Kapitel 5

Leyo erwachte von der brütenden Hitze, die sich im Schlafzimmer staute, und schlug missmutig die Augen auf. Er hatte alle Decken und Kleidungsstücke von sich gestrampelt, schwitzte aber immer noch am ganzen Körper. Ehe er hier zerfloss, konnte er ebenso gut aufstehen.

Wie so oft schälte er sich als Letzter aus den Laken. Amjan saß in der Regel schon bei Sonnenaufgang in seren Amtsstube, während Leyo vor zwölf Uhr kaum ein Auge aufbrachte. Er war nun einmal ein Nachtmensch und konnte vor zwei Uhr nie richtig einschlafen. Liskas Schlafgewohnheiten waren nicht ganz so fordernd wie Amjans, aber auch sie war mit überbordender Energie gesegnet und nichts hielt sie morgens lange im Bett.

Leyo schlüpfte in frische Kleider, wusch sich das Gesicht und band sein Haar am Hinterkopf zu einem Knoten zusammen. Kritisch fuhr er sich über die stoppelige Wange, entschied sich aber gegen eine Rasur. Ein wenig mehr Bart stand ihm ganz gut, das konnte so bleiben.

Im Gehen beäugte er den Wäschehaufen im Korb neben dem Bett. Es war mal wieder höchste Zeit zu waschen. Und dann war da auch noch der verstopfte Abfluss im Bad, das Loch im Dach, durch das es in die Wohnstube tropfte – wobei, wann hatte es eigentlich zum letzten Mal geregnet? – und eine Reihe notwendiger Besorgungen. Einen Teil davon konnte er im hiesigen Lebensmittelgeschäft kaufen, für ein paar Dinge war hingegen ein Abstecher nach Cardie nötig. Leyo seufzte. Das schob er jetzt schon seit Tagen vor sich her, aber allein der Gedanke daran, was er für die kurze Fahrt alles organisieren musste, lähmte jeden Impuls. Einkaufsliste, Hovercraft, Benzin, Haushaltsgeld abzählen ... Nein. Nicht heute. Wenn er von seiner Mission zurückkam, dann würde er sich darum kümmern. Wirklich. Und ja, das schlechte Gewissen war verdient.

Verärgert rieb Leyo sich die Schläfen. Verdammt, er war kaum fünf Minuten aus dem Bett und schon fühlte sich sein Kopf an, als wollte er platzen.

Egal. Zuerst die allmorgendliche Zigarette, das half ein bisschen, um runterzukommen. Routinen. Routinen waren gut. Er hielt sie selten ein, aber wenn, dann half es.

Seit der Musterung bei ALIS hatte er erstmals einen Namen für seine gesammelten Auffälligkeiten. Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätsstörung hatte die Militärärztin in sein Dossier geschrieben und dabei nicht sonderlich begeistert ausgesehen. Tatsächlich hatte ihm die Diagnose aber geholfen, mit sich selbst ins Reine zu kommen und seine Eigenheiten zu akzeptieren.

Er paffte gemütlich seine Zigarette am Fenster, bemüht, den Qualm nach draußen abziehen zu lassen. Liska hatte sich das Rauchen mit Beginn ihrer Schwangerschaft mühsam abgewöhnt, da wollte er sie nicht unnötig ärgern.

Er schnippte den Stummel hinaus und trat dann in die Wohnstube. Keine der Aufgaben, die in seinem Kopf rumorten, fühlte sich verlockend an, also entschied er sich für die beste Variante: improvisieren. In den windschiefen Regalen ihrer Vorratskammer fand Leyo ein paar Eier, Mehl, Milch und Karamellzucker, rührte alles zu einem glatten Teig zusammen und goss ihn in eine zuvor erhitzte Pfanne. Schließlich stapelte er die fertigen Pfannkuchen auf einem Teller und trug sie nach draußen Richtung Garage.

Trockene, staubige Hitze schlug ihm entgegen. Der Himmel war verhangen und der aufgewirbelte Sand verringerte die Sicht auf wenige Meter. Schon wieder ein Sandsturm? Das war der dritte diesen Monat. Wenn das so weiterging, würden die kargen Felder dieses Jahr noch weniger abwerfen als sonst. Das würde die Farmen reihenweise in den Ruin treiben.

Leyo beschirmte den Teller mit der Hand und balancierte ihn zur Garage. Von drinnen vernahm er bereits das metallische Surren eines Schleifgeräts, ein Hämmern und einen Fluch. So wie es aussah, kam er gerade rechtzeitig. Er schob die Tür mit dem Ellbogen auf und zwängte sich hindurch. Sie ging nie mehr als einen Spalt breit auf, weil die Garage komplett mit Gerümpel, Metallteilen, Ölfässern und Werkzeug vollgestopft war und Liska jeden Zentimeter für ihre Arbeit brauchte. Nun, nicht ganz, in einer Ecke der Garage blieb Platz für einen mit Kerzen, Lichterketten und Räucherwerk geschmückten Schrein für Asaqa, die Muttergöttin, deren Atem – das Tarù – jedem Wesen auf Ranun Leben einhauchte.

Leyo hatte nie so etwas wie religiöse Bildung vermittelt bekommen. In Kasdan, wo er aufgewachsen war, gab es Hunderte Religionen, manche stammten noch von der Erde, quasi aus der Wiege der Föderation, die meisten hatten ihren Ursprung jedoch in anderen, nicht-menschlichen Planetensystemen. Obwohl Leyo nicht im selben Maß gläubig war wie Liska und ihre Familie, hatte er im Taruismus einen gewissen Halt gefunden. Der Gedanke, von einer göttlichen Kraft beschützt und umfangen zu sein, gefiel ihm. Das Tarù bewertete nicht, es wählte seine Schützlinge nicht nach Eignung oder religiösem Eifer und verlangte keine kostspieligen Opfergaben. Im Gegenteil, in den Augen der Taruisten waren alle Lebewesen im selben Maße wertvoll. Sogar solche wie Leyo, die aus miesen Verhältnissen stammten und ihren Lebensunterhalt mit Gaunereien bestritten.

Der Priester in Cardie hatte Leyo, Liska und Amjan vor zwei Jahren in einer schönen, intimen Zeremonie getraut und für sie drei zählte das mehr als der ätzende Papierkram der Föderation. Polygame Eheschließungen waren zwar grundsätzlich möglich, aber an absurde Auflagen geknüpft.

Leyo stieg vorsichtig über ein besonders sperriges Metallteil am Boden und balancierte den Teller mit den Pfannkuchen in Liskas Richtung. Es war verdammt heiß hier drin, die Luft war dick und stank nach Öl und Schmierfett.

»Drecksverdammtes Mistding«, fluchte Liska, deren Oberkörper komplett unter dem Hovercraft verschwunden war, an dem sie herumschraubte. »Mach schon, komm zu Mama, Baby, bitte.«

»Du gehst ja ran.« Leyo stellte den Teller ab. »Klingt, als könntest du eine Pause brauchen.«

Liska schob sich unter dem Fahrzeug hervor, komplett mit Schmieröl bedeckt. Die feinen, schwarzen Locken mit den vielfarbigen Strähnen verbarg sie unter einer schützenden Lederkappe, doch von ihrer dunkelbraunen Haut hoben sich deutlich ölglänzende Schlieren ab. In der knappen grünen Lederweste kamen ihre kräftigen Oberarme gut zur Geltung. Liska war zwar kleiner und schmäler als Leyo, im Armdrücken bezwang sie ihn aber ohne Mühen.

