Kapitel 4

Etwa fünfzig Minuten später saß Erim mit zwei ihrer Bodyguards im Shuttle zum Regierungsgebäude. Zum Glück war einer der Doppelschalensitze für sie frei, da konnte sie sich ausbreiten. Die Einzelplätze waren viel zu schmal für breite Menschen wie sie und sie hasste das Gefühl, eingequetscht zu sein. Als würde es nicht genügen, in Werbefeeds ständig Diätprogramme und Fitnessgeräte vorgeschlagen zu bekommen, weil der Algorithmus glaubte, das müsse sie interessieren.

Gedankenverloren scrollte sie mit dem Finger durch den Nachrichtenfeed, den ihre Augmented-Reality-Linse vor ihr in die Luft projizierte. Er war nach Stichworten sortiert und zeigte ihr zu jedem davon aktuelle Nachrichten und Reaktionen aus den sozialen Medien. Ria, ihre Beraterin, verfasste zwar ein tägliches Dossier für sie, es schadete aber nicht, selbst einen Blick auf das Tagesgeschehen zu werfen.

Im Nachhinein war es vernünftig, dass sie nicht gemeinsam mit Raqan zur Ausschusssitzung erschien, das hätte sicher so einige Gerüchte befeuert. Erim war nicht spannend genug, um ein ganzes Heer von Paparazzi anzuziehen, aber für eine Randnotiz in der Regenbogenpresse reichte es bestimmt.

Seufzend lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück, deaktivierte die Linse und blickte durch die rundum verglaste Kapsel nach draußen, wo die Wolkenkratzer Rekamas langsam näher kamen. Es war ein monumentaler Anblick, der ihr in den ersten Jahren stets den Atem geraubt hatte. Rekama war keine Stadt im engeren Sinne – sie war ein gewachsener Trabant des Regierungsviertels, der sich Stück für Stück weiter ins Landesinnere ausdehnte und mittlerweile Ausmaße einer Zehn-Millionen-Stadt erreicht hatte. Am Horizont zeichneten sich verschwommen die Umrisse der Zonya-Felsen ab, gigantischer, moosbewachsener Steinbrocken von rund tausend Metern Höhe, die die Ausläufer des Gebirges bildeten und Rekama ihre charakteristische Skyline verliehen. Viel war davon aber nicht zu sehen, denn der Smog hing wie eine dichte Wolke über der Stadt und zog sich bis in ihre Randbezirke. Das war ein Grund, warum Erim lieber in einem der Küstenorte am anderen Ende der Bucht lebte, wo die Lebensqualität deutlich höher war.

Mit dem gesicherten Shuttle, das allen Regierungsmitgliedern zur Verfügung stand, brauchte sie nur dreißig Minuten bis zu ihrem Arbeitsplatz und hatte jeden Morgen ein wenig Zeit, sich auf den Tag vorzubereiten. Heute allerdings fehlten ihr die Muße und die Konzentration, sich noch einmal mit den Unterlagen zu beschäftigen.

Ihr Ziel, die Regierungsinsel, ragte ein gutes Stück in den azurblauen Ozean hinein, teils auf natürlicher Landmasse, teils auf künstlich geschaffenen Inseln, Landzungen und Plattformen errichtet. Zwischen den hoch aufragenden Gebäudekonstruktionen aus Stahl, Chrom und Glas lagen begrünte Parks, durchsetzt von Wasserspielen und angelegten Seen, die mit dem schillernden Material der gigantischen Wolkenkratzer kontrastierten.

Das eigentliche Herz des Regierungsviertels bildete allerdings der Präsidialturm, im Volksmund wegen seiner leicht gekrümmten, spitz zulaufenden Form auch »Haifischzahn« genannt. Ein Gebäude von über tausend Metern Höhe, in dessen 223. Stockwerk die Präsidialen ihre Regierungsgeschäfte erledigten. Der Blick, den man von dort hatte, war atemberaubend, daran konnte Erim sich noch erinnern. Bei ihrer Vereidigung war sie einmal da gewesen, aber seither nie wieder.

Das Umweltministerium zählte nicht unbedingt zu den wichtigsten Ressorts der Föderation, doch das hinderte Erim nicht daran, ihren Job gut zu machen. Sie war jung, gerade einmal dreißig, ihr standen noch alle Türen offen. Zumindest hoffte sie das, denn ihre politische Zukunft hing nicht zuletzt von der heutigen Sitzung ab.

Das Shuttle senkte sich langsam und steuerte auf die Docks zu. Unter Erim zogen einzelne Inseln vorbei, dann das Stadion mit seinen verschlungenen weißen Außenwänden, die sich wie Schleifen ineinanderschoben. Schließlich lag der Küstenstreifen direkt vor ihnen, dahinter die Regierungsgebäude und die riesige, im Sonnenlicht reflektierende Kuppel des Senatssaals.

»Ankunft in zwei Minuten«, verkündete eine computergenerierte Stimme in Erims Ohr. »Wir landen auf Dock 4 A.«

Um sie herum tauchten immer mehr gläserne Shuttles auf, die alle gemächlich auf die Landungsbrücken zu schwebten und an einer der unzähligen Kabinen andockten. Erim kletterte nach draußen, strich ihr Kostüm glatt und marschierte, flankiert von ihren Personenschützerinnen, zur Schranke. Der Netzhautscanner erfasste ihre Retina in Sekundenbruchteilen und der Computer begrüßte Sie mit einem gequäkten »Guten Morgen, Frau Sariz«.

Zügig wühlte Erim sich durch die Menge und prüfte über ihre Linse Gebäude, Stockwerk und Raum, in dem der Ausschuss tagte. Die Linse war stets mit ihrem Handgelenkcomputer verbunden, rief alle Daten – Termine, To-do-Listen und Memos – in Echtzeit ab und wies ihr den optimalen Weg. Wenn man gleich zu Beginn die falsche Schwebebahn erwischte, konnte es passieren, dass man am anderen Ende der Regierungsinsel landete und mindestens eine halbe Stunde Zeit verlor. Am Anfang war ihr das regelmäßig passiert, mittlerweile kannte sie die schnellsten Verbindungen.

Die Bahn gondelte vom Shuttledock hinüber zu den insgesamt zwei Dutzend Bürogebäuden, die alle mit unterschiedlichen Buchstaben und Zahlen gekennzeichnet waren. Unter sich erblickte Erim den großen Gründerpark, eine riesige Grünfläche mit See, Pavillons, Joggingstrecke und einem Fitnessparcours – eine Oase zwischen Betonriesen. Die Fahrt dauerte nur wenige Sekunden, ehe Erim wieder aussteigen musste und in einen der unzähligen, uniform aussehenden Gänge einbog.

