Kapitel 4

Cooper
»Prinzessin, wo bleibst du?«, murre ich und laufe bereits Furchen in den Boden vor unserem Zimmer. Herumzustehen und in die Luft zu starren wird nämlich nach einer halben Stunde echt langweilig.
Ich schaue auf meine Uhr. Der Zeiger hat sich gerade mal eine Minute weiterbewegt.
Das Zufallen einer Tür lässt mich aufsehen.
Ava! Endlich. Essen. Jetzt.
Der Hunger ist schuld daran, dass ich nicht mehr in ganzen Sätzen denken kann.
In einem weißen Kleid, das endlich mal junge Frau und nicht Vorstandssekretärin schreit, bleibt sie vor mir stehen. Sie sieht hübsch aus. Und irgendwie … natürlicher. Mein Blick schweift über ihren Körper, wandert weiter nach unten und … was zur Hölle? Wieso ist sie barfuß?
Es kostet mich große Mühe nicht einfach loszulachen. »Gab es keine passenden Schuhe?«
»Doch, aber nicht in dem Koffer, den du mir gebracht hast«, gibt sie schnippisch zurück.
»Es tut mir leid, dass ich nicht erraten konnte, in welchem Eurer vielen Koffer die richtigen Dinge sind, Eure Majestät.« Ich mache eine übertriebene Verbeugung und als ich mich wieder aufrichte, sage ich zu ihr: »Vielleicht solltest du demnächst einfach selbst deinen Koffer schleppen und nicht darauf warten, dass ich es übernehme. Dann hast du auch alles dabei, was du brauchst.« Ich drehe mich um und gehe davon. »Zicke.«
Hinter mir höre ich ein »Depp«, was mich schon wieder zum Grinsen bringt. Irgendwie kann ich nicht aufhören sie zu triezen. Sie macht es einem aber auch zu leicht. Vor allem, weil ich Ava so weit treiben will, bis sie endlich richtige Schimpfwörter in den Mund nimmt.
Trotzdem halte ich ihr die Tür zum Außenareal des Hotels auf.
Das Bluestone Motor Inn verfügt nicht nur über die üblichen Zimmer im Hauptgebäude, sondern auch über zahlreiche kleine Bungalows für Mehrfamilien. Im Anschluss an diese Wohneinheiten befindet sich auch das Restaurant, das leicht über einen asphaltierten Weg, der durch den hoteleigenen Garten führt, zu erreichen ist. Avas beleidigtes Gemurmel sagt mir, dass sie mir folgt, deshalb drehe ich mich auch nicht zu ihr um.
Doch Ava wäre nicht Ava, wenn nicht irgendwo der Schuh drücken würde.
»Au«, jammert sie und ich drehe mich um. Teils aus Neugier, aber auch ein wenig aus Sorge.
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Was ist?«
»Der Boden ist so heiß.«
Der Boden ist so heiß? Ernsthaft? Was erwartet sie, wenn sie ohne Schuhe über den aufgewärmten Asphalt läuft? »Warum hast du nicht deine High Heels angezogen?«
Ava verdreht die Augen und starrt mich danach an, als würde ich vom Mars kommen.
Ich schüttele nur den Kopf. »Es ist nicht weit bis zum Restaurant. Schaffst du das oder soll ich dich tragen?«
»Mich tragen?« Sie klingt schockiert. Jegliche Farbe weicht aus ihrem Gesicht. Keine Ahnung, womit ich diese Reaktion hervorgerufen habe, aber offensichtlich ist Anfassen verboten. Tja, dann eben nicht.
»N-n-nein. Ich denke, das geht schon. Wenn es wirklich nicht mehr weit ist …« Sie lässt den Satz in der Luft hängen.
»Im Notfall kann ich ja immer noch einen Sänftenträger engagieren.«
»Haha.« Was soll ich sagen? Ich bin eben ein witziger Kerl.
Ich wende mich wieder zum Gehen um und Ava schließt zu mir auf.
Von Weitem kann man bereits die große Terrasse des Restaurants sehen, auf der sich mehrere Tische und Stühle befinden. Bevor ich dazu komme, Ava zu fragen, ob sie lieber drinnen oder draußen sitzen möchte, fährt sie mich an: »Hältst du mich wirklich für so dumm, dass du denkst, ich hätte das Restaurant nicht allein gefunden? Man muss nur durch die Tür und gerade durch den Garten. Eine Beschreibung hätte es getan, Cooper.« Sie spricht meinen Namen so vorwurfsvoll aus, dass ich tatsächlich Schuldgefühle bekomme. Okay … das war gelogen.