Als sie den Teller sah, weiteten sich ihre Augen. »Pfannkuchen? Du bist echt der Beste.«

»Erzähl mir was Neues.«

Sie verdrehte die Augen, stemmte sich auf die Beine und streckte stöhnend den Rücken durch. »Mann, ich werde alt. Erzähl mal, wie ist das so?«

»Haha.«

»Nein, ehrlich. Ich brauche die Einschätzung eines Betroffenen.«

»Noch ein Wort und ich nehme die Pfannkuchen wieder mit.«

»Untersteh dich!« Sie schrubbte sich die Hände intensiv mit Kernseife sauber und wischte sie dann an einem Tuch ab. »Schwangeren Essen wegzunehmen ist ein Kapitalverbrechen.«

»Ich bin Schmuggler, schon vergessen? Verbrechen schrecken mich nicht ab.«

»Aber mein Zorn. Der hat intergalaktische Ausmaße.« Sie rollte den obersten Pfannkuchen zusammen, um herzhaft hineinzubeißen. »Oh Göttin, das hab’ ich gebraucht. Jetzt noch eine Tasse Kaffee ...«

»Na, na.« Leyo erhob drohend den Zeigefinger. »Nichts da, Fräulein.«

Liska seufzte. »Das ist echt hart, weißt du das? So ganz ohne Kaffee und Bier ...«

»Meine Mutter hing die komplette Schwangerschaft an der Flasche, also nimm mich als mahnendes Beispiel.«

Ein warmes Lächeln huschte über Liskas Lippen und sie gab Leyo einen Kuss auf die Wange. »Könnte mir Schlimmeres vorstellen.«

Er stupste sie gegen die Nase. »Danke. Ich geh nachher zu deinen Eltern in den Laden, brauchst du was?«

Liska grübelte. »Milch ist fast alle und die Butter auch. Oh, und könntest du nach Speck fragen? Vielleicht haben sie welchen.«

Leyo verzog das Gesicht. Für eine Taruistin hatte Liska erstaunlich wenig Skrupel, andere Lebewesen zu verspeisen.

»Du musst ihn ja nicht essen«, konterte sie. »Aber ich hab’ Lust drauf. Ich bin schwanger, ich darf das.«

»Ich sehe, was ich tun kann. Ansonsten ...« Er atmete tief durch und setzte dann eine möglichst unverfängliche Miene auf. »Rubha hat mich gebeten, für sie eine Lieferung in Kasdan abzuholen, ich mach mich später auf den Weg.«

Liska nickte und nahm sich einen weiteren Pfannkuchen. »Okay. Bist du zum Abendessen wieder da?«

»Ich weiß es noch nicht. Rechnet lieber nicht mit mir.«

Sie hob den Blick und sah Leyo forschend an. »Ist alles in Ordnung? Du wirkst aufgekratzt seit gestern.«

»Nein, alles gut.« Er zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Verdammt, es war schäbig, Liska zu belügen. Und noch schäbiger, sie mit Pfannkuchen zu bestechen. Warum hatte er dem Fremden zugesagt, welcher Teufel hatte ihn da geritten?

Du kannst noch raus, dachte Leyo. Geh einfach nicht zum Treffpunkt. Lass es.

Er wusste genau, dass das nicht passierte. Sie drei konnten das Geld so verdammt gut brauchen, füreinander, für das Baby, für ihre gemeinsame Zukunft. Ranun hatte ihnen nicht mehr viel zu bieten, er verdiente bei Rubha nur ein paar Kröten und selbst Liskas Aufträge gingen zurück. Wer in Kalubs End konnte sich schon teure Reparaturen oder Ersatzteile leisten? Im Moment genügte Amjans schmaler Sold, um über die Runden zu kommen, aber wie lange noch? Was, wenn jemand von ihnen krank würde? Wenn Liska wegen der Schwangerschaft Medikamente nehmen musste? Sie brauchten das Geld.

Bevor er sich zu tief in seinen Gedanken verstrickte, meinte er: »Arifa lässt dich übrigens grüßen. Sie sagt, wenn du Babysachen brauchst, kannst du sie jederzeit fragen. Sie hat noch eine Menge Zeug von Kera.«

»Oh, danke, das ist lieb.« Sie legte den Kopf schief. »Geht’s ihr gut? Ich sehe sie so selten.«

»Denke schon. Sami kommt nicht so richtig mit ihrem Mann klar, aber das müssen die unter sich ausmachen.«

Liska lachte. »Dein Sohn hat Menschenkenntnis – deine Ex offenbar nicht.«

»Keine Ahnung, was sie in ihm sieht. Sein Geld, vermute ich.«

»So hätte ich Arifa gar nicht eingeschätzt.«

»Sie hatte immer andere Prioritäten als ich, aber ich misch mich da nicht ein.«

»Wohl besser so.« Sie betrachtete Leyo stirnrunzelnd und stellte dann mit weicher Stimme fest: »Sie fehlt dir.«

Er senkte seufzend den Kopf. »Zunehmend mehr in letzter Zeit, ja. Keine Ahnung, warum.«

»Und du denkst, ihr Mann hätte was dagegen ...?«

Leyo musste lachen. »Wenn er im Saloon aufkreuzt, habe ich regelmäßig Angst, dass er mich erschießt. Also ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass er kein Fan davon wäre, wenn ich eine Beziehung mit seiner Frau anfinge.«

»Schade. Sie würden gut zu uns passen, Arifa und Sami, meine ich.« Liska vertilgte den letzten Pfannkuchen und gab Leyo einen Kuss, der nach Karamellzucker schmeckte. »Danke, die waren fantastisch.«

»Gern geschehen. Kommst du klar?«

»Sicher. Wir sehen uns dann heute Abend.«

Intuitiv zog Leyo sie an sich und sah ihr ernst in die Augen. »Mach keine Dummheiten, okay?«

Sie lachte. »Was denn für Dummheiten?«

»Keine Ahnung. Dir den Schraubenzieher ins Bein stechen, Schmieröl schlucken, deine Nase wegflexen ...«

»Wofür hältst du mich bitte?«

»Sei einfach vorsichtig, okay?« Er strich sacht mit den Fingerspitzen über ihren Bauch. Seit er von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte, wollte er sie am liebsten in Watte packen, damit ihr und dem Baby nichts passierte. Ein völlig untypischer Zug, den er gar nicht von sich kannte, aber er fühlte sich richtig an. Er hatte Samis Geburt verpasst, seine ersten Schritte, sein erstes Wort. Bei Liskas Baby würde ihm das nicht passieren. Deswegen musste diese Schmuggelaktion auch definitiv die Letzte sein.

»Bin ich«, versprach Liska und schob ihn lachend von sich. »Jetzt geh schon. Ich will dich nicht den ganzen Tag in meiner Werkstatt haben.«

»Wieso?« Er lehnte sich lasziv gegen eines der Metallregale. »Mache ich dich nervös?«

»Ein bisschen.« Liska legte die Hand in seinen Nacken, zog ihn zu sich und küsste ihn. Er liebte ihren Duft, diese Mischung aus Öl, Schweiß und ihrem süßlichen Parfum. Innig erwiderte er ihren Kuss, zog sie an sich und entlockte ihr damit ein leises Stöhnen. »Du solltest das lassen«, murmelte sie. »Ich bin zurzeit rund um die Uhr wuschig.«

»Und?«

»Ich muss arbeiten.« Sie schob ihn sanft, aber bestimmt von sich. »Und du wolltest einkaufen.«

»Na gut.« Er zwinkerte. »Bis heute Abend.«

*

»Wie viel?«

Der Fahrer musterte Leyo so misstrauisch, als hätte der ihn gerade nach dem Preis für sein erstgeborenes Kind gefragt.