Die ganze Administration war ein Irrgarten, jeder Korridor sah gleich aus, selbst die Büros waren identisch geschnitten. Als Ministerin hatte Erim eines der schöneren Büros im so genannten Magistrat bekommen, aber sogar das war exakt so eingerichtet wie die der anderen rund einhundert Ministerialen. Individualität war kein Markenzeichen dieses Regierungsapparats, sondern Nüchternheit, Effizienz und militärischer Drill.

In der Cafeteria unweit des Besprechungsraumes erblickte sie zu ihrer Erleichterung Raqan, der an der riesigen Fensterfront Platz genommen hatte und hinaussah. Umständlich nestelte sie ihr Sprachmodul aus der Tasche, einen unscheinbaren, silbernen Knopf, und befestigte ihn an ihrer Schläfe. Das Modul, das drahtlos mit ihrem neuralen Sprachzentrum und einem Computersystem verbunden war, übersetzte für sie jedes Wort in Echtzeit und ermöglichte dadurch eine reibungslose Kommunikation zwischen allen Mitgliedern der Föderation.

Die selbstlernenden Module beinhalteten über dreihundert verschiedene Sprachen und waren bei Ausschüssen und Versammlungen Pflicht. Zwar beherrschten die meisten Personen auf Paraphan die intergalaktische Verkehrssprache – kurz Ivers – , für manche Spezies war diese aber nicht erlernbar. Zu Beginn war es merkwürdig, wenn die Worte und Lippenbewegungen nicht zusammen passten – wie bei einem schlecht synchronisierten Film –, aber man gewöhnte sich daran.

Erim wies ihre Personenschützerinnen an, in einiger Distanz zu warten, und schenkte Raqan ein Lächeln.

»Da bin ich. Hast du gut hergefunden?«

Er nickte. »Hab’ mir einen dieser Androiden-Guides gegönnt. Bei meinen letzten drei Meetings habe ich mich immer heillos verlaufen. Diesmal wollte ich pünktlich sein.«

»Du bist quasi überpünktlich«, stellte Erim mit Blick auf die Uhr fest und senkte dann die Stimme. »Tut mir echt leid wegen vorhin. Ich wollte dich nicht rauswerfen, ich ...«

Er winkte ab. »Gar kein Problem. Ist alles okay mit deiner Schwester?«

»Ja und nein. Sie hat Mist gebaut und will unseren Eltern nichts davon sagen ... Na ja. Teenager-Drama eben.«

Raqan lachte. »Kennen wir alle.«

»So? Ich fürchte, ich habe diese Entwicklungsstufe übersprungen.«

»Da hast du nichts verpasst.« Er strich ihr unter dem Tisch sacht über den Oberschenkel. »Bist du nervös?«

»Ein wenig«, antwortete Erim und untertrieb damit maßlos. Ihre Gedanken kreisten seit Tagen um nichts anderes als diese Ausschusssitzung – so viel hing davon ab. Ihre Legislaturperiode von drei Jahren neigte sich dem Ende zu, und von ihrem ehrgeizigen Sechs-Punkte-Plan hatte sie gerade einmal einen realisiert, und den hatte ihr Vorgänger in die Wege geleitet. Wenn die Solarumrüstungen auch noch scheiterten, dann gab es gar nichts, das sie am Ende ihrer Amtszeit als Umweltministerin vorweisen konnte. Unwahrscheinlich, dass man ihr unter diesen Umständen noch einmal eine Chance auf dem politischen Parkett einräumen würde.

»Wird schon schiefgehen«, sagte Raqan aufmunternd. »Du bist gut vorbereitet und wir haben einen soliden Plan. Wirtschaftlich und empirisch gibt es daran nichts zu rütteln.«

»Hm«, murmelte Erim vielsagend. Sie gab Raqan recht, sie war zufrieden mit ihren Ausarbeitungen, aber im Gegensatz zu ihm wusste sie mittlerweile, wie der Staatsapparat in Umwelt- und Energiefragen tickte. Jede politische Struktur war vom Gedanken an militärische Effizienz durchdrungen – möglichst einfach, möglichst präzise, möglichst günstig. Nachhaltigkeit zählte nicht zu den Grundpfeilern der Föderation, wie Erim im Laufe ihrer Amtszeit schmerzhaft hatte feststellen müssen. Lieber richteten sie zehn Planeten zu Grunde, um noch mehr Rohstoffe wie Vicarium aus den Gesteinsschichten zu reißen, als auf regenerative Energiequellen umzustellen, die zwar weniger effizient waren, aber dafür langfristige Perspektiven boten.

Seufzend wischte Erim ihre schweißnassen Handflächen an ihrem Kostüm ab. Wenn der Plan im Ausschuss keine Zustimmung fand, war das ihr politischer Tod – soviel stand fest. Niemand würde sie bei der nächsten Legislaturperiode berücksichtigen, wenn sie es nicht einmal schaffte, ein so unbedeutendes Ressort wie das Umweltministerium effizient zu führen. Manchmal ärgerte Erim sich über ihren eigenen Ehrgeiz. Sie hätte einfach die Pläne ihres Vorgängers übernehmen und auf Sparflamme fortsetzen können, aber sie hatte ja von großen, galaxisumspannenden Innovationen träumen müssen. Sie hatte hoch gepokert – und war jedes Mal tief gefallen. Ganz zur Freude der auf dem politischen Parkett deutlich erfahreneren Konkurrenz, die es genossen, die Tochter des ehemaligen Außenministers scheitern zu sehen.

Raqans Stimme riss sie aus den Gedanken. »Wollen wir dann los?«

Erim nickte und atmete tief durch. Ihr Magen fühlte sich flau an, vielleicht hätte sie doch etwas frühstücken sollen. »Ja, gehen wir.«

Mit weichen Knien stand sie auf, strich in einer repetitiven Geste ihr Kostüm glatt – schon wieder – und folgte Raqan durch die Cafeteria den Korridor entlang. Erim war froh um seine Anwesenheit, allein hätte sie das Gefühl gehabt, erhobenen Hauptes ihrer Hinrichtung entgegenzutreten. Sie musste sich beherrschen, nicht nach Raqans Hand zu greifen, obwohl der Gedanke daran sehr verlockend war.

