Kapitel 15

Die fünfte Folge der belanglosen Superhelden-Serie flimmerte über den Bildschirm, doch Erim ignorierte sie weiterhin. Sie hatte am Ende der zweiten Folge den Faden verloren und ließ die Serie nur weiterlaufen, damit die Wohnung nicht so unangenehm still war.

Abwechselnd starrte sie auf das AR-Display ihrer Linse, dann auf die Uhr. Halb zwei. Sie kam nicht. Mit zitternden Fingern aktivierte Erim Trishs Kontakt und ihr Hologramm zeichnete sich vor Erim in der Luft ab.

Hey, hier ist Trish. Ich geh nicht dran. Pech gehabt. Hinterlass’ mir eine Nachricht.

»Trish, bitte«, flehte sie zum mittlerweile zehnten Mal. »Bitte, ruf mich an. Es ist mitten in der Nacht. Ich will wissen, wo du bist. Ich mach mir Sorgen. Bitte, melde dich.«

Erim legte auf und starrte auf die Linse. Eine Minute. Zwei. Nichts. Verdammter Dreck! Noch gut vier Stunden, dann ging ihr Schiff nach Irah, sie hatte nicht geschlafen, dafür eine Weile geheult, und fühlte sich so elend, wie sie vermutlich aussah. Großartige Voraussetzungen.

Angespannt scrollte sie durch die Einträge in ihrem Deck und blieb – wie jedes Mal – bei der Nummer ihrer Eltern hängen. Vielleicht war Trish dort. Vielleicht hatte sie erkannt, dass Weglaufen nichts nützte, und war nachhause geflogen. Aber wenn nicht ... Außerdem hatte sie die Sprachnachricht ihrer Mutter immer noch nicht abgehört, aus gutem Grund. Vorwürfe und Beschimpfungen waren gerade das Letzte, das sie brauchen konnte. Vermutlich würde sie dann endgültig zusammenbrechen.

Sie scrollte weiter. Raqan. Nein, ganz sicher nicht, auch, wenn sie seine Stimme gerne gehört hätte. Vermutlich flog er gerade durchs All auf dem Weg zurück nach Kintor und war über gewöhnliche Netzverbindungen ohnehin nicht erreichbar.

Weiter. Ria. Erim seufzte. Die würde ihr bestimmt zuhören, auch mitten in der Nacht, aber Erim brachte es nicht fertig, ihre Nummer zu wählen. Mit zwei kleinen Töchtern und einer Ehefrau, die als Ärztin im Schichtdienst arbeitete, konnte Erim ihr nicht zumuten, rund um die Uhr für ihre persönlichen Nöte verfügbar zu sein. Darüber hinaus blieben allerdings nicht viele Leute übrig. Einige lose Bekanntschaften, doch niemand, den sie in einer solchen Situation hätte um Rat fragen können.

Sollte sie einfach ihre Personenschützer und die Sicherheitszentrale informieren? Nein, dann konnte sie Trishs Vertrauen ein für alle Mal vergessen. Ihre Schwester würde sie dafür hassen, bis an ihr Lebensende. Wenn sie ihre Eltern anrief ebenso. Andererseits, falls Trish wirklich in Gefahr wäre, sollte sie das Risiko dann nicht in Kauf nehmen?

Träge trottete Erim zum Kühlschrank, öffnete das Gefrierfach und nahm sich eine weitere Portion Eis. Da ging sie hin, ihre Diät. Und wenn schon. Harte Zeiten erforderten harte Maßnahmen.

Wieder starrte sie bei der Rückkehr zum Sofa auf ihre Linse. Nichts. Natürlich nicht.

Verdammt, Trish, wo bist du?

Sollte sie noch einmal anrufen? Noch eine Nachricht hinterlassen? Wozu? Trish wollte offenbar nicht mit ihr reden. Oder ... konnte nicht? Die Sorge zog Erims Herz so fest zusammen, dass es weh tat. Nein, Trish war nichts zugestoßen, daran durfte sie gar nicht denken. Gleichzeitig fluteten zahllose Bilder ihren Kopf. Von einem fremden Mann, der Trish nachts auf der Straße folgte. Von einer Bande abgerissener Halbstarker, die sie umringten und bedrohten. Von einem leblosen Körper, der an den Strand gespült wurde.

Nein! Erim ballte die Hand zur Faust, bis sich ihre Fingernägel ins Fleisch gruben. Das war nicht passiert. Das durfte einfach nicht passiert sein. Sicher schlief Trish irgendwo, wo es trocken war. Sie war clever, eine Überlebenskünstlerin, nicht so tapsig und luxusbedürftig wie Erim, für die sich eine Nacht im Freien wie ein Horrorfilm anhörte.