Leyo grübelte kurz und hielt dem Mann dann die Hand hin. »Zwanzig Ruq?«

Der Kerl runzelte die Stirn und kaute schweigend auf dem klebrigen Stück Tabak in seinem Mund herum. »Schön«, knurrte er und spuckte braune zähe Masse auf den Boden. »Meinetwegen. Bis Kasdan?«

»Genau. Ich mache keinen Ärger, ich will nur mitfahren.«

Der Mann brummte etwas Unverständliches und hielt Leyo die dreckige Handfläche entgegen. Seufzend kramte er das Geld aus der Tasche und reichte es dem Fahrer mit breitem Lächeln. »Können wir dann? Ich muss möglichst zügig nach Kasdan, wissen Sie.«

»Nicht mein Problem«, knurrte der Mann und winkte Leyo zu, ihm zu folgen. Sein Hovercraft war ein klappriges Ding mit rostigen Außenteilen und einem jaulenden Motor, aber es funktionierte. Auf der Ladefläche stapelten sich Fässer und Kisten mit verschiedenem Obst und selbstgebranntem Whisky. Der Kerl war vermutlich einer der Farmer, die außerhalb von Kalubs End ihrer Arbeit nachgingen und sich selten im Ort blicken ließen. Zumindest hatte Leyo ihn noch nie im Saloon gesehen.

Er gab kein Wort von sich, während das Hovercraft über die karge Einöde rumpelte. Der Antrieb schien nicht mehr der beste, immer wieder schlug das Heck kurz auf dem Boden auf und ließ Leyo zusammenzucken. Wenn das Ding irgendwo auf halber Strecke schlappmachte, konnten sie nur hoffen, dass jemand vorbeikam und sie mitnahm. Zwischen Cardie und Kasdan gab es nichts, außer Salz, Wüste und Grubenwürmer.

»Meine Frau könnte das reparieren«, meinte Leyo, als das Hovercraft erneut ins Schlingern kam. »Sie macht Ihnen sicher einen guten Preis.«

»Hm«, brummte der Farmer, der wieder auf einem Stück Tabak herumkaute. »Fährt noch. Muss reichen.«

»Aber wenn es irgendwann mal eine Panne hat, dann –«

» – reparier ich’s«, ergänzte der Farmer dumpf. »Brauch keine Hilfe.«

Leyo zuckte mit den Schultern und lehnte sich in seinem Sitz zurück. An einigen Stellen war der Stoff zerrissen und die darunter liegenden Sprungfedern und Mechaniken stachen ihn in den Hintern. Vielleicht hätte er doch eines der offiziellen Shuttles nehmen sollen, aber das wäre aufgefallen und kostete wesentlich mehr als das holprige Hovercraft.

Stumm starrte er also nach draußen in die karge Einöde, die vor dem Fenster vorbeiflog. Sand, Felsen, Kakteen, hier und da ein wildes Karfaun, das schnell das Weite suchte, als sich das knatternde Hovercraft näherte. In der Ferne erblickte er eine Herde Bormas, große, wuchtige Pflanzenfresser mit verhornten Hautplatten und irrwitzig kleinen Köpfen. Früher hatte er häufiger Bormas gesehen, mittlerweile wurden sie seltener und mussten große Strecken zurücklegen, um noch genügend Nahrung zu finden.

Das Fahrzeug bog um eine Kurve und Leyo riss die Augen auf. Was zum ...?

Neben ihnen klaffte ein tiefes, karges Loch, durchsetzt von Felsen und winzigen Pfützen. Da war ein See gewesen – er erinnerte sich noch genau. Es konnte keine fünf Jahre her sein, da war er mit Amjan hier geschwommen. Das Wasser war trüb und schlammig gewesen, aber tief genug, um in der Mitte des Sees nicht mehr stehen zu können. »Wie lange ist der See schon weg?«

»’n Jahr vielleicht. Anderthalb. Langsam weggesickert. Wenn Regen kommt, füllt er sich manchmal noch. Aber wann regnet’s hier schon mal?«

»Übel.« Leyo beäugte den vertrockneten See im Vorbeifahren und spürte ein Ziehen in der Magengegend.

Es sollte dich weniger überraschen, dachte er und nestelte geistesabwesend an einem losen Faden seines Hemds, um seine Finger irgendwie zu beschäftigen. Dass der ganze Planet zusehends vor die Hunde ging, wussten sie alle. Der Regen wurde Jahr für Jahr weniger, die Temperaturen stiegen, Obst, Gemüse und Getreide wurden teurer, selbst die Tiere, die auf Ranun heimisch waren, starben langsam aus oder zogen sich in andere, fruchtbarere Gegenden zurück. Sofern es solche überhaupt noch gab.

Die Regierung bestritt natürlich, dass das alles eine Folge des Vicariumabbaus war, und die meisten Menschen in Kalubs End wollten es ebenso wenig wahrhaben. Über Jahrhunderte hatte das Vicarium ihre Familien ernährt, ihnen eine Aufgabe, ein Ziel verliehen. Das alles zu verdammen tat weh. Vor allem, wenn man bedachte, wie es jetzt hier aussah, ohne das Vicarium und die Arbeitsplätze in den Minen: trostlos und armselig.

Der Farmer sprach kein weiteres Wort mehr mit Leyo, sodass der mit seinen schweren Gedanken alleine war. Er fingerte seine Tabakdose aus der Tasche und wollte sich gerade eine Zigarette drehen, da raunzte ihn der Fahrer an: »Rauchen verboten.«

Leyo verdrehte die Augen. »Ehrlich?«

Der Mann grunzte und deutete auf einen Beutel in der Mittelkonsole. »Kannst Kautabak haben.«

»Nein, danke.« Seufzend lehnte Leyo sich im Sitz zurück und lockerte nervös die Finger. Keine Zigarette, keine Abwechslung, gähnende Langeweile – wie sollte er das stundenlang aushalten? Er versuchte, im Kopf ein Lied zu pfeifen, doch selbst das half nicht dabei, seine Gedanken zu zerstreuen und das flaue Gefühl im Magen zu vertreiben. Immer wieder musste er an Liska denken und an Amjan, an das, was er ihnen versprochen hatte.

Sie müssen es nie erfahren, schärfte er sich ein. Du lieferst die Ware, du streichst das Geld ein und tust beiden einen riesigen Gefallen. So schnell, so einfach. Keine Fragen, keine Probleme.

Das Hovercraft beschrieb einen Bogen, wich knatternd einigen Felsen aus – Leyo hielt den Atem an aus Angst, der Motor würde gleich versagen – und erreichte dann eine weite, schier endlose Einöde. Kein Baum ragte aus der vertrockneten Erde, kein Kaktus, kein Strauch. Ein paar Aasfresser drehten ihre Kreise über ihnen, aber sonst gab es hier nichts. Und in der Ferne erblickte Leyo auch den Grund dafür. Er konnte den Turm nur vage erkennen, er verschwamm im Hitzeflirren über dem sandigen Boden und dem gleißenden Sonnenlicht. Da hinten lag die Vicariummine, oder das, was von ihr übrig war. Ein Koloss aus rostigem Metall, der seine langen Arme immer noch wie Nadeln in die Eingeweide des Planeten gebohrt hatte. Seit rund fünfzig Jahren lag die Mine still, doch allein der Anblick des riesigen Bohrturms und der militärisch gesicherten Anlage ringsum jagte Leyo einen Schauer über den Rücken. Nichts demonstrierte die Macht und die Heuchelei der Regierung so eindrucksvoll wie diese Industrieanlage.

Leyo schloss die Augen und lehnte sich im unbequemen Sitz zurück. Er würde einfach noch ein bisschen schlafen bis Kasdan. Er rutschte unbehaglich hin und her, um die Sprungfeder im Hintern loszuwerden, und fand schließlich eine einigermaßen angenehme Sitzposition. Die Hitze im Hovercraft war nahezu unerträglich, aber vielleicht konnte er zumindest ein bisschen dösen und von den unendlichen Weiten des Weltalls träumen ...

Als er die Augen wieder aufschlug, zeigte die Uhr auf dem Armaturenbrett des Hovercraft zwei Uhr Nachmittag. Er streckte sich und dehnte ächzend seinen steifen Nacken.