Unvermittelt kam ihr Trishs Frage in den Sinn: Ist er dein Freund?

Nein, sicher war Raqan das nicht, dafür sahen sie sich viel zu selten. Paraphan und Kintor lagen fast zwei Tagesreisen auseinander, eine unangenehme Distanz für eine Fernbeziehung. Vor allem, wenn man bedachte, dass sie beide ausfüllende Jobs hatten, für die sie brannten. Trotzdem, manchmal ertappte Erim sich bei dem Gedanken, ob eine Affäre wirklich das war, was sie von Raqan wollte. Er war attraktiv, o ja, und ein aufmerksamer Liebhaber, aber ganz abgesehen davon war er hochintelligent, belesen und charmant. Sie mochte seinen feinen Humor und liebte es, seinen Anekdoten zu lauschen. Es war wirklich verschwendetes Potenzial, mit diesem Mann nicht mehr als ein Bett zu teilen, zumal Erim keine Person war, die sich schnell verliebte. Liebesbeziehungen hatte sie bislang nur mit Leuten geführt, die ihr lange vertraut gewesen waren, und zu denen eine feste, emotionale Bindung bestanden hatte. Das Gefühl spontaner Schmetterlinge im Bauch oder brennender sexueller Anziehung für fremde Menschen war ihr unbekannt. Deswegen hatten sich Dates für sie auch immer anstrengend und unbefriedigend angefühlt.

Sie und Raqan hatten sich über ihre gemeinsame Arbeit am Solarprojekt kennen gelernt und es hatte Monate gedauert, bis Erim bewusst geworden war, dass sie mehr für ihn empfand als platonische Zuneigung. Allerdings hatte sie keine Ahnung, ob es ihm genauso ging. Wenn sie ehrlich war, wusste sie nicht viel über sein Privatleben. Keine gute Voraussetzung, um ihre Beziehung zu vertiefen ...

Erim verscheuchte die Gedanken. Es ging heute nicht um Raqan, auch nicht um Trish und ihre Schulprobleme, sondern um die notwendigen Solarumrüstungen für die ALIS-Aufklärungsflotte. Ihre letzte Chance, das Ruder herumzureißen und die Regierung von einem nachhaltigen, energiepolitischen Kurs zu überzeugen.

Sie holte tief Luft und betrat dann gemeinsam mit Raqan das helle Konferenzzimmer. Der sterile Raum besaß hohe, nach außen gewölbte Fenster, die einen majestätischen Blick über die Bucht erlaubten. Zwei fliegende Service-Drohnen umschwirrten den ovalen Konferenztisch und verteilten Getränke, auch einige Teller mit Keksen und Süßigkeiten standen schon parat. Erim stellte erleichtert fest, dass der überwiegende Teil des Ausschusses bereits zusammensaß: drei Angehörige des Umweltministeriums, zwei hochrangige Militärs, zwei Chefingenieurinnen von ALIS und einige Mitglieder des Senats oder anderer politischer Interessensgemeinschaften.

Erims AR-Linse projizierte die Namen, Ränge und Pronomen der Anwesenden direkt in ihr Gesichtsfeld und sie begrüßte jeden mit einer persönlichen Anrede. Nichts gefiel Staatsbediensteten besser, als für wichtig und unverwechselbar gehalten zu werden, selbst wenn ihnen klar sein musste, dass Erims Datenbank die Gedächtnisleistung für sie übernahm.

Auch Raqan machte die Runde, lächelte höflich und nahm schließlich auf einem der Sitze Platz. Erim konfigurierte mit wenigen Klicks die Präsentation, die sie und Raqan vorbereitet hatten, und ließ die Drohne dann eine Flasche Wasser bringen. Auf Kaffee verzichtete sie lieber, gerade war sie schon aufgekratzt genug.

»Ah, alle versammelt, wie schön.« Senator Sarastos betrat wie so oft als Letzter den Raum, dafür mit einem Gestus, der an einen Filmstar oder Imperator erinnerte. Er war hochgewachsen, fast einen Kopf größer als Erim, dünn und schlaksig. Sein Haar war pechschwarz, bis auf eine einzelne, gekonnt in Szene gesetzte Silbersträhne, und die weiße Haut war von künstlicher Sonne gebräunt. Erim musste sich zwingen, ihn mit derselben Höflichkeit zu begrüßen, wie die anderen Personen im Raum, fürchtete aber, dass ihr Lächeln einstudiert und grotesk wirkte.

»Frau Ministerin, es ist mir eine Freude. Sie sehen bezaubernd aus heute, das muss ich wirklich sagen.« Seine Augenbrauen wanderten anzüglich nach oben und ein Grinsen zog an seinen Mundwinkeln. »Man könnte direkt neidisch auf unseren kintorianischen Gast werden, was?«

Erim spürte, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Nun ja«, Sarastos kicherte, »ich würde mich nicht beschweren, wenn ich einen Tag an Ihrer erlauchten Seite verbringen dürfte, meine Liebe.«

Lieber unterziehe ich mich einer freiwilligen Wurzelbehandlung, dachte Erim angewidert, hielt ihre höfliche Miene aber mit Mühe aufrecht. »Das freut mich, Senator.«

Sarastos schenkte ihr ein breites Lächeln, das vermutlich charmant wirken sollte, auf Erim aber eher den Eindruck machte, als fletsche er die Zähne. Mit großer Geste wandte er sich an Raqan und klopfte ihm so jovial auf die Schulter, als seien sie alte Freunde. »Der Herr aus Kintor, ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Tag auf Paraphan? Hatten Sie die Gelegenheit, die Therme zu besuchen? Wirklich exquisit. Und Sie müssen unbedingt die hiesigen Nukos-Spezialitäten probieren, am besten drüben in der Freiheit. Die scharfen Rippchen sind ein Gedicht.«

Erim musste einen genervten Laut unterdrücken, doch Raqan verzog keine Miene. Für das ungeschulte Auge war es nicht leicht, kintorianische Mimik zu deuten, da sie weit sparsamer war als die menschliche. Ihre Spezies besaß keine Augenbrauen, nur eine ausgeprägte Falte über der Augenhöhle, und die äußeren Lider benutzten sie nie zur Konversation. Sie dienten einzig und allein dem Schutz vor der starken Sonneneinstrahlung auf Kintor, wenn die innere, hauchdünne und beinahe unsichtbare Lidschicht über dem Auge nicht mehr ausreichte. Daher kam auch das weitverbreitete Klischee, ihre Spezies sei unfähig, Emotionen zu zeigen. Ein Trugschluss, wie Erim wusste.

