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„Darf ich vorstellen?“ – Großer Mann mit kleinem Kind

Es hatte zu regnen aufgehört. So gingen sie, ganz ohne nass zu werden, durch die Stadt. Bestimmt tranken die Leute gerade ihren Five o’Clock Tea, denn auf den Gehwegen und Straßen war kaum jemand unterwegs.

Vor der Polizeiwache ging dennoch einer auf und ab, fünfzig Schritte in die eine Richtung, fünfzig in die andere. Aber Schwester Basilea wechselte die Straßenseite nicht.

„Guten Abend, meine gnädige Dame!“, sagte der Polizist, der Hugh hieß und Rotkehlchen mochte. Mit einer kleinen Verbeugung zog er die Dienstmütze vom Kopf und grinste Robin an, als er sich wieder aufrichtete. „Und dir wünsche ich auch einen guten Abend, lieber Robin!“

„Guten Abend!“, sagte Schwester Basilea und die Petersilienblättchen in ihrem Gesicht kräuselten sich.

„Guten Abend“, flüsterte Robin, und er schaute auf seine Schuhspitzen, als gäbe es dort etwas Aufregendes zu beobachten.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte Hugh.

„Mir geht es ausgezeichnet, danke!“, antwortete Schwester Basilea. „Und wie geht es Ihnen?“

„Mir geht es ebenfalls sehr gut“, erwiderte der Polizist, „vielen Dank.“

Robin ließ die Schuhspitzen über den Asphalt kreisen.

„Ist es nicht ein schönes Wetter heute?“, fragte Schwester Basilea.

„In der Tat“, sagte Hugh, „ein wunderschöner Abend, vor allem, da es nun zu regnen aufgehört hat.“ Und sie blickten gemeinsam hinauf zum Himmel, als wollten sie Hughs Worte überprüfen. „Es ist weder zu kühl noch zu warm für einen Tag im Dezember.“

„Die Luft könnte kaum angenehmer sein“, stimmte Schwester Basilea zu.

So ging es eine Weile hin und her, weil es immer eine Weile hin und her ging, wenn sich in Nordirland zwei Menschen auf der Straße trafen und die Rede auf das Wetter kam. Und die Rede kam verlässlich und bald auf das Wetter. Denn überall in Nordirland plauderten die Leute gerne über das Wetter, weil das Wetter in Nordirland eine Angelegenheit von unerschöpflicher Vielfalt abgab und dabei dennoch dankenswerterweise vollkommen harmlos blieb. Auch die Iren in der Republik Irland machten das nicht anders. Und auch nicht die Engländer in England.

Schließlich sagte Schwester Basilea: „Robin hat mich auf eine Idee gebracht. Darum besuchen wir gerade jemanden.“

„Da will ich Sie nicht länger aufhalten“, sagte Hugh, „ich wünsche einen schönen Abend und eine angenehme Unterhaltung!“

„Die werden wir gewiss haben, vielen Dank“, sagte Schwester Basilea.

„Auf Wiedersehen!“, sagte Hugh.

„Auf Wiedersehen!“, sagte Schwester Basilea.

„Auf Wiedersehen“, murmelte Robin.

„Gott schütze Sie!“, sagte Hugh. „Und dich, Robin, schütze er auch!“

„Ist das nicht ein toller Mann?“, seufzte Schwester Basilea, nachdem sie ein paar Schritte weitergangen waren.

Robin drehte sich verstohlen um. Hoffentlich hatte Hugh nichts von ihren Worten mitbekommen! Doch der Polizist hatte seinen Wachgang wieder fortgesetzt und stand bereits am anderen Ende der Mauer.

Robin verstand das alles nicht. „Aber …“, fing er an. Dann verstummte er, denn er wusste nicht, was er sagen sollte und erst recht nicht, wie.

„Was wolltest du fragen?“, hakte Schwester Basilea nach.

„Das war doch“, versuchte es Robin erneut, „ich meine, Hugh ist ein Polizist, nicht wahr?“

Schwester Basilea nickte.

„Und mit Polizisten spricht man nicht!“

Jetzt wird sie mit mir schimpfen, dachte Robin. Sich umdrehen und weggehen. Wie Big Chief.

Stattdessen lächelte Schwester Basilea, als würde sie sich freuen. „Wie recht du hast!“, schmunzelte sie. „Hugh ist ein Polizist, und mit Polizisten spricht man nicht. Aber ich spreche mit ihnen. Ich bin schließlich auch nicht man. Und du bist auch nicht man. Du bist du. Robin. Stell dir bloß mal vor, wir würden alle nur das machen, was man macht! Da könnten wir uns genauso gut mit den Verkehrsschildern unterhalten.“

Und sie stellte sich vor ein Vorfahrt-gewähren-Schild und streckte die Hand aus: „Guten Abend, liebes Vorfahrt-gewähren-Schild! Wie geht es dir? Es geht dir gut? Wie schön! Oh, danke, mir geht es auch gut.“ Sie lachte und ging weiter. „Aber darüber haben wir uns schon einmal unterhalten. Erinnerst du dich?“

Natürlich erinnerte sich Robin, er erinnerte sich sogar sehr gut daran. Trotzdem hätte er Schwester Basilea jetzt gerne etwas geantwortet, das sie auch einmal sprachlos machte. Aber ihm fiel nichts ein.