Sie löffelte weiter ihr Schokoladeneis und starrte auf den Fernseher, ohne wirklich etwas davon zu sehen oder wahrzunehmen. Immer wieder aktivierte sie die Linse, obwohl sie wusste, dass die Signaltöne eingeschaltet und lautgedreht waren. Wenn Trish sich meldete, würde sie es sofort mitbekommen. Trotzdem konnte sie nicht aufhören, alle zwei Minuten sämtliche Kanäle zu checken, in der Hoffnung, dass endlich etwas gekommen war. Nichts. Selbst ihre Nachrichten an Trish waren immer noch ungelesen.

Da hast du es, dachte Erim. Sie will nicht. Es geht ihr gut. Lass sie in Ruhe.

Eine Weile gelang es ihr, sich von der Serie ablenken zu lassen, doch schon nach fünfzehn Minuten verspürte sie den Drang, Trish erneut anzurufen. Eigentlich sollte sie ins Bett gehen, wenigstens noch ein paar Stunden schlafen, aber das war utopisch. Sie würde nicht zur Ruhe kommen.

Die Uhr tickte weiter. Fast zwei. Sollte sie doch die Sicherheitszentrale anrufen? Oder ihre Eltern? War sie hysterisch, tat sie Trish unrecht, ihr zu unterstellen, nicht auf sich selbst aufpassen zu können? Sie hatte bestimmt Freunde, bei denen sie unterkommen konnte. Aber lebten die hier, in Rekama? Verdammt, sie wusste einfach gar nichts von ihrer kleinen Schwester. Wie erbärmlich.

Erim stand auf, drehte eine Runde durchs Zimmer. Sie könnte einen Spaziergang machen, vielleicht würde frische Luft helfen. Besser als hier herumzusitzen allemal.

Sie schaltete die Linse aus und machte sich gerade auf den Weg zur Garderobe, um ihren Mantel zu holen, da ertönte eine vertraute Tonfolge in ihrem Ohr. Ihr Klingelton! Erim blinzelte hektisch, so schnell, dass sie die Linse erst einschaltete und sofort wieder deaktivierte.

Scheiße.

Endlich flammte das Display auf. Trish. Es war tatsächlich Trish. Am liebsten hätte Erim vor Erleichterung geweint. Sie nahm das Gespräch an. »Trish? Trish, geht es dir gut?«

Nichts. Am anderen Ende vernahm Erim Stimmen, gedämpfte Musik und kakophone elektronische Sounds. Sonst nichts, auch kein holografisches Bild.

»Trish? Trish, hörst du mich?«

»Erim.« Trishs Stimme klang erstickt. »Ich hab’ ... kannst du ... ich ...« Sie lallte so heftig, dass Erim kaum ein Wort verstand.

Erim zwang sich zur Ruhe, obwohl sie ihre Schwester am liebsten angeschrien hätte vor Verzweiflung. »Wo bist du?«, fragte sie. »Bist du okay?«

»Hm«, brummte Trish. »Ja. Nein. Weiß nicht.« Ihre Stimme brach. »Kannst du mich holen, Erim? Bitte ...«

»Klar. Ich komme sofort. Wo bist du?«

»Weiß nicht. So eine Bar ... Marnie’s. Weiß nicht genau, wo.«

»Bist du noch in Rekama?«

»Weiß nicht«, wimmerte Trish. Verzweiflung schwang in ihrer Stimme. »Ich hab’ ... ich war ... kann mich nicht erinnern.«

Erims Brustkorb zog sich in Sorge zusammen. »Schon gut«, erwiderte sie mühsam. »Ich finde dich, kein Problem. Kannst du deinen Standort übertragen?«

»Hm«, brummte Trish. »Okay.«

Es dauerte einen Moment, dann gingen auf Erims Linse die Standortdaten ein, die sie mit der Navigationsapp öffnete. Gute Güte, Trish war tatsächlich nicht mehr in Rekama, sondern in Tankam, der nächsten größeren Stadt im Inneren des Kontinents. Selbst mit einem Shuttle war Erim sicher zwei Stunden unterwegs. Sie starrte auf die Uhr. Das würde verdammt knapp werden ... Aber gut. Ihr Schiff nach Irah würde nicht ohne sie ablegen, auch wenn sie sich verspätete.

»Alles klar«, sagte sie zu Trish und holte tief Luft. »Bleib da, wo du bist, ja? Bei dieser Bar. Ich komme dich abholen. Es dauert aber ein bisschen, hältst du so lange durch?«

Trish schluckte hörbar. »Klar. Kein Thema.«

»Gut. Ich bin gleich da. Bis dann.« Zitternd beendete Erim den Anruf, schnappte sich ihre Jacke und wählte per Sprachbefehl die Nummer des Shuttleservice’. Sie durfte keine Zeit verlieren. Einen Moment dachte sie darüber nach, den Sicherheitsdienst zu informieren, um sie zu begleiten, doch sie verwarf den Gedanken. Das hier war privat, und sie hatte keine Lust, morgen in den Zeitungen oder den sozialen Medien davon zu lesen. Sie würde das allein hinkriegen.