»Ich esse kein Fleisch, Senator«, erwiderte Raqan bedächtig. »Aber danke für den Tipp.«

Sarastos schlug sich in einer theatralischen Geste an die Stirn. »Ach, richtig, wie dumm von mir. Der kintorianische Stoffwechsel, ja, ja ...«

»Können wir dann anfangen?« Erim ahnte, dass ihre Worte nicht so unbefangen klangen, wie sie sollten, doch das war ihr gerade egal. Wenn Sarastos erst einmal in Fahrt kam, wurde die Konversation schnell unangenehm, und Erims Geduld mit seinen provokanten Sticheleien war rasch erschöpft. Sie konnte selbstgerechte, überhebliche Selbstdarsteller wie ihn einfach nicht leiden.

»Aber sicher, dann wollen wir mal.« Sarastos nahm auf seinem Sitz Platz, als sei es der intergalaktische Thron, und sah sich in der Runde um. »Wir sind vollzählig, ja? Frau Ministerin, wollen Sie beginnen?«

Erim nickte, konfigurierte mit einigen Klicks die digitalen Aufzeichnungen auf ihrer Linse und erhob sich von ihrem Platz. Im Stehen fiel ihr das freie Sprechen leichter, außerdem zeichneten sich die Speckrollen dann weniger ab und man sah das Doppelkinn nicht so deutlich. »Verehrte Anwesende, ich freue mich, Sie alle hier zur Sitzung des neu gegründeten Solarenergie-Ausschusses begrüßen zu dürfen.« Sie ging einige Schritte auf und ab und lockerte ihre Finger stellvertretend für den Rest ihres Körpers. »Wir möchten heute über eine Neuerung in der Energiepolitik sprechen, die einen wichtigen Grundstein für Nachhaltigkeit und Ressourcenorientierung in der Föderation setzen wird, nämlich die Umrüstung der intergalaktischen Aufklärungsflotte von vicarium- auf solarbetriebenen Ionenantrieb.« Sie ließ ihre Worte einen Augenblick wirken und schenkte dann Raqan ein dünnes Lächeln. »Ich freue mich sehr, Raqan Thiya-mori von der Firma Solargy begrüßen zu dürfen. Er wird uns heute in einem kurzen Vortrag die Möglichkeiten, Chancen und Grenzen einer Solarumrüstung darlegen und uns zudem eine Kalkulation vorlegen, die wir als Basis für weitere Überlegungen nutzen können. Gibt es von Ihrer Seite her vorweg noch Fragen?«

Alle Anwesenden schüttelten den Kopf, einige machten sich Notizen und Sarastos grinste so anbiedernd, dass Erim schlecht davon wurde.

»Gut. Dann übergebe ich hiermit das Wort an Herrn Thiya-mori.«

Raqan erhob sich und lächelte in die Runde. Allein mit seiner Präsenz füllte er den Raum augenblicklich aus, niemand raschelte mit den Servietten oder klimperte mit einem Kaffeelöffel. »Vielen Dank, Frau Ministerin. Es ist mir eine große Ehre, heute hier sein zu dürfen. Die Firma Solargy blickt auf eine über zweihundertjährige Expertise im Bereich der Solarenergieforschung zurück und ich freue mich, Ihnen heute eine kurze Einführung in dieses zweifellos komplexe Thema geben zu können.«

Er aktivierte das holografische System und projizierte die Abbildungen direkt in die Mitte des Konferenztisches, sodass alle einen guten Blick darauf hatten.

»Ich möchte mit der Frage beginnen, die Ihnen vermutlich unter den Nägeln brennt: Warum sollten Sie eine teure Umrüstung Ihrer Flotte überhaupt in Erwägung ziehen? Welche Vorteile bietet Solarenergie verglichen mit dem herkömmlichen Vicariumantrieb? Lassen Sie mich dazu etwas weiter ausholen ...«

Erim nippte an ihrem Wasserglas und musste sich beherrschen, Raqan nicht ununterbrochen wie ein verliebter Teenager anzustarren. Er war ein hervorragender Rhetoriker, fing Fragen und Bedenken auf, noch ehe sie geäußert wurden, zitierte Studien und Statistiken und untermauerte jedes seiner Argumente mit Zahlen und Fakten. Erfreut bemerkte Erim, wie viele Mitglieder im Ausschuss an seinen Lippen hingen, interessiert lauschten und Notizen machten.

Mit einer prägnanten Take-home-Message beendete Raqan seine Präsentation und blickte dann höflich in die Runde. »Haben Sie Fragen?«

General Tuscar, ein streng dreinblickender, grauhaariger ALIS-Offizier, der Erims Werdegang stets mit Argusaugen beobachtet hatte, bat Raqan noch einmal, seine Effizienzberechnungen vorzulegen, und betrachtete die Tabelle unschlüssig. »Verglichen mit dem Vicariumantrieb sind diese Umsatzraten ziemlich dünn, finden Sie nicht?«

»Das liegt in der Natur der Sache«, erwiderte Raqan. »Es wäre utopisch, bei Solarenergie dieselbe Effizienzleistung zu erwarten. Der Vorteil ist dennoch, dass Sonnenlicht als Energieträger im All unerschöpflich und überall zugänglich ist. Die verringerte Effizienz wird also durch die erhöhte Verfügbarkeit aufgefangen.«

»Das behaupten Sie«, brummte der General. »Aber was ist im Gefechtszustand? Wenn schnell alle Reserven mobilisiert werden müssen?«

»Daher sprechen wir derzeit nur von einer Umrüstung der Aufklärungsflotte«, warf Erim beflissen ein. »Diese sind nur mit geringer Bewaffnung ausgestattet und nicht für Gefechtseinsätze konzipiert.«

»Nichtsdestotrotz kommen sie vor«, sagte die Offizierin neben dem General, eine schlanke Namisa mit rotem Schuppenkleid und schmalen, schwarzen Augen. »Gerade bei Aufklärungsmissionen in uns unbekannten Territorien der Galaxis sind Zusammenstöße unausweichlich.«

»Dann sollten Sie vielleicht künftig wieder mehr auf Diplomatie setzen«, brummte Senatsmitglied Isarin ungehalten, »und nicht erst schießen, bevor Sie fragen.«