Big Chief hatte immer behauptet, er könne mit Mum nicht reden. Nicht mit ihr diskutieren, hatte er gesagt, weil sie dickköpfig und eigenwillig sei. Mit Schwester Basilea erging es Robin jetzt ähnlich. Wenn Robin etwas sagte, gab sie ihm eine Antwort, die die Gedanken in seinem Kopf zerplatzen ließ wie Seifenblasen, die gegen einen Laternenpfahl knallten. Und dabei hatte er seine Gedanken für groß und wichtig gehalten!

Lag das daran, dass Schwester Basilea genauso stur war wie Die Eiserne Lady und drahtig – oho! – wie ein alter General?

Da fiel es Robin ein: „Ad maiorem dei gloria“ stand es in steifen Buchstaben über dem Eingang zu seiner Schule geschrieben und er hatte immer geglaubt, die Rede sei von Gott. Und Gott wäre ein Major, eine Art gefühlskalter Oberbefehlshaber, der nichts weiter tat, als knurrend seine Befehle auszuteilen. Aber Schwester Basilea war kein General. Sie erteilte keine Befehle und ihre Antworten waren keine Prügel. Sie war eine ehemalige Nonne, die sich mit Robin unterhielt, auch wenn Robin nicht immer gefiel, was sie sagte. Wenn nun aber Schwester Basilea gar kein General war, vielleicht war dann auch Gott kein Oberbefehlshaber? Wie konnte er das überhaupt sein, da er doch seinen eigenen Sohn am Kreuz hatte sterben lassen für all die vielen starrköpfigen und verzweifelten und merkwürdigen Menschen, aus lauter Liebe?

„Bitte sehr, nach dir“, sagte Schwester Basilea.

Vor ihnen erhob sich das mächtige Portal von Sankt Patrick’s. Schwester Basilea stieß das schwere Holztor auf und ließ Robin eintreten. Und wieder staunte Robin. Denn immer noch – oder schon wieder – knieten in den Kirchenbänken die Frauen, als hätten sie Wurzeln geschlagen, wo sie das Unglück hingespült hatte. Mitten hinein in die Kirche. Und unter die mächtigen Arme Gottes, wie es Vater Faughan sagen würde.

„Sie beten andauernd“, flüsterte Robin, als sie langsam durch die Reihen gingen. „Gestern, heute – und morgen bestimmt auch. Es scheint nicht zu wirken, weil sie immer wiederkommen müssen.“

„Sie beten auch für den Frieden“, flüsterte Schwester Basilea zurück, „und der Frieden kommt nun mal nicht schnell, das weißt du ja. Trotzdem sehnen sich alle danach, dass einer aufhört und dass der Frieden beginnt. Denn überall, wo Krieg herrscht, wird es keine Gewinner geben. Wir sind alle Verlierer, weil wir alle etwas, das wir lieben, verloren haben.“

Schwester Basilea schob Robin aus den Reihen der betenden Frauen fort in einen der Seitengänge. „Und vergiss nicht“, fuhr sie fort, „der Frieden kommt niemals durch Gewalt! Natürlich geht es leichter, den Waffen zu vertrauen, weil sie hübsch laut rasseln. Gebet dagegen summt leise – und du siehst es nicht! Es gleicht eher einem Samen, den ein Bauer auf sein Feld streut. Niemand kann nachsehen, wie es wächst. Aber eines Tages schaut ein Halm aus der Erde. Und aus dem Getreide wird Brot. Und das Brot macht viele Menschen satt. Die meisten wollen lieber etwas tun, das wichtiger klingt als Beten. Reden schwingen zum Beispiel. Oder eben Waffen. Und doch sind es oft die leisen Töne, die etwas ändern. Selig sind die Sanftmütigen, hat Jesus gesagt. Aber schau: Da ist er!“

Vor ihnen in einer der vielen Nischen stand die holzgeschnitzte Figur eines großen Mannes. Groß war freilich gar kein Ausdruck. Der Mann ragte so hoch über ihnen auf, dass Robin den Kopf in den Nacken legen musste, wenn er ihn ansehen wollte. Und auf seinen Armen trug der große Mann ein kleines Kind. Das Jesuskind.

„Darf ich vorstellen?“, fragte Schwester Basilea. „Robin, das ist der heilige Christophorus. Heiliger Christophorus, das ist Robin.“

„Äh, guten Tag“, sagte Robin.