*

Tankam war eine typische Industrievorstadt. Wo Rekama überwiegend gepflegt und modern aussah, war Tankam ein finsterer Moloch. Rauchende Schlote reihten sich aneinander. Signalleuchten und Landehinweise der Raumhafen für Transporter und Lieferschiffe blinkten in grellem Rot, Smog hing in den Straßen und die Wohngebiete bestanden aus großen, klotzigen Mietsilos, in denen die Leute billig auf engstem Raum lebten.

Das Shuttle landete an einer Station in der Nähe der Werft und Erim programmierte die automatisierte Steuerung so, dass das Shuttle auf sie und Trish warten würde. Ein Husten schüttelte sie, als sich die Glaskuppel öffnete. Der Gestank nach Schwefel, Öl und verbranntem Treibstoff biss ihr in der Nase und fraß sich in ihre Lungen. Was für eine widerliche Gegend!

Vorsichtig stieg sie aus und bereute augenblicklich, ihren kleinen, handlichen Taser zuhause gelassen zu haben. Gerade hätte sie sich mit einer Waffe bei der Hand wesentlich sicherer gefühlt.

Du musstest ja allein hierher kommen, dachte sie verärgert. Selbst schuld.

Langsam schritt sie die leere Straße hinunter. Kaum eine Menschenseele war zu sehen, nur aus einigen Kneipen und Bars drangen Stimmen.

Erim prüfte auf ihrer digitalen Karte den Weg. Hier war sie richtig. Verdammt, wie war Trish überhaupt hierher gekommen?

Sie bog um eine Ecke und wäre beinahe in eine Gruppe hineingelaufen, die dort am Boden hockte und Bier trank. Sie alle wirkten merklich angeheitert.

»He, pass auf, wo du hinläufst«, knurrte einer und reckte seine Dose in Erims Richtung. »Suchst du Ärger oder was?«

»Nein«, erwiderte Erim ruhig. »Ich suche Marnie’s. Wisst ihr, wo das ist?«

»Das ist nichts für dich, Schnecke«, höhnte eine andere. »Geh zurück in deine Schickimicki-Bude.«

Erim gemahnte sich zur Ruhe. Wenigstens erkannte sie niemand wieder, so blieb ihr Inkognito gewahrt. Wie würde das aussehen – die Umweltministerin mitten in der Nacht irgendwo in einer schäbigen Kneipe von Tankam. »Wollt ihr mir jetzt sagen, wo die Bar ist, oder nicht?«

Eine der Halbstarken grinste. »Was springt für uns dabei raus?«

Erim zögerte. Wenn sie jetzt ihre Brieftasche zückte, konnte sie sicher sein, dass sie die nie wieder sehen würde. Das Risiko wollte sie nicht eingehen. »Schon gut, ich finde es allein.«

»Immer mit der Ruhe, Lady.« Der Wortführer von zuvor trat Erim in den Weg. Er war groß und schlaksig, in schäbiges Leder gekleidet mit einer auffälligen Narbe an der Hand. »Hast du nicht was Schönes für uns in deinem Täschchen, hm?«

»Nein«, konterte Erim und wollte der Gruppe ausweichen, doch ihr Gegenüber war schneller.

Er packte Erim brutal am Arm. »Nicht so eilig. Los, schnapp dir die Tasche.«

Erim fluchte. Sie zerrte an ihrer Tasche, hielt sie fest, doch am Ende gab sie frustriert auf. Zwei Punks durchwühlten ihre Habseligkeiten und zogen zufrieden ihre Brieftasche heraus.

»Siehst du?« Der Wortführer, der Erim festhielt, grinste. »Gar nicht so schwer, was? Und jetzt verpiss dich.«

»Ihr könnt das Geld haben«, flehte Erim, »aber meine Dokumente, die –«

»Ich sagte, verpiss dich.« Er versetzte Erim einen Stoß, sodass sie fast gestürzt wäre, und baute sich vor ihr auf. »Los, hau ab.«

Hastig nahm Erim die Beine in die Hand, kochend vor unterdrückter Wut. Sie hatte nicht allzu viel Bargeld bei sich gehabt, aber all die Chipkarten sperren und neu beantragen zu lassen würde einen riesigen Aufwand bedeuten. Und das, obwohl diese Gauner keinerlei Mehrwert davon hatten. Ihre Wohnung war mit einem Retina-Scan gesichert, nur Erim konnte sie betreten, und die anderen Karten waren an ihren Fingerabdruck gekoppelt. Wenigstens hatten sie ihre AR-Linse nicht bemerkt. Sie zwinkerte zweimal, um sie zu aktivieren, und rief Trish an. Es klingelte. Einmal. Zweimal. Dreimal.