»Das verbitte ich mir!« Der General fixierte xien erbost. »Unsere Aufklärungsmissionen sind effektiv und zielorientiert. Wir verteidigen uns nur im Ernstfall.«

»Für den Ernstfall reicht die Energieversorgung mit Solarbetrieb problemlos aus«, versicherte Raqan. »Die Kommandobrücke hat ständigen Überblick über die Energiereserven und wird rechtzeitig gewarnt, sollten sie einen gewissen Punkt unterschreiten. Mit Hilfe von Batteriesystemen haben Sie zudem die Möglichkeit, Energie langfristig zu speichern und damit auch in Situationen zu nutzen, in denen –«

»Das ist ja alles schön und gut«, unterbrach Senator Sarastos. »Aber, um ehrlich zu sein, Herr ... Raqan, Sie haben uns die zentralste Frage noch immer nicht beantwortet. Warum sollten wir die bewährten Systeme durch wesentlich weniger effiziente Solarenergieantriebe ersetzen?«

Raqan wirkte konsterniert und legte den Kopf schief. »Nun, Senator, das habe ich im Rahmen meines Vortrags zu erklären versucht. Solarenergie ist nachhaltig und regenerativ, im Gegensatz zu Antriebsmaschinen mit Vicarium. Sie ist sauber, verursacht keine Probleme bei der Lagerung der Abfallprodukte und –«

»Das habe ich durchaus verstanden.« Sarastos lächelte immer noch und Erims Herz schlug schneller. Was hatte der Mistkerl vor? »Aber ein Detail haben Sie uns dann doch verschwiegen, Sie Schlingel. Nämlich, wie viele Milliarden Credits Umsatz Ihr Unternehmen durch diese Umrüstungsmaßnahme generieren würde.«

»Nun, niemand lebt nur von Luft und Liebe, auch meine Firma nicht. Natürlich geht es hier um ein Geschäft, von dem alle Seiten profitieren können.«

»Alle Seiten, soso ...« Der Senator grinste. »Ehrlich gesagt kommen Sie mir eher vor wie einer dieser Schmierlappen vom Schrottmarkt, die arglosen Leuten überteuerte Waren andrehen wollen, obwohl die sie gar nicht brauchen.«

Erim war kurz davor, seine Beleidigung erbost zu kontern, als ihr Naqara, eine ihrer Mitarbeiterinnen aus dem Ministerium, zuvorkam: »Brauchen ist ein dehnbarer Begriff, Senator. Es geht hier schließlich um Fragen der Nachhaltigkeit und der Effizienz.«

»Nachhaltigkeit ...« Sarastos ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Ehrlich gesagt erschließt sich mir bis heute nicht, warum wir darum so ein Aufheben machen. Die derzeitigen Vorräte an Vicarium, die auf den uns bisher bekannten Planeten zu finden sind, reichen laut Schätzungen aus, um die Föderation die nächsten tausend Jahre mit Energie zu versorgen. Und wir entdecken laufend neue Planetensysteme, die –«

»Die Föderation wächst, Senator«, warf eine der Ingenieurinnen ein. »Genau wie der Bedarf an effizienten Energiequellen. Die Schätzungen sind allenfalls ungenau, wahrscheinlich sogar reine Spekulation.«

»Abgesehen davon«, ergänzte Erim, »verursacht der Abbau von Vicarium seit Jahrhunderten massive Schäden an der Umwelt und den betroffenen Planeten. Nehmen Sie einmal Ranun als Beispiel. Seit Beginn des Vicariumabbaus ist die Durchschnittstemperatur um vier Grad gestiegen und sie erhöht sich weiter. In ein paar Jahren könnten die letzten Wasserreserven verdunsten und dann wird der Planet ein für alle Mal unbewohnbar sein. Ganz zu schweigen von der Toxizität des Abbauprodukts, das bei der Raffination –«

Der General seufzte vernehmlich. »Frau Ministerin, ich denke, wir kennen Ihren Standpunkt zu diesem Thema. Müssen wir das schon wieder diskutieren?«

»Ja«, knurrte Erim erbost. Tuscar war seit Jahren einer ihrer hartnäckigsten Gegner auf dem Weg zu einer nachhaltigeren Energiepolitik und bisher war es ihm immer gelungen, sie auszustechen. Kein Wunder, sie war ein Neuling auf dem politischen Parkett, er hingegen ein alter Hase, der in jeder Abteilung des Ministeriums irgendjemanden kannte, der ihm noch etwas schuldete. »Die Föderation kann nicht die nächsten tausend Jahre so weitermachen und einen Planeten nach dem anderen zerstören, nur weil wir nicht auf unser heißgeliebtes Vicarium verzichten wollen. Das ist kurzsichtig und fahrlässig.«

»Meine Liebe, hören Sie doch bitte mit diesen Verschwörungstheorien auf.« Sarastos schüttelte den Kopf und goss aufreizend langsam Wasser in sein Glas. »Es gibt keine einzige Studie, die belegt, dass der Abbau von Vicarium den Treibhauseffekt vorantreibt, im Gegenteil. Eine exzellente Untersuchung der Universität von Paraphan hat erst jüngst gezeigt –«

»Diese Studien sind nutzlos«, fiel Erim ihm ins Wort. »Der beobachtete Zeitraum war viel zu kurz, um schädliche Langzeiteffekte zu erkennen. Abgesehen davon wurde die von Ihnen genannte Untersuchung von großzügigen Forschungsgeldern der Sanwa Mining Corporation finanziert, die hunderte Vicariumminen betreibt. Denken Sie wirklich, dass –?«

»Bei allem Respekt, Frau Ministerin, Sie gehen zu weit.« Die Worte der Offizierin waren so klar und unmissverständlich, dass Erim augenblicklich verstummte. »Kehren wir bitte zu den Fakten und zum eigentlichen Thema dieser Ausschusssitzung zurück.«

Erim schwieg betreten und nickte. Sie hatte sich gehenlassen, das durfte nicht noch einmal passieren, ganz egal, wie sehr ihr das Thema am Herzen lag. Hier ging es um Fakten, nicht um persönliche Animositäten und Feldzüge. »Sie haben Recht, bitte verzeihen Sie. Also, Tatsache ist, dass die Umstellung auf Solarenergie eine große Investition darstellt, da stimme ich Senator Sarastos zu. Ich sehe aber auf lange Sicht insbesondere die Vorteile, die uns diese Innovation bringen könnte, nämlich saubere, erneuerbare Energie, die weder die umständliche Lagerung von toxischem Abfall, noch komplizierte und umstrittene Abbaumethoden erfordert. Die Sonnenenergie ist hier, direkt vor unserer Tür. Wir müssen sie nur nutzbar machen.«

