein Großer Wagen und auch kein Mond, nicht einmal ein halber. Und es gab nichts, das Robin anzog – nicht die Sterne, nicht das Erdmagnetfeld, nicht der geheime Ort, weil der geheime Ort ihm nicht länger allein gehörte (und deshalb auch nicht mehr geheim war) und auch, weil Robin sich schämte, sobald er an den Platz unter der Brücke dachte (deshalb dachte er lieber nicht daran).

Auch das war ein Gefühl, das er nicht fühlen wollte. Eine heiße Scham, als hätte er auf eine Herdplatte gelangt. Denn nachdem Siobhan ihm das steinerne Herz geschenkt hatte, hatte er sich mit Cathal versöhnen wollen und alles wäre gut geworden, weil Robin die Dinge, die so verworren waren, in Ordnung gebracht hätte. Aber dann war Big Chief davongelaufen und Robin hatte Siobhans Herz verloren, was nie hätte geschehen dürfen, und alles war noch durcheinanderer geraten als je zuvor.

Trotzdem beschloss Robin, nicht aufzugeben und weiterzusuchen, egal wo. Vielleicht stand Big Chief unter den Platanen am Marktplatz und versteckte sich dort vor dem Regen? Oder er kaufte sich bei Murphy’s ein Bier? Oder schlurfte er womöglich durch Straßen, die er sonst nie betrat, weil sie zu einem anderen Viertel gehörten, und die auch Robin nie betrat, es sei denn, Robin besuchte eine ehemalige Nonne, die er vermutlich lieber nicht besuchen sollte, weil auch das gegen sämtliche Regeln und Vorschriften verstieß?

Aber auch Regeln und Vorschriften, die seit Jahrhunderten galten, erwiesen sich mitunter nicht als die Schwimmwesten, die sie zu sein vorgaben. Sie halfen nicht. Und da es ohnehin kaum mehr etwas zu verlieren gab, weil Robin schon so viel verloren hatte, bog er kurzerhand in die Union Street ein.

Aus dem kleinen, von Efeu umrankten Fenster aus dem Haus mit der Nummer 32 fiel ein gelbes Viereck aus Licht auf die weißen Bordsteine. Schwester Basilea schien zu Hause zu sein.

„Wie schön, dass du mich besuchst“, rief sie, und sie wirkte nicht sonderlich überrascht, Robin plötzlich vor der Tür zu sehen. „Komm rein, Love, und wärm dich auf. Du siehst aus, als könntest du einen Schluck Tee gebrauchen!“

Wieder versank Robin in Schwester Basileas gepolsterten Sesseln. Ihr Wohnzimmer hätte glatt einer Puppenstube entspringen können. Überall stand etwas herum; am auffälligsten blieb aber doch das Feuer im Kamin. Stets loderte ein fröhliches Feuer darin. So auch jetzt. Schwester Basilea legte einen Scheit Torf nach. Die Flamme züngelte auf, als freute sie sich über den Nachschub.

„Du wirkst wahrlich mitgenommen!“, sagte Schwester Basilea, während sie Robin aus der dickbauchigen Teekanne Tee eingoss. Sie musterte ihn besorgt. „Geht es denn immer noch nicht besser?“

Schwester Basilea kippte Milch und Zucker in Robins Tasse. Die Milch kräuselte sich in dem haselnussbraunen Assam und färbte ihn hell. „Das ist es ja“, bekannte Robin, „nichts ist besser geworden. Obwohl ich es ändern wollte. Eigentlich ist alles schlimmer als zuvor.“

Robin trank einen Schluck. Der Tee war heiß und er verbrannte sich die Lippen.

„Autsch!“, sagte Schwester Basilea. „Tut mir leid. Ich hätte dich warnen sollen! Ich habe ihn eben erst aufgebrüht.“

Robin stellte die Tasse ab.

„Ich glaube nicht, dass es besser ist, wenn wir keinen Panzer haben“, sagte Robin. Er flüsterte es fast. „Ich glaube nicht, dass uns das schützt. Ich glaube, dass mein Dad recht hat: Wir sollten lieber zuschlagen, ehe uns ein anderer verdrischt.“

Robin biss sich auf die Lippen. Es kam ihm unverfroren vor, fast frech, all das Schwester Basilea zu sagen. Es ihr zu beichten. Immerhin war sie eine ehemalige Nonne und um einiges älter als er. Viel älter. Deshalb verstand sie auch weit mehr von diesen Dingen, von Gott und von Jesus, vom Opferbringen und Nicht-Opferbringen. Denn bestimmt hatte sie es tausendmal am Tag im Kloster gehört damals. Auch wenn Robin ihr nicht alles glaubte.

„Mmmh“, machte Schwester Basilea, „wenn wir uns prügeln, hört es nie auf. Damit zeigen wir nur, dass wir den Schmerz nicht fühlen wollen, besonders wenn wir eigentlich sehr traurig sind und eher weinen könnten.“

„Lieber wütend als traurig!“, sagte Robin.