»Willst du darauf eine Antwort?«
Frustriert schreit Ava auf und rauscht an mir vorbei. Auf der Terrasse lässt sie sich auf einen der braunen Rattanstühle fallen. Von den Nebentischen erntet sie ein paar fragende Blicke.
Während ich mich auf sie zubewege, nicke ich einigen Gästen freundlich zu. Vermutlich fragen sie sich gerade, womit Ava so jemanden wie mich verdient hat.
Gut aussehend.
Charmant.
Eloquent.
Ich nehme am gleichen Tisch wie Ava Platz. Ihr direkt gegenüber.
Hilfe suchend wende ich mich der Kellnerin zu und sie interpretiert meine interessierten Blicke richtig und kommt mit Speisekarten auf uns zu.
Zuerst reicht sie Ava die Karte, anschließend drückt sie mir ebenfalls eine in die Hand und berührt mich ganz zufällig dabei. Okay, vielleicht hat sie mein gieriges Starren doch falsch aufgefasst. Ich will verdammt noch mal was zu Essen. Nicht die Bedienung aufreißen.
Ich lächele sie an, versuche dabei aber so unverbindlich wie möglich zu bleiben, denn ich teile mir schließlich das Zimmer mit Ava. Da ist Frauenbesuch wohl nicht wirklich angebracht. Außer ich könnte sie vielleicht kurz in ihrer Pause …
Ich schüttele den Kopf, um den Gedanken wieder loszuwerden.
Freundlich nimmt sie unsere Getränkewünsche auf und geht wieder. »Das war ja klar«, zischt Ava.
Fragend ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe. »Möchtest du deine Gedanken mit mir teilen?«
»Du bist mit mir hier. Wieso flirtest du mit der Bedienung?«
Ich breche in schallendes Gelächter aus. »Wir sind nicht auf einem Date.« Und flirten wäre ja wohl kein Verbrechen. Weil wir nicht zusammen sind und ich außerdem in der verdammten Wüste lebe, also auch gar nicht so oft die Chance dazu habe.
»Ja, aber …«, beginnt sie, doch ich lasse sie gar nicht zu Wort kommen.
»Wie du immer so schön betonst: Wir sind Stiefgeschwister und ich kann flirten, mit wem ich will.« Ava ist wirklich eine verwöhnte Prinzessin. Kaum bringt man ihr fünf Minuten keine Aufmerksamkeit entgegen, tickt sie völlig aus. Sie hat quasi Dramaqueen auf die Stirn tätowiert. Provozierend füge ich hinzu: »Oder bist du eifersüchtig?«
Nun schnappt sie aufgebracht nach Luft. »Du … du …«
»Selbstverliebtes Arschloch«, komme ich ihr zu Hilfe.
Sie nickt. »Ja, das fasst es schon ganz gut zusammen.«
Natürlich könnte ich jetzt wieder was sagen, was sie provoziert, dann würde sie ebenfalls austeilen, aber ich habe gerade keine Lust auf Streit. Ich habe Hunger.
Also lenke ich das Thema in eine andere Richtung. »Weißt du schon, was du essen willst?«, frage ich daher so höflich wie möglich.
»Ja, ich nehme den Vegetarian Pie .« Klingt eigentlich ganz gut.
»Schade, dass sie keine Pizza haben«, fügt Ava noch schmunzelnd hinzu.
»Ja, verdammt. Darauf hätte ich jetzt auch Lust. Wenn du möchtest, holen wir uns morgen in Alice eine. Aber ich dachte, dass du Wert auf gesunde Ernährung legst?«
Ava nickt. »Wer sich immer gesund ernährt, darf auch mal sündigen und Pizza essen.«
»Gut, denn zufälligerweise kenne ich die beste Pizzeria im Ort.« Davon gibt es ein paar. Obwohl ich Ava gegenüber gerne so tue, als würde sie an den Rand der Welt ziehen, bietet Alice eigentlich alles, was man so braucht. Ich würde Alice Springs jetzt nicht als Weltmetropole bezeichnen, aber mit den geschätzt fünfundzwanzigtausend Einwohnern ist es zumindest eine Stadt, die allerlei bietet, wenn man genau hinsieht. Mein bester Freund Steve und ich verbringen nahezu jedes zweite Wochenende in der Stadt, denn dort gibt es Bars, Restaurant und ein spannendes Nachtleben.