„Er war ein überaus starker Mann“, erklärte Schwester Basilea, „aber das Kind hat er beinahe nicht tragen können!“

Das erschien Robin ganz unmöglich. „Wie das?“, fragte er. „Der sieht doch aus wie ein Sumoringer. Wie sollte er da ein so kleines Kind nicht tragen können?“

„Du hast schon wieder recht, Robin“, sagte Schwester Basilea. „Der heilige Christophorus war sogar der stärkste Mann der Welt. Deshalb wollte er auch nur dem stärksten Herrn der Welt dienen. Und als jemand zu ihm sagte, er würde den stärksten Herrn der Welt nur finden, wenn er die Menschen über den Fluss tragen würde, hat er das getan. Jahrelang. Bis das Kind zu ihm kam. Das Kind hat ihn gefunden. Und das Kind war so schwer, dass der große, starke Mann fast unterging, als er es über den Fluss trug. Denn mit dem Kind trug er die ganze Last der Welt.“

Sie schwieg ein langes bedeutungsvolles Schweigen, in dem Robin ihrer beider Atem rauschen hörte.

„Auf diese Weise hat er den Menschen gedient. Und Gott. Und das ist auch ein Opfer, aber eins, bei dem er Gott am Ende gefunden hat. Und deshalb ist mir der heilige Christophorus auch um einiges lieber als der heilige Sebastian mit all seinen Pfeilen. Auch wenn der heilige Sebastian sicherlich ein wohlverdienter Heiliger ist.“

Robin hörte Schwester Basilea reden und er wunderte sich. Durfte man so über einen Heiligen reden? Aber dann war Schwester Basilea nun mal nicht man und was man machte, bedeutete nicht, dass es richtig war. Das hatte sie ihm erklärt. „Es beginnt immer bei dir selbst“, hatte sie außerdem gesagt. Und vielleicht begann es damit, dem einen Heiligen vor dem anderen den Vorzug zu geben, auch wenn man das nicht so machte?

„Trägt er sie denn immer noch?“, fragte Robin. „Ich meine, die ganze Last der Welt?“

Schwester Basilea nahm eine von den Kerzen, die vor dem Heiligen auf einem Stahlgestell standen, und zündete sie an. „Das Verrückte ist: Der große, starke Mann glaubte, er würde Jesus tragen, aber in Wirklichkeit trug das Kind ihn.“

Das war nun freilich etwas, das die Erwachsenen, allen voran Vater Duncan, gewiss einen Widerspruch in sich nennen würden. Nichts passte: Wie konnte der Heilige einen anderen tragen und dabei selbst getragen werden?

Aber dann, überlegte Robin weiter, war es mit dem eigenen Herzen nicht ähnlich? Robin trug es mit sich herum und konnte es doch nur tragen, weil es in ihm schlug und ihn dadurch am Leben hielt?

Schwester Basilea stellte die Kerze vor die Füße des heiligen Christophorus. Der schmale Lichtschein flackerte und warf seine Schatten über die Zehenspitzen des großen Mannes. Und das Jesuskind in seinen Armen lächelte dazu.

„Ich sollte meine Mutter herbringen“, murmelte Robin, „ihr den großen Mann und das kleine Kind zeigen.“ Denn Mum wollte die ganze Last der Welt nicht länger tragen, und die ganze Last der Welt bedeutete vor allen Dingen Big Chief, weil sie Big Chief nicht länger ertragen konnte.

Und das brauchte sie auch nicht.

Robin hatte es ihr schon einmal sagen wollen. Aber dann hatten sich die Dinge verwirrt wie ein Wollknäuel, das ins Rollen geriet, bis der Faden schließlich ganz und gar verknotet war. Jetzt aber kam es Robin so vor, als hätte er ein Ende vom Faden erwischt und könnte ihn, wenn er geduldig und behutsam vorginge, allmählich doch entdröseln. Langsam, aber immerhin.

„Erinnerst du dich, wie du Jesus in der Glaskugel zu mir gebracht hast?“, fragte Schwester Basilea und sie legte einen Arm um Robins Schultern, als wollte sie ihn wärmen. „Du dachtest, du würdest ihn mit dir herumschleppen. Ihn tragen. Und dann wurde dir alles zu schwer. Aber ich bin mir sicher, in Wirklichkeit hat Jesus dich getragen. Und er trägt dich nach wie vor. Auch heute.“

Robin hörte Schwester Basilea zu. Und dann nickte er. Er nickte sehr langsam. Denn während er nickte, setzten sich die vielen wuselnden Gedanken in seinem Kopf wie lose Puzzlesteine zu einem Bild zusammen, und er wusste mit einem Mal, was er tun würde. Was dran war. Weil derjenige, der mit dem Aufhören anfing, nicht damit zu warten brauchte.

„Ich werde jetzt nach Hause gehen und meinem besten Freund einen Brief schreiben!“, erklärte Robin. „Damit es aufhört. Und etwas anderes anfangen kann. Aber ohne Sie hätte ich es nicht verstanden. Vielen Dank!“

Schwester Basilea strahlte Robin an und Robin strahlte zurück.

Dann nahm Robin ebenfalls eine Kerze und stellte sie dem heiligen Christophorus vor die Zehenspitzen. Denn auch der heilige Christophorus hatte Robin geholfen, etwas zu verstehen, was er bislang nicht verstanden hatte. Und die Schatten zappelten über die Füße des großen Mannes, als tanzten sie Ballett.