»Und was ist mit anderen Teilen der Galaxis?«, warf Isarin ein. »Was, wenn sich die Schiffe so weit von der nächsten Energiequelle entfernen, dass der Antrieb ausfällt?«

»Das ist unmöglich«, antwortete Raqan höflich. »Es gibt derzeit keinen Punkt in den erforschten Quadranten, der auch nur annähernd in einem problematischen Radius liegt. Ganz abgesehen davon ermöglicht es unser Speichersystem, so viele Energievorräte anzusammeln, dass sie damit die halbe Galaxis durchqueren könnten, ehe es zu Problemen käme.« Raqan ging einige Schritte um den Tisch herum, um das Senatsmitglied ins Auge zu fassen. »Sehen Sie, auf Kintor haben wir in den letzten Jahrhunderten ausschließlich Schiffe mit Solarantrieb gebaut und es gab nie nennenswerte Zwischenfälle, die –«

»Ach, jetzt hören Sie aber auf.« Sarastos lachte dröhnend. »Hat denn irgendjemand hier schon einmal von den berühmten kintorianischen Schlachtschiffen gehört? Oder von den bahnbrechenden Errungenschaften kintorianischer Aufklärungsmissionen? Nein. Und warum nicht? Weil ihre Technologie ineffizient, veraltet und unökonomisch ist.«

»Das ist nicht wahr, Senator.« Wieder einmal war Erim dankbar um Raqans ruhige, gefasste Art. Es brauchte schon eine gute Kenntnis kintorianischer Mimik, um zu realisieren, dass er innerlich kochte. »Kintor besitzt sowohl Schlachtschiffe als auch eine Aufklärungsflotte, allerdings waren wir bisher noch nicht gezwungen, sie in großem Stil einzusetzen. Im Umkehrschluss baut Solargy schon seit Dekaden Transport- und Handelsschiffe für verschiedene Unternehmen, für Galaxy Care, zum Beispiel, oder für Intertrade. Betrachten Sie die auch als ineffizient?«

Sarastos hob eine Augenbraue. »Mein Freund, wollen Sie wirklich ein paar kleine Handelskreuzer mit den komplexen, hochtechnisierten Aufklärungsschiffen der ALIS-Flotte vergleichen?«

»Jetzt werden Sie polemisch, Senator«, warf die Offizierin ein. »Galaxy Care betreibt mobile Lazarettschiffe und Krankentransporte, auch diese haben hohe technische Anforderungen zu bewältigen und müssen vielfach gegen Ausfälle gesichert sein.«

»In der Tat«, bekräftigte Raqan. »Ich kann Ihnen hier und jetzt keine Zahlen nennen, aber Solargy liegen bisher keine Informationen darüber vor, dass es jemals grundlegende Probleme mit den Solarantrieben gegeben hätte.«

Sarastos zuckte mit den Schultern. »Nun, die gab es bei unseren Vicariumantrieben aber bisher auch nicht.«

»Das stimmt so nicht«, widersprach Erim, froh, endlich wieder etwas Sachliches zur Diskussion beitragen und Sarastos zugleich den Wind aus den Segeln nehmen zu können. »Es gab allein in den letzten hundert Jahren zweiunddreißig Fälle, in denen Fehler im Antriebssystem den Absturz oder die Explosion eines ALIS-Schiffs verursacht haben. In den meisten Fällen war eine unzureichende Kühlung der Brennstäbe, zum Beispiel durch ein Kühlerleck, ausschlaggebend für die Katastrophe. Die Folgen waren verheerend, es gab insgesamt über dreihundert Tote und schwere Verseuchungen an den Unglücksstellen, die zum Teil bis heute unbewohnbar sind. Ganz zu schweigen von den Spätfolgen für jene, die das Desaster überlebt haben.«

Der ALIS-General räusperte sich vernehmlich. »Das waren Einzelfälle, Frau Ministerin. Fehler in der Wartung oder der Konstruktion passieren überall da, wo Lebewesen involviert sind, und selbst Androiden arbeiten unter Extrembedingungen oft nicht fehlerfrei. Die ALIS-Flotte hat in den letzten hundert Jahren über eintausend vicariumbetriebene Schiffe unterhalten, das heißt, die Versagensquote liegt unter drei Prozent.«

»Mag sein«, entgegnete Erim, »aber das sind drei Prozent zu viel, General. Drei Prozent heißt hunderte Tote, Materialschäden im Wert von mehreren Millionen Credits und langfristige gesundheitliche Schäden für die Lebewesen in den betroffenen Gebieten.« Sie blickte Tuscar ernst in die Augen. »Seien Sie ehrlich: Wäre das hier eine militärische Aktion, würden Sie das Risiko in Kauf nehmen oder würden Sie eher dafür sorgen, die drei Prozent zu eliminieren, auch, wenn es eine Investition erfordert?«

Der General schwieg, offenbar hatte Erim ihn zum Nachdenken gebracht.

»Vielleicht darf ich an dieser Stelle kurz einwerfen«, sagte Raqan, »dass wir von Solargy natürlich eine Gewährleistung für unsere Systeme geben. Sollte binnen zehn Jahren ein Ausfall entstehen, der nicht auf Wartungsfehler oder fehlerhafte Handhabung zurückzuführen ist, kommen wir nicht nur für die Reparaturen, sondern auch für die entstandenen Schäden auf.«

»Oha.« Sarastos gluckste. »Haben Sie das mit Ihrer Geschäftsführung abgesprochen? Nicht, dass Sie uns hier Geschenke anbieten, die Sie nicht halten können.«

»Das ist Teil jedes Vertrags, den wir abschließen«, erwiderte Raqan. »Wir stehen voll und ganz hinter unserer Technologie und übernehmen deswegen auch die Verantwortung für unsere Fehler. Aber ich kann Ihnen versichern, in den letzten zwanzig Jahren hatten wir genau achtundvierzig Fälle, in denen wir nachträgliche Korrekturen vornehmen mussten. Also weniger als fünf Fälle pro Jahr. Und wir verkaufen jährlich rund zehntausend Solarsysteme an Firmen und Privatleute.«

»Beeindruckend«, höhnte Sarastos, »aber wir sind hier nicht auf einer Verkaufsmesse, Herr ... ähm ...«