»Na?«, grunzte der Farmer. »Gut geschlafen?«

»Geht so«, murmelte Leyo und massierte mit den Fingerspitzen den schmerzenden Punkt an seinem Hinterkopf. »Wo sind wir?«

»Fast da. Siehste? Da vorn ist die Straße.«

Tatsächlich. Inmitten von hoch aufragenden Felsen, Salzsteinen und Kakteen erkannte Leyo etwas, das an eine krude, aber einigermaßen befestigte Straße erinnerte. Über ihnen vernahm er das Rauschen eines Shuttles und in der Ferne erblickte er ein weiteres Schiff, das zur Landung ansetzte.

Das Hovercraft schlingerte um die Kurve und nach der nächsten Kuppe erkannte Leyo vor ihnen das Ziel ihres Roadtrips. Kasdan, die größte Stadt im Umkreis von rund eintausend Kilometern, verglichen mit den großen Metropolen der Föderation aber nur ein Fliegenschiss auf der Landkarte. In einer breiten Schlucht, beidseitig eingefasst von zerklüfteten Felshängen, drängten sich zahlreiche Lehmhäuser aneinander, durchsetzt von den klotzigen Beton- und Stahlbauten der Regierung, die aus der Zeit des Vicariumabbaus stammten und zunehmend verfielen. Die meisten Industrieanlagen standen leer und waren nur noch Ruinen, die von zwielichtigen Banden oder Obdachlosen bevölkert wurden.

Der Farmer lenkte das Fahrzeug auf die zentrale Hauptstraße, die mitten ins Gewimmel Kasdans führte. Hovercrafts, benzinbetriebene Trucks und selbst Karfaun-Kutschen verstopften die Wege, ein ständiges Brüllen, Blöken und Hupen lag in der Luft. Niemand nahm hier Rücksicht auf Verkehrsregeln, alle suchten sich rücksichtslos einen Weg durch das Durcheinander, bis sie ihr Ziel erreichten oder hoffnungslos stecken blieben.

Leyo musste grinsen. Er hatte die Stadt vermisst. Ihren Gestank, die unfreundlichen Leute, das Gedränge, das chaotische Sprachengewirr und ganz besonders den intergalaktischen Markt. Er musste unbedingt einen Abstecher dorthin machen, wenn es die Zeit erlaubte. Vielleicht fand er irgendeine abgefahrene technische Spielerei für Liska oder ein exotisches Bartpflegeöl für Amjan.

»Wohin soll’s gehen?«, brummte der Farmer und drückte die Hupe durch, was die korpulente, vierarmige Gestalt, die mit drei gefüllten Vogelkäfigen in den Händen über die Straße walzte, nicht zu beeindrucken schien.

»Raumhafen«, erklärte Leyo. »Aber da finde ich allein hin. Ich kann vorne an der Kreuzung aussteigen.«

Der Farmer nickte nur und steckte sich eine neue Portion Kautabak in den Mund, die alte spuckte er in hohem Bogen aus dem Fenster und verfehlte nur knapp eine Person mit Kinderwagen.

Leyo ließ auch auf seiner Seite die Scheibe herunter und hielt den Kopf nach draußen. Der Gestank von Smog, Diesel und exotischen Gewürzen war ihm unangenehm vertraut. Es roch nach seiner Kindheit. Nach dem viel zu kleinen, schäbigen Zimmer, das er mit seiner Mutter geteilt hatte, nach Versteckspielen in dreckigen Hinterhöfen und nach dem ersten, verschämten Kuss mit zwölf. An den Namen des Jungen konnte er sich nicht mehr erinnern, aber er wusste noch genau, wie er ausgesehen hatte.

Leyo seufzte. Gab es dafür einen Namen? Für schmerzhafte Nostalgie, die ihn nicht an eine heile Vergangenheit erinnerte, sondern vielmehr daran, was er glücklicherweise hinter sich gelassen hatte?

Er richtete den Blick nach oben, hinauf zu den Felsabhängen, die Kasdan zu beiden Seiten begrenzten und dazu führten, dass das Licht in den Straßen stets dämmrig wirkte. Einige Häuser waren mit abenteuerlichen Seil- und Säulenkonstruktionen direkt in den Stein gebaut und schwebten regelrecht über dem Dreck und Smog der Stadt. Etwas außerhalb auf einem Plateau befand sich der Raumhafen, der einzige auf Ranuns nördlicher Hemisphäre. Früher ein Umschlagplatz für Waren, Leiharbeit und Rohstoffe, war er zu einem Schmugglerparadies verkommen, auf das die Regierung höchstens noch ein halbes Auge warf. Und auch das nur, wenn sie einen schlechten Tag hatte.

»Hier. Kannst aussteigen.«

Leyo nickte. Er bedankte sich bei seinem Fahrer, klopfte ihm auf die Schulter und stieg dann aus dem Hovercraft. Der Menschenstrom riss ihn ein Stück mit sich, es wurde auf verschiedensten Sprachen geschimpft und geflucht, doch Leyo verging das Grinsen nicht. Er wich zur Seite aus und flüchtete sich in die Nische eines schäbigen Elektroschrottladens, in dessen Auslage ein wirres Sammelsurium aus Kabeln, Steckern und Motorteilen lag. Liska hätte sich vermutlich mit Wonne durch dieses Sortiment gewühlt ...

Bis zum Markt waren es nur ein paar hundert Meter, und der Tag war noch jung. Wenn er in den frühen Abendstunden im Dock 111 auftauchte, würde das sicher genügen.

Er nahm die Straße nach links, um dem Gedränge zu entfliehen, und schlug sich durch das Gassengewirr. Den Weg fand er immer noch im Schlaf, obwohl sich viel verändert hatte. Schon damals, in seiner Kindheit, hatten zahlreiche Wohnungen und Häuser leer gestanden, jetzt wirkte das Viertel regelrecht gespenstisch. Verrammelte Türen, geborstene Fenster, Löcher in den Dächern und chaotische Graffitis, die sich über Mauern und Wände zogen. Ob überhaupt noch jemand von seinen alten Bekanntschaften hier lebte? Er hoffte es nicht für sie.

Apropos alte Bekanntschaft.

Er blieb an der Kreuzung stehen und starrte nach links die Gasse hinunter. Es waren nur wenige Meter, er konnte das Haus in der Ferne schon sehen. Die abblätternde Fassade, die verschnörkelten, rostigen Gitter vor den Fenstern und den roten Lampion, der davor baumelte.

Leyo wandte sich ab und schüttelte den Kopf. Einige dort hätte er gerne wiedergesehen, sofern sie noch da waren, aber er hatte überhaupt keine Lust, seiner Mutter über den Weg zu laufen. Der Tag war anstrengend genug, da brauchte er diese Begegnung nicht auch noch.

Mittlerweile konnte er mit ihr reden, ohne vor Wut zu platzen, das empfand er als deutlichen Fortschritt. Er hatte sogar aufgehört, sie dafür zu hassen, dass sie ihn als Junge wie ein Stück Dreck behandelt hatte. Sie war nur noch eine alte, verbitterte Frau ohne Perspektive im Leben – sie konnte einem fast leidtun. Fast.

Demonstrativ bog Leyo nach rechts ab und folgte den Gerüchen und dem anschwellenden Lärm, bis er auf eine freie Fläche hinaustrat. Der intergalaktische Markt von Kasdan drängte sich um die ovale, mehrstöckige Markthalle, ein uraltes Bauwerk, dessen massive Säulen eine schwere Metallkuppel trugen. Dazwischen erblickte Leyo ein unübersichtliches Labyrinth aus Ständen, Tischen und Teppichen, übersät mit Kuriositäten aus allen Ecken der Galaxis.