Ava lächelt mich an. »Und was wirst du heute essen?«
Am liebsten ein ganzes Rind. »Ich würde mich für ein Steak entscheiden, wenn es dich nicht stört.«
Verwirrt sieht Ava mich an. »Wieso sollte es mich stören?«
»Ich wollte nur sichergehen.«
Nun klappt ihr tatsächlich der Mund auf. »Das ist nett, aber nicht nötig«, sagt sie überrumpelt. »Es ist ja nicht so, dass ich aus ethischen Gründen Vorbehalte habe.«
Ich sehe mich nach der Kellnerin um, die nicht lange auf sich warten lässt und unsere Getränke serviert. Ava hat nur ein Wasser bestellt, ich Eistee. Wir geben die Bestellung auf und dann lehnt Ava sich zurück.
»Ihr verdient euer Geld damit, Rinder aufzuziehen und dann zu schlachten, oder?«
Ich schüttle den Kopf. »Wir schlachten sie nicht selbst, aber wir verkaufen sie genau zu diesem Zweck.«
»Kommt man damit gut über die Runden?«
Dieses Mädel hat absolut keine Ahnung, aber sie wird sich schon selbst ein Bild von allem machen. Deshalb nicke ich nur. »Wir haben unser Auskommen. Mach dir da keine Sorgen.«
»Mein Dad hat euch ja als Entschädigung bestimmt auch ein wenig Geld geschickt«, sagt Ava gedankenverloren.
Hat er nicht. Und wir hätten es auch nicht angenommen. »Das war nicht notwendig. Warum tust eigentlich alles, was er sagt?«
Sie zuckt nur mit den Schultern. »Ich nehme an, ich hatte einfach keine andere Wahl.«
»Ava, man hat immer eine Wahl.« Daraufhin sagt sie erst mal nichts, doch ich sehe, dass sie über meine Worte sorgfältig nachdenkt.
Während ich meine Serviette in Einzelteile zerlege und mich immer wieder nach meinem Steak umsehe, bleibt Ava stumm. Nach einer Weile bricht sie die Stille zwischen uns und fragt: »Kommst du gut mit meiner Mutter aus?«
Keine Ahnung, wie sie in ihren Gedanken diesen Punkt erreicht hat, antworten werde ich ihr trotzdem: »Ja, Renée ist das Beste, was meinem Vater und mir passieren konnte. Ich habe noch keine andere Frau getroffen, die das Leben im Outback genauso liebt wie wir.« Ich lächle Ava an. »Renée ist für mich so etwas wie ein verspätetes Geschenk. Meine halbe Kindheit und meine Jugend habe ich mit meinem Vater und den Jungs allein dort draußen verbracht, aber jetzt sind wir so etwas wie eine Familie. Renée hat geschafft, dass aus einem Haufen Kerle ein eingeschworenes Team wird.«
Als ich Avas Blick auffange, wird mir klar: Was mein – oder unser – Glück war, ist ihr Pech gewesen. Sie musste ihre Mutter hergeben und blieb allein bei ihrem Vater zurück. »Es tut mir leid, Ava«, entschuldige ich mich sofort. »Ich habe nicht nachgedacht.«
»Nicht schlimm«, sagt sie schnell. Zu schnell. Und auch in ihren Augen zeichnet sich Schmerz ab. Vielleicht, aber nur vielleicht, hatte Ava doch nicht immer alles gehabt.
Weil ich das Gefühl habe, irgendetwas sagen zu müssen, rede ich darauf los: »Renée freut sich wirklich. Seit Jahren höre ich ständig Geschichten über dich. Sie erzählt eigentlich nur von dir.«
»Na hoffentlich nur Gutes«, kommt es mit einem leichten Schmunzeln über Avas Lippen.
Ich grinse sie an, denn ich will ja nicht lügen. Natürlich erzählt Renée von Avas Eskapaden, aber sie unterhält uns auch mit Geschichten aus ihrer Kindheit. Und ich schaffe es nicht, die Ava, die mir nun gegenübersitzt, mit der Ava aus Renées Erzählungen in Einklang zu bringen.
Bevor ich mir weiter Gedanken machen kann, kommt unser Essen und Avas Augen leuchten bei dem Anblick auf.
»Ich bin halb am Verhungern.« Sie greift nach der Gabel und es wundert mich, dass sie der Bedienung nicht das Besteck in die Hand rammt, weil sie es nicht mehr erwarten kann.
Als der Teller vor ihr steht, bedankt sie sich kurz und nimmt sofort einen Bissen. Dann leckt sie mit ihrer Zungenspitze einen Krümel von den Lippen ab und ich muss unwillkürlich schlucken. »Das ist so lecker.«
»Genieß es.« Ich sehe ihr erstaunt zu, wie sie ohne Zögern den nächsten Happen auf ihre Gabel schiebt. Appetit hat sie, obwohl sie aussieht, als würde sie sich nur von Wasser und Brot ernähren.