»Thiya-mori«, ergänzte Raqan. »Es steht auch hier auf meinem Schild, sehen Sie?«

Sarastos lachte und winkte dann ab. »Ach, wissen Sie, ich weiß nie, wie man diese Namen ausspricht. Da trete ich lieber nicht ins Fettnäpfchen.«

»Den Namen eines Gesprächspartners nicht zu kennen ist ein Fettnäpfchen, Senator. Zumindest da, wo ich herkomme.«

Sarastos verdrehte die Augen. »Ich bitte Sie, Sie können das nicht nachvollziehen. Sie sind schließlich ein Alien.«

Erim stieß ein erbostes Keuchen aus. Fassungslos starrte sie Sarastos an und rang nach Worten, doch die Wut schnürte ihr die Kehle zu. In der Runde war es totenstill geworden. Einige Ausschussmitglieder, insbesondere die namisische Offizierin, wirkten genauso empört wie Erim, die anderen rührten betont unbeteiligt in ihrem Kaffee.

Mit Mühe fand Erim ihre Sprache wieder. »Was ... was fällt Ihnen ein ...?«

Sarastos hob die Augenbrauen. »Wie? Ach, wegen dieses Worts?« Er lachte spöttisch. »Ja, ja, ich weiß schon, parahumanoide Spezies. Ehrlich, das kann doch niemand aussprechen. Wir haben früher auch Alien gesagt und keinen hat das jemals gestört. Dieser ganze Unsinn mit der politischen Korrektheit ist doch lächerlich, finden Sie nicht?«

Er blickte ausgerechnet Raqan an, der so perplex war, dass er nicht antwortete.

»Sehen Sie. Ich meine, Sie haben auf Kintor doch bestimmt auch ein Wort für uns, oder nicht? So was wie Haarknäuel?« Er gluckste über seinen eigenen schlechten Scherz. »Das ist doch nicht xenophob, oder? Ich würde Alien ja auch nie als Schimpfwort benutzen, ich hab’ ja nichts gegen Sie.«

»Das reicht jetzt.« Erim kochte vor Wut und war kurz davor, dem Senator den Mund mit Papierservietten zu stopfen.

»Seien Sie doch nicht so empfindlich, Frau Ministerin«, empörte sich Sarastos. »Man wird ja wohl noch einen Scherz machen dürfen.«

»Nein«, fauchte Erim, »das dürfen sie nicht. Wenn Sie nicht wollen, dass man Sie für ein Arschloch hält, dann benehmen Sie sich nicht wie eines.« Energisch stützte sie die Arme auf den Tisch und blickte in die Runde. »Können wir weitermachen?«

Die Mitglieder im Ausschuss schwiegen, teils betroffen, teils irritiert. Die Offizierin raunte ihrem Vorgesetzten etwas zu, der zuckte nur missmutig mit den Schultern, während einige Senatsmitglieder die Köpfe zusammensteckten. Einzig Sarastos wirkte eigentümlich zufrieden mit sich und Erim ahnte, dass sie dem Kerl auf den Leim gegangen war. Er hatte sie provozieren wollen, und das war ihm gelungen. Aber verdammt noch mal, sie konnte so eine Beleidigung nicht einfach im Raum stehen lassen!

»Wo waren wir?« Raqan fing sich als Erster und bemühte sich um ein Lächeln. »Wie ich sagte, Solargy übernimmt jede Haftung für die eingebauten Systeme und wir bieten Ihnen obendrein regelmäßige Wartungs- und Instandsetzungsdienste an. Auch Updates für die Software, sofern verfügbar, erhalten Sie zum Vorzugspreis. Ja, es ist eine Investition, aber eine, die sich langfristig für Sie und die Föderation lohnen wird. Selbstverständlich können Sie auch noch andere Angebote einholen, wir sind nicht die einzige Firma für Solarantriebe. Ich kann Ihnen allerdings versichern, als marktführendes Unternehmen haben wir die bislang größte Expertise.«

Gemurmel kam auf, einige Anwesende nickten, tuschelten. Erim saß stocksteif auf ihrem Stuhl. Sie konnte überhaupt nicht einschätzen, wie ihre Chancen gerade standen. Sarastos, dieser Mistkerl, hatte sie komplett durcheinandergebracht, dabei hatte alles so gut ausgesehen. Selbst der General hatte mit Interesse zugehört.

»Vielleicht könnten wir ein allgemeines Stimmungsbild einholen, wie Sie alle die Situation einschätzen. Dann –«

»Ach, Frau Ministerin, wir drehen uns hier doch nur im Kreis.« Sarastos legte die Fingerspitzen aneinander und bettete sein Kinn darauf. »Sie, Herr ... Tijamon, wollen uns Ihr Produkt verkaufen, das ist Ihr gutes Recht, aber wir brauchen es nicht. Es gibt keinerlei Notwendigkeit für eine Umrüstung, abgesehen von Spekulationen über die Energievorräte in, was weiß ich, eintausend Jahren.« Er fixierte Erim mit seinen grauen Augen und rückte seine Brille zurecht. »Ich frage mich ernsthaft, was Sie, Frau Ministerin, dazu treibt, uns partout vom Gegenteil überzeugen zu wollen.«

Erim stöhnte auf. »Wie oft soll ich Ihnen das denn jetzt noch erklären? Die Föderation muss weg von den schmutzigen Energiequellen, besser heute als morgen, und die –«

»Ja, ja, sparen Sie sich Ihre Moralpredigten«, unterbrach Sarastos sie harsch. Von seiner Jovialität war auf einmal nichts mehr übrig, sein Blick war scharf wie ein Messer und er fletschte regelrecht die Zähne. »Das ist das Bild, das Sie uns gerne verkaufen möchten, nicht wahr? Diese kluge, weitsichtige, integre Frau, die nur das Beste für die Föderation und die Zukunft unserer kostbaren Kinder will.«

»Herr Senator, mäßigen Sie sich«, zischte Erims Kollegin Naqara. »Sie benehmen sich unmöglich.«

»Dann komme ich gleich zur Sache.« Sarastos’ Haifischlächeln wurde breiter. »Darf ich?« Ohne auf eine Antwort zu warten, schloss er einen Datenträger an das holografische System an und tippte einige Male darauf herum. »Ah, da haben wir es ja. Sie sagen also, Frau Ministerin, dass die Umrüstung der Aufklärungsflotte für Sie eine rein politische Sache ist, ja? Sie tun das aus Überzeugung und in gutem Glauben an die Nachhaltigkeit von solaren Energiequellen.«

»Ja«, erwiderte Erim gedehnt. Sie hatte keine Ahnung, worauf Sarastos hinauswollte, doch sein triumphierender Blick beunruhigte sie. »Sie kennen meinen Standpunkt in der Energiepolitik.«

»Durchaus. Allerdings gibt es da noch eine Sache, die ich jetzt über sie weiß.« Er machte eine dramatische Pause, ehe er das Holodeck aktivierte. Ein Bild flimmerte darauf. Wurde klarer, schärfer – und Erim rutschte das Herz in die Hose.