Grinsend bahnte Leyo sich einen Weg durch die Stände und konnte sich an der Auswahl kaum sattsehen. Der Markt war die pure Reizüberflutung: Stimmen, Geräusche, Gerüche, Farben, alles durcheinander. Leyo genoss es und verdrängte das Gefühl, an jeder Ecke etwas zu verpassen. Heute musste er sich nicht konzentrieren, niemand verlangte von ihm, geordnet und strukturiert seinen Aufgaben nachzukommen, also konnte er sich einfach treiben lassen.

Hier bot jemand kasdanische Spezialitäten aus Blätterteig und Pistazienmus an, daneben verkaufte ein grauhäutiger Turianer, der Leyo gerade bis zur Hüfte reichte und aus dessen Stirn zwei geschwungene Hörner sprossen, traditionelle Tranchiermesser aus seiner Heimat. Heilkräuter und Wundermittel standen direkt neben Kunstwerken aus verrosteten Schrottteilen und dieselbetriebenen Hausrobotern, gegen deren Lärm das Hovercraft des Farmers nahezu flüsterleise gewesen war. Und hinter einer Umzäunung erkannte Leyo nicht nur einige Karfaune, sondern sogar eine kleine Hornechse, die von zwei Menschen unsanft mit Elektroschockern in die Schranken gewiesen wurde.

Kasdan war ein Schmelztiegel unterschiedlichster Menschen und Parahumanoider. Während des Vicariumrauschs waren sie von überall gekommen, um hier Arbeit zu finden, und lebten mittlerweile in vierter oder fünfter Generation auf Ranun.

Mit großen Augen schlenderte Leyo weiter und fühlte sich wie ein Kind im Süßigkeitenladen. Überall gab es Außergewöhnliches und Bizarres zu sehen. Irritiert stellte er fest, dass er jetzt schon fast eine Stunde über den Markt flaniert war, ohne zu bemerken, wie die Zeit verging. Am Rand der Markthalle erblickte er einen Stand mit Schnaps und Likören und beäugte neugierig die Etiketten. Ein kasdanischer Whisky für Amjan? Warum eigentlich nicht ...

Er ließ sich von der Verkäuferin aus einigen Flaschen Proben in einen Becher schenken und kostete. Sein Verständnis für Whisky war bei Weitem nicht so ausgereift wie Amjans, aber dass die Tropfen besser waren als die billige Plörre aus Kalubs End, war nicht schwer zu bemerken. Er feilschte eine Weile mit der Händlerin und einigte sich am Schluss auf einen passablen Preis für zwei kleinere Flaschen, die er in seinen Rucksack stopfte. Jetzt nur noch ein Mitbringsel für Liska ...

Zufrieden probierte Leyo sich durch Dutzende Marktstände für Käse, Süßigkeiten und Brotsorten, bis er schon von den Häppchen pappsatt war. Am Ende erbarmte er sich dann doch, für Liska ein üppiges Stück Speck zu kaufen, obwohl ihm der Geruch den Magen umdrehte. Er ließ es in mehrere Lagen Papier einwickeln und stopfte es sogar in eine separate Tasche, fürchtete aber trotzdem, dass sein Rucksack noch wochenlang stinken würde. Was tat man nicht für die, die man liebte?

Leyo schielte auf die digitale Uhr über dem Marktplatz. Der Nachmittag ging langsam in den frühen Abend über, es wurde Zeit, sich auf den Weg zu machen. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er völlig vergessen hatte, in Kalubs End einkaufen zu gehen, ehe er aufgebrochen war. Mist. Was hatte Liska gesagt? Speck und Milch und ...? Ach, egal. Darum würde sich Amjan schon kümmern.

Nachdem Leyo den Markt und die angrenzenden Straßenzüge hinter sich gelassen hatte, wurden die Menschenmassen weniger. Die Straße führte durch ein ehemaliges Industriegebiet, das heute in weiten Teilen brach lag und verfiel. Nur einzelne Fabriken und Manufakturen hatten sich gehalten, darunter insbesondere jene, die Metallschrott verarbeiteten oder einschmolzen. Die Luft schmeckte nach Rohöl und Stahl und Leyo hatte das Gefühl, dass sich der Dreck direkt auf seine Lungen legte.

Apropos Lunge.

Er zog Tabak und Papier aus der Tasche, drehte sich eine Zigarette, steckte sie an und nahm einen tiefen Zug. Ja, das war viel besser. Nach etwa einer halben Stunde Fußmarsch kam der Raumhafen langsam in Sicht und der Lärm der landenden und startenden Maschinen wurde lauter. An einer geeigneten Stelle blieb Leyo stehen, rauchte eine weitere Zigarette und betrachtete das riesige Areal, das auf einem Plateau über der Stadt thronte.

Obwohl der Raumhafen einmal allen modernen Standards entsprochen hatte, wirkte er heute altmodisch. Die Tower, Docks und Lagerhäuser bestanden aus krudem Stahl und Beton, nicht aus hochglanzpoliertem Chrom oder Glas. Es gab keine architektonischen Feinheiten, keine verspielten Schleifen, raffinierten Brüche, Kuppeln oder Asymmetrien. Alles war schwerfällig, klotzig und heruntergekommen.

Er näherte sich dem Hafen über den westlichen Zugang, wo das Dock 111 lag. Die Westseite und die umliegenden Straßenzüge galten als billige Vergnügungsmeile. Herbergen, Bordelle, Spielcasinos und Kneipen reihten sich hier aneinander, ein Gebäude schäbiger als das andere. Der Boden war übersät von gebrauchten Kondomen, Scherben und Abfall, an jeder Ecke stank es nach Urin und Leyo hätte sich nicht gewundert, wenn durch eines der Kneipenfenster ein Stuhl oder gleich ein ganzer Raufbold auf die Straße geflogen wäre. Anspannung, Aggression und Misstrauen hingen hier wie Smog in der Luft.

»He, du da. Lust auf einen Kick?«

Leyo sah sich um. Die Person, die ihn angesprochen hatte, war klein und verhärmt, mit Augen, die tief in ihren Höhlen saßen, und langem, struppigem Haar, das in dünnen Strähnen vom Kopf hing. Der Blick war gehetzt und die Pupillen huschten hastig von rechts nach links, ohne Leyo zu taxieren. Die Gestalt lüpfte den Mantel und präsentierte darunter eine Sammlung kleiner Kunststoffröhrchen, alle mit Pulver in unterschiedlichen Farben gefüllt.

Leyo schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«

»Hab’ das beste Zeug hier. Wirklich. Großartiger Stoff. Für dich nur zehn Ruq das Röhrchen, Mann. Zehn Ruq. So billig kriegst du es nirgends.«

Leyo löste sich ruppig aus dem Griff. »Ich sagte, ich will deinen Scheiß nicht. Zieh Leine.«

Der Dealer presste die Kiefer aufeinander, starrte Leyo aus aufgerissenen Augen an und begann dann, ihn in vulgären Worten wüst zu beschimpfen. Leyo schüttelte nur den Kopf, drehte sich um und ging weiter.

Ein Glück, dass er in seiner Jugend die Finger von den Drogen gelassen hatte. Probiert, das ja, wer machte das nicht? Ein paar Pilze, ein paar Joints, der eine oder andere Farbkröten-Rausch, aber das synthetische Zeug hatte er nie angerührt. Besser so, sein Gehirn machte schon ohne Aufputschmittel nicht das, was es sollte. Von damals waren nur die Zigaretten hängen geblieben, und die waren ein erträgliches Laster. Selbst wenn sie ihn ein paar Jahre früher ins Grab schickten.

Er ließ die fluchende Gestalt stehen und marschierte weiter die staubige Straße hinunter. Sexarbeiter verschiedenen Geschlechts kokettierten mit ihm im Vorbeigehen, doch Leyo ignorierte sie, genau wie die Bettelnden am Straßenrand und die aggressiven Straßenverkäufer, die ihm gefälschte Uhren, falsche Papiere oder Ähnliches andrehen wollten.