„Auch für Tränen braucht es Mut“, sagte Schwester Basilea.

„Tränen ändern nichts“, sagte Robin.

„Sie ändern mehr, als du denkst. Aber natürlich bleibt es ein Wagnis. Du weißt nie, was der andere tut.“

„Dann geht es nicht“, sagte Robin nüchtern.

„Wenn wir zuschlagen“, versuchte es Schwester Basilea noch einmal, „tun wir es nur, um uns zu schützen. Und so geht es immer weiter. Verstehst du?“

„Mag sein“, murmelte Robin, „trotzdem muss man manchmal zuschlagen. Damit die anderen es begreifen. Es einsehen. Und das kann doch auch ein Opfer sein. Damit es aufhört.“

Schwester Basilea seufzte. Aber es klang anders, als wenn Mum seufzte. „Ich will dir mal was sagen“, sagte sie, „auch wenn ich keine besonders kluge Frau und schon gar keine Theologin bin, also jemand, der etwas über Gott zu sagen wüsste. Trotzdem habe ich meine Bibel und ich kann darin lesen. Und da gibt es eine Geschichte. Die finde ich ganz wunderbar.“

Schwester Basila stand auf und zog ein dickes Buch aus dem Regal. Es war die Bibel. „Als die Soldaten Jesus verhaftet haben, damals im Garten Gethsemane, wollte einer seiner Jünger das nicht zulassen. Das war Petrus. Er trug ein Schwert bei sich. Und mit dem wollte er Jesus verteidigen.“

„Ehrlich? Die Jünger besaßen Waffen?“ Robin hatte sich die Apostel immer als harmlose Männer mit wallenden Rauschebärten vorgestellt. Allen voran den heiligen Petrus. Ungeheuerlich, dass ausgerechnet der ein Schwert getragen und damit auch noch zugeschlagen haben sollte!

„Doch, doch“, sagte Schwester Basilea, „hier steht es ja!“ Und sie klopfte mit dem Zeigefinger auf das dicke Buch. „Ich glaube aber, die Jünger waren trotzdem keine besonders tollen Krieger. Jedenfalls hat Petrus, der immer schon ein Haudegen war, dem Soldaten lediglich das Ohr abgeschlagen.“

„Das Ohr?“ Jetzt war Robin mit einem Mal selbst ganz Ohr.

„Vielleicht wollte er etwas anderes treffen, jedenfalls ist es nur das Ohr geworden“, sagte Schwester Basilea. „Aber keine Angst: Jesus hat das Ohr gleich wieder geheilt. Und zu Petrus hat er gesagt: ‚Steck dein Schwert weg! Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen.‘ Denn wer zuschlägt, erreicht nur, dass andere die Botschaft von der Liebe, die Gott für alle Menschen hat, nicht mehr hören können. Wie damals der Soldat. Der auch nicht mehr hören konnte. Bis Jesus ihn geheilt hat.“

Sie schwieg. Und in der Stille, in der nur das Knistern der Flammen im Kamin zu hören war, knisterten auch Robins eigene Gedanken. Was sollte er von all dem halten? Und wer von den beiden hatte recht? Big Chief? Oder Schwester Basilea?

„Und so geschieht es überall, bis heute, wo Menschen einander wehtun, vor allem wenn sie es vermeintlich für Gott tun. Sie sagen: ‚Wir bringen ein Opfer! Damit es aufhört.‘ Aber das stimmt nicht. So graben sich die Wunden nur tiefer.“

„Mmmh“, machte Robin.

„Sieh mal“, sagte Schwester Basilea. „Jesus starb am Kreuz, damit wir der Liebe ins Gesicht sehen können, ohne uns zu verteidigen. Damit wir begreifen: Wir sind von Gott geliebte Menschen. Nicht mehr und nicht weniger.“

„Aber das ist doch ziemlich viel“, sagte Robin. Es rutschte ihm so raus und er wunderte sich selbst darüber.

„Das ist sogar ziemlich viel“, stimmte Schwester Basilea zu, „vielleicht ist es alles, was es braucht. Gleichwohl beginnt es immer bei uns selbst, bei dir und bei mir, wenn wir es zulassen und anfangen.“

Plötzlich schüttelte sie den Kopf. „Also wirklich!“, rief sie. „Da sitzen wir hier und führen schwerwiegende Unterhaltungen! Und darüber wird der schöne Tee ganz kalt!“

Schwester Basilea hob ihre Tasse. Sie prostete Robin zu. Robin prostete zurück. Sie schlürften den Tee, in dem Milch und Zucker schwammen. Der Tee schmeckte köstlich.

„Es geht doch nichts über einen guten Assam, findest du nicht auch?“ Schwester Basilea zwinkerte Robin zu. Aber dann stellte sie ihre Tasse ab. Die Petersilienblätter in ihrem Gesicht funkelten, als würde sie einen Streich aushecken. „Trotzdem glaube ich, wird es Zeit, dass du noch jemanden kennenlernst. Wenn du also magst, Robin, machen wir einen kleinen Ausflug. Kommst du mit?“