Sarastos feixte über das ganze Gesicht. »Wie Sie sehen, meine Damen und Herren, hat Frau Sariz ein besonderes Interesse daran, sich intensiv um ihre Gäste zu kümmern.«

Erims Herz hämmerte in ihrer Kehle. Am liebsten wäre sie über den Tisch gesprungen, hätte den Stecker aus dem System gezogen und Sarastos das Gesicht zerkratzt, doch sie blieb, wo sie war. Stumm und entsetzt. Das Holobild zeigte sie und Raqan gestern Abend in einem Lokal an der Küste. Sie saßen sich gegenüber, lachten und blickten sich so tief in die Augen, dass eine andere Interpretation als die Wahrheit schlichtweg ausschied.

»Und das ist noch nicht alles«, verkündete Sarastos freudig. »Als gute Gastgeberin hat Frau Sariz ihren Gast natürlich auch nachhause begleitet.« Ein Klicken, das nächste Holobild. Erim und Raqan, die Arm in Arm den Küstenweg entlang schlenderten.

»Zu sich nachhause, wohlgemerkt.«

Noch ein Holobild. Im Hintergrund die Tür zu Erims Apartmenthaus, davor sie und Raqan, lachend, seine Hand auf ihrer Hüfte. Erim war sprachlos, gefangen zwischen Wut, Entsetzen und latenter Panik.

»Soll ich weitermachen? Ich hätte noch ein Bild von Herrn Tamori, wie er in den frühen Morgenstunden allein das Haus verlässt.«

»Es reicht.« Am Ende war Erims Wut das vorherrschende Gefühl, das den Rest hinfort spülte. Es war einfacher, zornig zu sein als panisch. »Sie hatten kein Recht, diese Aufnahmen zu machen. Spionieren Sie mir hinterher? Sind Sie vielleicht noch in meine Wohnung eingestiegen, um Beweismaterial zu sichten?«

»Nein.« Sarastos lächelte liebenswürdig. »Es wäre mir unangenehm gewesen, Sie beide zu stören. Sie wirkten so ... verliebt.«

Einer der anderen Senatoren räusperte sich vernehmlich. »Frau Ministerin, könnten Sie uns das bitte erklären?«

Erim stand da wie angegossen. Sie konnte regelrecht sehen, wie der letzte Funken Hoffnung, der Vorsprung, den sie sich erarbeitet hatte, Stück für Stück verrann. Verdammt, warum waren sie nicht vorsichtiger gewesen? Sie hätten sich unverfänglich irgendwo in einem Hotel treffen können oder auch einfach gar nicht, bis alles über die Bühne war.

Unprofessionell, Erim. Unprofessionell. Du bist so ein Mondkalb.

»Nun«, begann sie zögerlich. Ihre Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. »Ich werde Sie nicht anlügen. Diese Bilder ... sind gestern Abend entstanden, ja. Herr Thiya-mori und ich stehen uns privat nahe, aber das hat überhaupt nichts mit unserem Ausschuss hier zu tun. Wir –«

»Ach nein?« Sarastos schnaubte. »Wollen Sie uns wirklich für so dumm verkaufen? Sie tauchen hier mit einem Mann auf, der an diesem Deal Milliarden verdienen könnte, und geben jetzt auch noch zu, mit ihm intim geworden zu sein?«

Erim presste die Lippen zusammen, unter dem Tisch ballte sie die Hand zur Faust. »Was wollen Sie damit andeuten? Dass ich mich von Solargy habe kaufen lassen?«

Sarastos zuckte mit den Schultern. »Davon bin ich ursprünglich ausgegangen. Aber so, wie es aussieht, haben Sie statt Geld eher ... andere Dienstleistungen erhalten.«

Erim sprang auf. »Sie verdammter ...!«

»He.« Raqan legte ihr sacht eine Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. »Lass gut sein. Es bringt nichts, jetzt ausfallend zu werden.«

»Hören Sie auf Ihren Liebsten.« Sarastos grinste und betrachtete sie mit einem Blick, der Erim ebenso anwiderte wie seine Worte. »Ich muss zugeben, diese Vorlieben hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Sie haben Glück, dass wir hier auf Paraphan sind, in einigen Distrikten am Rand der Galaxis ist der Verkehr zwischen verschiedenen Spezies immer noch mit Strafen belegt.«

Erim schrie erbost auf. »Halten Sie Ihr dreckiges Maul, Sie –«

»Genug jetzt.« General Tuscar erhob sich gewichtig von seinem Platz und bedachte Erim und Sarastos mit einem Blick, der jedes Corps in die Knie gezwungen hätte. »Sie beide repräsentieren unsere Föderation, und Ihr Benehmen ist untragbar. Senator, wenn Sie noch einmal eine solche Äußerung tätigen, dann reiche ich persönlich Beschwerde gegen Sie ein. Und Sie, Frau Ministerin, sollten lernen, sich zu beherrschen und Provokationen zu ertragen, bevor Sie über eine weitere politische Karriere nachdenken. Sehen Sie das als guten Rat meinerseits.«

Erim schluckte mit dem unangenehmen Gefühl, gerade von einem Erwachsenen zurechtgewiesen worden zu sein. Typisch. Es war so typisch, dass Leute wie Tuscar sie wie ein unreifes Kind behandelten, während Sarastos mit seinen ekligen Sprüchen davonkam. Warum konnte er sich herausnehmen, was er wollte, und sie wurde getadelt, wenn sie ihm dafür übers Maul fuhr?

Sie öffnete den Mund, um dem General Paroli zu bieten, doch die Worte versiegten. Es hatte keinen Sinn. Sie starrte auf die Unterlagen vor ihr auf dem Tisch und wünschte sich nichts sehnlicher, als sofort im Boden zu versinken.