Das Dock 111 lag direkt im Schatten der kahlen, mit Stacheldraht bekränzten Mauer, die den Raumhafen umspannte. Leyo war vor Jahren zum letzten Mal hier gewesen, doch augenscheinlich hatte sich nicht viel verändert. Den Eingang der Kneipe, die in einer schäbigen Wellblechhütte untergebracht war, schmückten verschiedene, vom Rost zerfressene Schrottteile und durch die schmalen Fenster konnte man kaum ins Innere sehen.

Eine kräftig gebaute Hiskare in Fliegerjacke mit Zigarillo im Mundwinkel lehnte neben der Tür und musterte Leyo eindringlich. Ihre ledrige Haut war von einem matten Grünblau, ihr Gesicht kantig mit einer hohen, haarlosen Stirn und sie war gut zwei Kopf größer als Leyo. An ihrer Jacke schimmerte auf einem Button der Name Pedra und dahinter ihre bevorzugten Pronomen: sie/ihr. Auf Ranun konnten sich nur wenige AR-Linsen oder ähnliche Spielereien leisten, zumal in der erweiterten Realität nur Informationen über offizielle Bürger der Föderation auftauchten. Die Buttons waren eine Kompromisslösung und verhinderten, dass Nicht-Registrierte ihren Status offenlegen mussten. Außerdem war die Netzverbindung auf Ranun sowieso ein Graus, selbst hier in Kasdan.

Leyo schenkte der Türsteherin ein charmantes Lächeln und griff nach dem Türknauf, doch Pedra hielt ihn mit einer Geste auf.

»Nicht so hastig.« Ihr Blick glitt prüfend über seine weite Lederjacke und dann die Hosenbeine hinunter.

Er grinste. »Du musst mich nicht so ansehen, du kannst mich auch einfach nach einem Date fragen.«

»Bist ein ganz witziger Vogel was? Jacke auf.«

Leyo zuckte mit den Schultern und zeigte ihr das Holster mit dem Revolver.

»Die bleibt schön draußen.«

»Und wenn ich mich damit sicherer fühle?«

»Dann bleibst du draußen. Einfache Regel.«

Leyo seufzte, zog den Revolver und reichte ihn Pedra mit dem Griff voran. »Da steht ’Wiedersehen macht Freude’ drauf.«

Sie verdrehte die Augen. »Ich werd’ dieses Stück Metallschrott schon nicht zu Geld machen, während du dich betrinkst.«

»Das hoffe ich. Da hängen Erinnerungen dran.«

»Willst du jetzt rein? Oder bist du nur hier, um mich vollquatschen?«

»Wenn du so charmant fragst ...« Er zog die Tür auf und hatte das Gefühl, sofort in einer Wolke aus Schweiß und billigem Schnaps zu versinken. Trotz des frühen Abends war die Kneipe schummrig und schlecht erleuchtet. Aus der Soundbox erklang eine quäkende Melodie, deren flotter Charakter kein bisschen zu den abgehalfterten Gestalten passte, die am Tresen und in den düsteren Ecken hocken und Leyo misstrauisch beäugten.

Er steuerte zielsicher auf die Bar zu und erklomm dort einen der Hocker. Das Sortiment vor ihm im Regal war nicht gerade hochwertig, aber immerhin gab es merasischen Gin.

Die Person hinter dem Tresen, ein Mensch mit einer auffälligen Tätowierung auf der linken, ausrasierten Schädelhälfte und neonfarbenem Make-up, musterte Leyo aufmerksam. Auf der Jacke erkannte Leyo ein Schild mit dem Namen Dijen und der Vermerk »keine Pronomen«.

»Was darf’s sein?«

Leyo zögerte mit seiner Antwort. »Mach mir einen Roten Korsaren. Weißt du, wie das geht?«

»Nein, keine Ahnung.«

»Du nimmst drei Fingerbreit Gin, einen Spritzer Zitrone, eine gute Prise Chili und füllst den Rest mit Tomatensaft auf. Selleriesalz passt noch gut dazu, falls du das hast.«

Dijen verzog angewidert das Gesicht. »Okay ... Bist du sicher, dass du das trinken willst?«

»Absolut.«

»Wie du meinst. Macht«, Dijen überschlug kurz im Kopf, »fünf Ruq.«

Wucherpreise, dachte Leyo, kramte aber anstandslos die Münzen zusammen. Über den Tresen beobachtete er Dijen bei der Zubereitung und war mit der Ausführung sehr zufrieden. Es gab sogar Eiswürfel, was für ein Luxus.

Genüsslich nippte Leyo am Getränk und sah sich in der Kneipe um. Viel war nicht los, er erinnerte sich an Zeiten, in denen das Dock aus allen Nähten geplatzt war. Auch das Schmuggeln war kein allzu ertragreiches Geschäft mehr, wenn man nicht für die großen Nummern arbeiten wollte. Und deren Leute verkehrten nicht in solchen Löchern.

Apropos Geschäft.

Er winkte Dijen heran und neigte sich über den Tresen. »Du könntest mir noch einen kleinen Gefallen tun.«

»So?«

»Jap. Ich hätte gerne einen doppelten Porta auf Eis.«

Dijen musterte ihn eine Weile, dann folgte ein knappes Nicken. Statt einen Drink einzuschenken, zog Dijen einen Umschlag unter dem Tresen hervor, sah sich kurz um und schob ihn Leyo unauffällig zu. »Haben wir nicht. Sonst noch was?«

»Nein, danke.« Leyo lächelte unverbindlich, öffnete auf seinem Schoß den Umschlag und warf einen Blick auf den Zettel.

Morgen, 05.54, Dock 7.2. bei Nec (sie/ihr). Pünktlich.

Leyo verdrehte die Augen. Wie es diese Leute immer schafften, wie seine Mutter zu klingen.

05.54 Normzeit entsprach etwa 11.30 h in der Zeitrechnung auf Ranun. Gut, damit hatte er noch Zeit, um den Abend entspannt anzugehen und sich ein billiges Zimmer zu organisieren, vielleicht sogar ein wenig Gesellschaft. Licas Schuppen würde er meiden, aber es gab andere schöne Etablissements in Kasdan. Oder es hatte sie zumindest gegeben.

Gedankenversunken schob er den Zettel ins Innere seiner Jacke, nahm den Umschlag und faltete ihn ein paar Mal, um seine Finger zu beschäftigen. Vielleicht konnte er morgen, vor Abflug, noch die nötigen Besorgungen erledigen, sofern ihm wieder einfiel, was das gewesen war. Warum dachte er an so was nicht vorher, verdammt? Er hätte sich einen Zettel schreiben könnten oder ...

»Leyo?«

Überrascht wandte er den Kopf. Eine Person in Lederkluft stand neben ihm, die schwarzen Locs im Nacken zusammengebunden und mehrere Piercings in der Lippe und den Augenbrauen. Einen Moment lang musterte Leyo den Gast verständnislos. Das schmal geschnittene Gesicht mit der goldbraunen Haut und dem dunklen Bartschatten kam ihm vage bekannt vor, er brauchte aber einen Augenblick, bis er begriff, wen er vor sich hatte. Schlagartig hellte sich seine Miene auf. »Marlo? Ich fass’ es nicht!« Er ließ sich vom Hocker sinken und zog den Mann in seine Arme. »Verdammt, du siehst gut aus. Der Bart steht dir.«

»Danke.« Er lächelte verhalten. »Dir auch.«

Leyo konnte nicht aufhören zu strahlen. Marlo war eine dieser Bekanntschaften, die er gerne wiedergesehen hätte, und jetzt stand er nach fast zwanzig Jahren einfach vor ihm. Es erfüllte ihn mit mehr Freude, als er erwartet hatte.

