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„Es tut mir leid“ – Auf der Suche nach den eigenen Worten

Als Robin nach Hause kam, blickte ihm der Glaskugeljesus schon erwartungsvoll entgegen. Robin zwinkerte ihm zu, der Herr Jesus zwinkerte zurück. Beide stimmten sie vollkommen darin überein, dass Robin nun tat, was er nun tat.

Auf der Kommode neben dem Herrn Jesus lag Das Buch der hundert Merkwürdigkeiten. Robin schlug es auf der letzten Seite auf. Dort stand: „Hier kommt die letzte Merkwürdigkeit in dieser Sammlung: Die letzte Merkwürdigkeit ist eigentlich keine Merkwürdigkeit – sie erscheint nur so.“ Dann folgte die Beschreibung der Hummel, die vorwärts und rückwärts und zu den Spitzen des Himalaya fliegen konnte, obwohl sie das nach den Gesetzen der Aerodynamik nicht durfte.

Danach war die Seite leer und es bleib noch genügend Platz, um etwas anderes darunterzuschreiben, einen Brief an Cathal zum Beispiel, um ihm zu sagen, dass es Robin leidtat. Einen Brief, der nichts weiter versuchte, als den Frieden herzustellen, weil einer anfing, ehrlich zu sein.

Das war freilich leichter vorgenommen als getan; auch die vielen klugen Worte, die Schwester Basilea Robin zugeflüstert hatte, halfen wenig, weil Robin seine eigenen Worte finden musste.

Robin sah aus dem Fenster. Der Baum, der keinen Namen hatte und auf dem die Vögel dennoch unverdrossen ihre Lieder sangen, klopfte an die Scheibe. Der winterkahle Baum sah zerbrechlich und stark zugleich aus. Auch ohne Namen und ohne Blätter stand er dort draußen in der Kälte und bot anderen ein Zuhause. Darum geht es eben doch, dachte Robin: Die Worte würden kommen, sobald er es versuchte. Wenn er anfing. Am besten jetzt.

Robin kramte den Füller aus dem Federmäppchen. Er riss die letzte Seite aus dem Buch. Er schrieb:

Lieber Cathal!

Du hast recht: Ich bin voll merkwürdig. Und es stimmt auch, dass ich mit den Gedanken oft woanders war in letzter Zeit (ich bin es immer noch). Es ist alles nicht so einfach. Meine Eltern haben sich gestritten. Aber nicht, wie sie es immer tun und wie du es auch von deinen Eltern kennst. Nach dem Streit ist mein Dad weggegangen. Seitdem hat er sich nicht mehr bei uns gemeldet. Ich habe keine Ahnung, wo er steckt, und ich glaube, dass er mich vergessen hat.

Es stimmt auch, was du wahrscheinlich schon vermutet hast: Ich habe ein Mädchen kennengelernt. Sie hat rote Haare, aber nicht so rote wie die von meiner Mum, sondern eher rot wie Rost. Rostrot eben.

Ich kann das alles nicht besonders gut ausdrücken. Was ich eigentlich sagen will, ist: Es tut mir leid!

Es tut mir leid, dass ich dir aus dem Weg gegangen bin. Und ich bin auch vor dir weggelaufen. Nicht wie Dad mit den Füßen, aber innen drinnen irgendwie schon. Wie Murphy seinen Rollladen runterlässt, wenn er nichts mehr verkaufen will. Jedenfalls kommt es mir so vor.

Das möchte ich dir außerdem sagen: Ich glaube nicht, dass wir einander wirklich mögen, wenn wir nur tun, was man tut. Dann passen wir uns an und das ist etwas völlig anderes, als dazuzugehören. Das klingt bestimmt sehr verworren. Merkwürdig eben. Genau wie ich!

Meinst du, wir können trotzdem wieder Freunde sein? Ich meine, echte Freunde, solche, die sich nicht beweisen müssen, wie toll sie sind. Weil sie einander mögen und schon dazugehören, einfach so. Weil jeder Mensch dazugehört. Immer schon und einfach, weil er ein Mensch ist.

Vielleicht siehst du das genauso? Das wäre schön! Aber vielleicht siehst du es auch anders und wir könnten zumindest darüber reden? Auch das fände ich schön. Weil ich sooo gerne wieder mit dir sprechen will!

Bis hoffentlich bald!

Dein merkwürdiger Freund Robin

Robin faltete das Papier zusammen und schob es in einen Briefumschlag. Dann stopfte er den Glaskugeljesus in die Hosentasche und ging mit dem Brief in der Hand zu Cathals Haus.

Über Cathals Haus türmten sich die Sterne, als hielten sie dort eine geheime Versammlung ab. Robin legte den Kopf in den Nacken und sah nach den Plejaden. Aber er fand sie nicht. Obwohl er suchte und nicht drängelte.

Robin tastete nach dem Glaskugeljesus. Der Glaskugeljesus steckte in der Hosentasche und stand ihm, mit ausgebreiteten Armen, bei.

Da klopfte Robin gegen die Tür.

Wenig später schwang sie einen Spaltbreit auf und ein schmales Mädchengesicht schielte durch den Schlitz. Eine von Cathals Zwillingsschwestern, schwer zu sagen, ob Deirdre oder Sínead, starrte Robin mit weit geöffneten Augen an.

„Was machst denn du hier?“, rief sie erstaunt, als wäre Robin ein Marsmensch, der zum Nachmittagstee anklopfte. „Wir dachten schon, du bist ausgewandert oder bei der IRA und wir sehen dich nie wieder!“

„Bitte“, sagte Robin. Er hielt Deirdre oder Sínead den Brief hin, der eigentlich nur aus einem Stück gefaltetem Papier aus Das Buch der hundert Merkwürdigkeiten und ein paar krakeligen Zeilen von Robin bestand. Mit Tintenklecksen, weil sein Füller immer kleckste. „Kannst du das deinem Bruder geben?“

„Welchem Bruder?“

Bisweilen konnten sich Cathals Zwillingsschwestern, egal ob Deirdre oder Sínead, in richtige kleine Biester verwandeln. Als die Jüngsten in einer langen Geschwisterkette freuten sie sich stets, wenn sie etwas zu fassen bekamen, was auch andere haben wollten. So wie jetzt. Und das ließen sie erst wieder los, wenn man ihnen bestätigt hatte, wie wunderbar und toll sie waren.

„Du weißt schon, wem“, knurrte Robin, „gib’s ihm einfach, okay?“

Deirdre oder Sínead grinste. Aber immerhin nahm sie den Brief.

„Was willst du denn von Cathal?“

„Das geht dich nichts an!“

Robin versuchte, hinter Síneads oder Deirdres Rücken in die Diele zu spähen. „Ist er da?“

„Nein“, sagte Sínead. Oder Deirdre.

Sie starrten sich eine Weile durch den Türspalt an. Robin spürte, dass er ihr etwas geben musste, damit auch sie ihm etwas gab.

„Danke“, sagte er, „es ist sehr nett von dir, dass du den Brief für mich abgibst.“

Er war schon fast wieder auf der Straße, als hinter ihm die Tür aufgerissen wurde.

„Der trifft sich mit einem Mädchen, falls du es genau wissen willst!“, rief ihm Cathals Schwester nach. „Aber das ist geheim. Streng geheim sogar. Aber wir wissen es trotzdem. Weil wir viel klüger sind, als Cathal immer denkt. Sie treffen sich unten am Fluss, aber wo genau, weiß ich nicht. Du wirst ihn wohl suchen müssen, wenn du ihn finden willst!“