Ich nehme Gabel und Messer in die Hand und schneide mir ein Stück von meinem Steak ab. Während ich es mir in den Mund schiebe, schleicht sich immer wieder ein Gedanke in meinen Kopf: Sie sieht beim Essen verdammt sexy aus. Mir war gar nicht klar, dass das möglich ist. Beim nächsten Bissen, den sie in ihren Mund schiebt, schließt sie auch noch genüsslich die Augen.
Schnell wende ich mich meinem eigenen Essen zu. Es geht doch nichts über ein ordentliches Stück Fleisch. Gemeinsam mit dem Mais und den grünen Bohnen explodiert der Geschmack geradezu auf meiner Zunge.
»Ava?«
»Hmm?«
»Stört es dich, wenn wir morgen gleich nach dem Frühstück aufbrechen? Dann sind wir am Nachmittag in Alice und können noch einkaufen.«
Ava hebt ihre Hände. »Kein Problem. Aber mal ernsthaft, wie weitläufig ist das Land eigentlich? Man fährt stundenlang über staubige Straßen und ist immer noch nicht da.«
Ich zucke nur mit den Schultern. »Willkommen in Australien.«
Das bringt Ava zum Auflachen. »Ich merke schon, hier ist alles ein wenig anders als zu Hause.«
»Wie denn?«
Sie zögert kurz. Dann sagt sie: »Schwer zu erklären. Es ist einfach weniger hektisch. Man fährt durch diese endlosen Weiten und alles, was wichtig war, rückt in den Hintergrund. Wird ruhiger. Unwichtig.«
»Das klingt ja wirklich poetisch«, ziehe ich sie auf. »Hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
»Tja, ich bin eben immer für eine Überraschung gut.« Danach gähnt sie.
»Jetlag?«
»Einfach nur hundemüde.«
Ich schneide mir ein weiteres Stück meines Steaks ab. Keine Ahnung, was mich bei meinen nächsten Worten reitet. »Ich kann übrigens gerne auf dem Boden schlafen, wenn du dir das Bett nicht mit mir teilen willst«, biete ich an.
»Das würdest du tun?« Ungläubig schaut Ava mich an. Schon wieder. Auch zuvor, als ich sie gefragt habe, ob es sie stört, wenn ich mir ein Steak bestelle, hat sie mich mit genau diesem Blick gemustert. Ich habe beinahe das Gefühl, dass sonst niemand wirklich Rücksicht auf sie nimmt.
»Natürlich.« Ich bin ja kein Arschloch. Oder zumindest nur ein kleines.
Nachdem ich aufgegessen habe, lege ich mein Besteck zur Seite. Ava ist auch schon fertig. »Das ist wirklich nett von dir, aber unsinnig. In diesem Zimmer steht ein Doppelbett, das du bezahlt hast.« War ja klar, dass sie darauf herumreitet. »Und du wirst auch darin schlafen. Wir können eine Kissenwand aufbauen.«
Ich verdrehe meine Augen. »Was ja auch gar nicht kindisch ist.«
Beleidigt murmelt Ava: »War ja nur ein Vorschlag.«
»Hör mal, Ava. Wir sind erwachsen. Und unsere Zimmer werden in den nächsten drei Monaten nur durch einen Flur voneinander getrennt sein. Wir teilen uns ein Bad, ich denke, wir schaffen es auch, uns eine Nacht ein Bett zu teilen.«
»Klar, warum nicht. Du bist ja nur ein absolut Fremder für mich.«
Ich strecke die Hände in die Luft und tue so, als würde ich mich ergeben. »Schon gut, schon gut. Bau einfach deine verdammte Kissenwand, wenn du dich dann besser fühlst. Aber ich verspreche dir hoch und feierlich, dass ich dich nicht anfassen werde.« Etwas leiser füge ich hinzu: »Dafür gibt es genug Freiwillige.« Da brauche ich mich Ava bestimmt nicht aufdrängen, die ich nicht einmal leiden kann. Gut, das ist etwas übertrieben. Fünfzig Prozent der Zeit ist sie erträglich, die anderen fünfzig Prozent geht sie mir höllisch auf den Sack.
»Danke.« Ava trinkt einen Schluck Wasser. »Ich müsste nur noch einmal zum Auto, bevor wir wieder ins Zimmer gehen, ich brauche noch einen anderen Koffer.«
»Willst du doch nicht mehr barfuß rumlaufen?«, kann ich mich nicht zurückhalten zu fragen.
Avas Wangen röten sich. Steht ihr. Vertraulich beugt sie sich etwas näher zu mir und flüstert: »Na ja, ich hätte nicht nur gerne Schuhe, sondern auch Unterwäsche.«