Er deutete auf den Stuhl neben sich. »Hast du gerade Zeit? Willst du dich setzen?«

»Gerne.« Marlo zog sich auf den Hocker und bestellte an der Bar ein Ingwerbier. »Ich wusste gar nicht, dass du noch hier bist. Ich dachte, du hättest diesen Drecksplaneten endlich hinter dir gelassen.«

»Schön wär’s.« Leyo lachte. »Nein, ich bin nur dahin gezogen, wo es noch elender zugeht als hier. Raus aufs Land.«

»Oh.« Marlo hob die Augenbrauen. »Wieso tut man so was?«

Leyo seufzte dramatisch. »Aus Liebe. Einen anderen vernünftigen Grund gibt es vermutlich nicht. Und du? Bist du noch im Sexgeschäft?«

Marlo schüttelte den Kopf. »Nicht mehr. Ich hab’ noch ein, zwei Jahre bei Lica gearbeitet, nachdem du weg warst, aber dann hab’ ich hingeschmissen und mich als Escort selbständig gemacht. Ich hab’ den Scheiß einfach nicht mehr ausgehalten.«

»Kann ich mir vorstellen«, bekräftigte Leyo. Lica, die Besitzerin des Bordells, in dem Marlo und Leyos Mutter gearbeitet hatten, hatte Marlo das Leben schon damals zur Hölle gemacht. Ihr Stammpublikum hatte zu neunzig Prozent aus Heteromännern bestanden und sie hatte Marlo ständig unter Druck gesetzt, seine Transition aufzugeben. Angeblich, weil er sonst die Freier vergraule. »Lica war ein Miststück. Gibt es das Bordell noch?«

»Ja, aber Lica hat sich zur Ruhe gesetzt, ich glaube, ihre Nichte hat den Laden übernommen. Das ist sicher schon zehn Jahre her.« Er nahm einen Schluck von seinem Ingwerbier und sah Leyo neugierig an. »Und wo hast du dich in der Zeit rumgetrieben? Ich hab’ immer gehofft, du würdest dich mal wieder melden.«

Leyo seufzte und senkte beschämt den Blick. »Ich weiß, ich hatte es auch vor, nur ... Keine Ahnung. War eine wilde Zeit.« Er rieb sich nervös die Finger. Nachdem er den Dienst bei ALIS quittiert hatte, waren der Raumhafen von Kasdan und die schmierigen Bars ringsum sein zweites Zuhause geworden, und trotzdem hatte er sich nie die Mühe gemacht, nach Marlo zu suchen. Das mochte sicher mit seinem ADHS zusammenhängen, das ihm strukturiertes Vorgehen immens erschwerte, aber damit rausreden konnte er sich nicht. Damals hatte er sich nämlich Hals über Kopf in Arifa verliebt, sie hatten wild feiernd die Clubs von Kasdan unsicher gemacht und Leyo hatte alles versucht, um seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Selbst Menschen wie Marlo, was zweifellos nicht fair gewesen war. Nun ja, was passiert war, war passiert.

Hastig wechselte er das Thema: »Und was machst du heute, wenn du nicht mehr im Sexgeschäft bist?«

Marlo zuckte mit den Schultern. »Ich arbeite als Security und Laufbursche, könnte man sagen.«

»Inwiefern?«

»Na ja, ich höre zu, bringe Sachen von A nach B, schiebe Leuten Geldscheine zu, bewache Übergaben – so was eben.«

Leyo legte die Stirn in Falten und senkte die Stimme. »Colay?«

Marlo nickte. »Hab’ ihm einiges zu verdanken. Er hat mir gleich in der Anfangszeit eine größere Summe vorgestreckt, damit ich mir die Brustentfernung leisten konnte, und im Gegensatz zu Lica musste ich mir bei ihm nie blöde Sprüche deswegen anhören.«

Leyo nippte schweigend an seinem Drink. Er hatte eine Weile als Schmuggler und Lieferant für Colay gearbeitet, war dann aber ausgestiegen, ehe er sich zu tief in dessen Machenschaften verstrickt hatte. Zu schmuggeln war eine Sache, für einen der mächtigsten Verbrecherbosse der Galaxis zu arbeiten eine ganz andere.

Leyo hatte nie ein Problem mit Colay gehabt, im Gegenteil, der Mann hatte pünktlich gezahlt, sich stets zuvorkommend benommen und ihm Schwierigkeiten vom Hals geschafft. Trotzdem behielt Leyo gerne seine Unabhängigkeit, und in Colays Diensten wäre ihm das nie vergönnt gewesen.

»Das heißt«, sagte er schließlich, »du bist geschäftlich hier?«

Marlo zog einen imaginären Reißverschluss über seine Lippen. »Ich schweige wie ein Grab.«

»Schon verstanden.« Leyo grinste. »Keine weiteren Fragen.«

Marlo nahm einen Schluck von seinem Ingwerbier und musterte Leyo neugierig. »Was ist mit dir? Was hast du die Jahre über so getrieben?«

»Ach«, Leyo winkte ab, »dies und das. Bei ALIS haben sie mich nach kürzester Zeit rausgeworfen und –«

»Was du nicht sagst.«

Leyo verdrehte die Augen. »Du brauchst gar nicht so selbstgefällig grinsen. Ja, ich weiß, du hattest das prophezeit. Es war trotzdem nicht schlecht, bin eine Weile Transporter geflogen und hab mich dann ... na ja ... selbständig gemacht. In- und Export. Du weißt schon.«

»Schmuggel.«

»Das ist so ein hartes Wort.«

»Schon klar.« Marlo grinste. »Bist du noch im Geschäft?«

»Nicht wirklich, meiner Familie zuliebe. Aber eine Sache muss ich noch durchziehen, deswegen bin ich hier.«

»Oh.« Marlo wirkte ertappt. »Dann verschrecke ich hoffentlich nicht gerade deine Kundschaft?«

»Nein, nein, ich habe, was ich brauche. Ist schön, mit dir zu reden, ehrlich. Vorhin hab’ ich noch drüber nachgedacht, was wohl aus den ganzen Bekanntschaften von früher geworden ist.«

»Geht mir genauso.« Marlo lachte. »Ich hätte im Leben nicht drauf gewettet, dass du jetzt Familienmensch bist.«

»Ich auch nicht«, gestand Leyo. »Aber erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt.«

»Kannst du laut sagen. Ich ...« Er unterbrach sich, als die Tür aufging und zwei Gestalten die Kneipe betraten. Beide trugen abgewetzte Fliegerjacken, schwere Stiefel, Kleider in Camouflage-Farben und ein Abzeichen auf der Brust. Mercs, offensichtlich, Söldnerpack. Als sie Marlo am Tresen entdeckten, blieben sie wie angewurzelt stehen.

»Deine Kundschaft?«, fragte Leyo.

»Sieht so aus.« Marlo wechselte einen unauffälligen Blick mit zwei Personen, die scheinbar unbeteiligt an einem Tisch in der Ecke saßen, und stand auf. »Du entschuldigst mich kurz?«

Leyo nickte, griff nach seinem Drink und beobachtete die Szenerie. Unter Marlos Jacke zeichneten sich die Umrisse einer Waffe ab, was Leyo wenig überraschte. Für Colays Leute galten andere Regeln als für den Rest des Planeten – auch hier im Dock 111. Er hätte gewettet, dass Marlos Begleitung ebenfalls bewaffnet war.

Die beiden Mercs nahmen sofort eine abwehrende Haltung an, als Marlo auf sie zutrat. Sie wechselten einige Worte, die Leyo durch das Quäken der Soundbox nicht verstand. Marlo deutete auf einen der Tische, seine Mimik war ruhig und höflich, seine Körperhaltung hingegen angespannt. Die Abneigung seiner Gesprächspartner war wesentlich deutlicher. Die linke Person mit kurzgeschorenem platinblondem Haar hatte die Arme verschränkt, die rechte mit dem dichten Vollbart straffte die Schultern und schob demonstrativ zwei Finger in den Gürtel, ganz so, als müssten sie vor Marlo Stärke beweisen.

Dumme Idee, dachte Leyo. Richtig dumme Idee. Provoziert ihn nicht. Das geht nicht gut aus.

Offenbar weigerten sich Vollbart und Platin, Marlos Aufforderung Folge zu leisten, und blieben mitten im Raum stehen. Leyo spitzte die Ohren. Das Wort »Geld« war gefallen, außerdem die Worte »Ultimatum« und »letzte Chance«.

Alle Blicke in der Bar waren auf das Trio gerichtet. Die Luft schien zum Schneiden dick.

Wäre das Rubhas Schuppen, dachte Leyo, hätte ich jetzt die Hand an der Schrotflinte.

»Ich sagte, verpiss dich«, knurrte Vollbart und versetzte Marlo einen Stoß gegen die Brust. »Wir zahlen nicht. Soll dein Boss doch selber kommen, wenn er uns was zu sagen hat.«

Marlo strich demonstrativ seine Jacke glatt. »Glaubt mir, ihr wollt meinem Boss nicht persönlich begegnen, denn der macht kurzen Prozess mit Leuten, die denken, sie könnten ihn übers Ohr hauen.«

»Quatsch du nur, du Großmaul«, höhnte Platin. »Du kannst uns gar nichts. Wir zahlen nicht und fertig. Jetzt geh aus dem Weg.«

Ein mitleidiger Ausdruck stahl sich auf Marlos Gesicht und er schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie ihr meint.« Ein Fingerschnippen genügte, seine Schatten am Nebentisch standen auf und zogen ihre Waffen. Beide wirkten drahtig und gut trainiert, trotz ihrer unauffälligen Erscheinung.

»Das würde ich mir gut überlegen.« Eine weitere Person erhob sich von ihrem Platz. Sie trug einen abgewetzten braunen Ledermantel, ihr Kopf war kahlgeschoren und am Hals wurde eine auffällige Narbe sichtbar. »Damit du’s weißt, Arschloch, ich bin die Boss dieses Haufens und ich brenne dir ein Loch in den Kopf, wenn du nicht sofort dein dummes Maul hältst.«

Im schummrigen Licht der Bar blitzte etwas in ihrer Hand auf – eine Halbautomatische. Der Lauf war direkt auf Marlo gerichtet. Leyo leerte seinen Drink. Das konnte ja heiter werden.

Marlo warf seiner Begleitung einen unschlüssigen Blick zu, dann nickte er und sie blieben, wo sie waren, die Waffen nach wie vor auf die Mercs gerichtet. An die Boss gewandt sagte er: »Sie machen einen großen Fehler.«

»Wohl kaum. Je mehr von Colays Leuten in ihrem eigenen Blut am Boden liegen, desto besser. Deswegen wirst du mir jetzt sehr genau zuhören, Bürschchen. Du nimmst die Hände hoch und deine beiden Süßen da hinten legen schön ihre Waffen auf den Boden.«

»Und dann?«

»Dann werden wir uns von hier verpissen und dein Boss geht uns nicht mehr auf die Nerven. Verstanden?«

Leyo sog scharf die Luft ein. Der rote Punkt an Marlos Schläfe machte ihn nervös. Er würde garantiert nicht zusehen, wie dem Mann, für den er einmal sehr viel empfunden hatte, der Kopf weggeschossen wurde. Verdammt, warum hatte er seine Waffe abgeben müssen?

Marlo erwiderte gefasst den Blick der Anführerin. »Ich fürchte, das ist keine Option, ich habe klare Anweisungen. Und wenn Sie glauben, mein Tod würde Ihnen irgendetwas nützen, dann irren Sie sich gewaltig.«

»So?« Sie stieß ein hysterisches Lachen aus. »Darauf lasse ich es ankommen. Runter mit den Waffen. Jetzt.«

Leyo kletterte langsam von seinem Barhocker. Er war nur knapp zwei Meter von der Söldnerin entfernt, Marlos Begleiterinnen hingegen mussten erst an einem Tisch vorbei, um sie anzugreifen. Wenn es zum Schusswechsel kam, sah es für Marlo düster aus.

»Ich zähle bis drei.« Die Pistole in der Hand der Boss zitterte. »Wenn deine Leute bis dahin nicht ihre beschissenen Waffen auf den Boden gelegt haben, bist du ein toter Mann. Eins ...«

Leyo machte einen Schritt vorwärts. Gerade so, dass es nicht auffiel.

»Zwei.«

Marlo griff in seine Jacke und legte die Pistole zu Boden. »Schon gut. Lassen Sie uns das friedlich regeln.« Auf sein Zeichen ließen seine Schatten ihre Waffen ebenfalls fallen.

Leyo trat noch einen Schritt auf die Fremde zu, über deren Gesicht ein gehässiges Grinsen huschte.

Sie wird schießen, dachte Leyo alarmiert. Ohne lange nachzudenken, ergriff er seinen Barhocker mit beiden Händen. »Runter!«

Der Aufschrei verfehlte seine Wirkung nicht. Die Merc war für einen Sekundenbruchteil abgelenkt und Leyos Barhocker traf sein Ziel. Er riss die Frau von den Füßen und sie geriet ins Taumeln.

Aus ihrer Knarre löste sich ein Schuss, doch die Kugel verfehlte Marlo um ein gutes Stück. Der ging in Deckung, seine Schatten griffen ihrerseits nach den Waffen.

Leyo warf den Barhocker weg und stieg der Merc, die bäuchlings am Boden lag, mit voller Kraft aufs Handgelenk. Es knackte. Ein letzter Schuss, der sich in die Deckenbalken brannte, dann ließ sie die Pistole los. Leyo kickte sie aus ihrer Reichweite, doch bevor er sie selbst zu fassen bekam, rammte ihn jemand von der Seite.

Leyo stürzte auf den Rücken und keuchte auf, ehe ihn der massige Körper des Vollbarts unter sich begrub.

Er schlug zu, doch sein Gegner war schneller. Seine Faust traf Leyo mitten im Gesicht, Blut schoss ihm aus der Nase, er bekam keine Luft mehr. Ein zweiter Schlag erwischte ihn am Ohr, bis es in seinem Kopf klingelte. Vage nahm Leyo wahr, dass sich neben ihm jemand bewegte. Die kahlköpfige Söldnerin. Verdammt, sie durfte nicht an ihre Waffe kommen!

Leyo schielte nach links. Dort lag die Pistole. Er zögerte nur einen Augenblick, dann bohrte er die Finger in Vollbarts Augen. Der brüllte auf, schützte sich mit den Händen und gab Leyo die Gelegenheit, sich zur Seite zu rollen. Kurz balgten sie sich auf dem Boden, Leyo bekam eine Flasche zu fassen und drosch sie seinem Gegner über den Kopf. Stöhnend brach er zusammen und Leyo fuhr herum. Die Pistole war noch da. Er hechtete nach vorne, die Frau ebenso. Verdammt, sie war zu schnell! Die Finger ihrer gesunden Hand schlossen sich um den Griff, sie riss die Waffe herum, richtete sie auf Leyo und drückte ab.

Im selben Moment zerfetzten drei Kugeln ihren Brustkorb. Blutend brach sie am Boden zusammen und blieb reglos liegen. Leyo wagte erst jetzt, auszuatmen und sich vorsichtig aufzurappeln.

»Leyo!« Marlo stolperte auf ihn zu und fiel neben ihm auf die Knie. »Scheiße, die hat dich erwischt.«

»Nein, schon gut«, brummte Leyo und wischte sich zitternd das Blut aus dem Gesicht. »War nur meine Nase.«

»Ich meinte das da!«

Leyo runzelte die Stirn und starrte auf seinen Arm. Zunächst sah er nur ein Loch in seiner Jacke, anschließend das Blut, das daraus hervor sickerte. Dann kam der Schmerz. Spät, aber gewaltig. Und Leyo wurde schwarz vor Augen.