Geh ran, flehte Erim, bitte ...

»Erim?«

Sie atmete erleichtert auf. »Ja, ich bin’s, ich bin in ein paar Minuten da. Kannst du mir entgegenkommen? Richtung Werft?«

»Hm«, nuschelte Trish. »Ich ... weiß nicht ... kann ... versuchen.«

Erim fluchte innerlich. »Dann bleib, wo du bist. Ich komme sofort.«

Ein paar Biegungen später zeigte ihr das AR-Display an, dass sie ihr Ziel fast erreicht hatte. Vor ihr erkannte sie das Neonschild des Marnie’s, das sie nur mit Not lesen konnte, weil das »a« hysterisch blinkte. Sie sah sich um. Ein paar kaputte Gestalten, laute Musik, das Klappern von Spielautomaten. Und in einer dunklen Nische etwas abseits ...

»Trish!« Erim rannte auf sie zu und sank vor ihr zu Boden. Trish sah erbärmlich aus. Die dunkle Schminke um ihre Augen war verlaufen und zog sich über ihre sommersprossigen Wangen, Rotz lief ihr aus der Nase und ihr fehlte ein Schuh. Sie wimmerte leise und ließ sich wie ein nasser Sack nach vorne in Erims Arme fallen.

»Was ist passiert?«, flüsterte Erim, während sie ihre Schwester auffing und behutsam auf die Beine zog. Trish konnte kaum stehen, ihre Knie schienen weich wie Sand und sie taumelte. Ihre Finger krallten sich in Erims Schulter.

»Nichts«, nuschelte Trish. »Hab’ ... war ... egal. Ich will schlafen.«

»Sieh mich an.« Erim nahm Trishs Gesicht zwischen die Hände. Ihre Pupillen waren so riesig, dass sie beinahe die ganze Iris verschluckten. Sie musste irgendetwas genommen haben, und so, wie sie zitterte, wirkte es entweder noch oder hörte gerade damit auf. »Was hast du eingeworfen?«

Trish gab ein widerwilliges Brummen von sich. »Nichts. Paar Pillen. Sonst gar nichts. Geht schon.«

»Paar Pillen?«, ächzte Erim. »Wie viel? Wovon?«

»Ist doch egal.«

»Nein, Trish, ist es nicht. Ich will wissen, ob ich dich ins Krankenhaus bringen muss.«

Trishs Gesichtszüge entgleisten. »Nein!« Ihre Fingernägel gruben sich in Erims Arm. »Nein, bitte, nicht ins Krankenhaus! Das darfst du nicht.«

»Wie bitte?« Erim spürte Zorn in sich aufsteigen. »Weißt du eigentlich, wie du aussiehst? Was ich mir für beschissene –?«

»Schhhht!«, zischte Trish. »Mach keine Szene, okay?« Ihre Stimme nahm wieder einen weinerlichen, quengligen Ton an. »Bring mich heim, Erim. Bitte. Bitte, ich will heim.«

»Heim wohin? Zu unseren Eltern?«

»Nein!« Sie schüttelte hektisch den Kopf. »Zu dir.«

Erim seufzte, legte den Arm um Trish und komplimentierte sie ein Stück von der schmierigen Kneipe weg. »Trish, ich kann dich nicht zu mir nachhause bringen. Ich muss in zwei Stunden mein Schiff nach Irah kriegen und bin dann für einige Tage unterwegs.«

»Macht nix«, nuschelte Trish. Sie taumelte so sehr, dass sie schon beim Versuch, über eine am Boden liegende Dose zu steigen, fast gestürzt wäre. »Ich komm klar.«

»Das sehe ich anders. Du bist einfach abgehauen, verdammt! Dir hätte hier sonst was passieren können! Wo ist überhaupt dein Zeug?«

»Weg. Geklaut. Weiß nicht.«

»Was heißt das, du weißt nicht?«

»Ich weiß es halt nicht!«, schrie Trish verzweifelt. Tränen traten ihr in die Augen. »Ich war voll zugedröhnt von den Scheiß-Tabletten, okay? Ich weiß nicht mal, wie ich hierher gekommen bin.«

Erims Brustkorb wurde eng. »Tut dir ... irgendwas weh? Hast du –?«

Trish schüttelte den Kopf. »Nein. Bin okay.«

Erim holte tief Luft und kniff die Lippen zusammen. Sie war unfassbar froh, dass sie Trish gefunden hatte und dass es ihr den Umständen entsprechend gut ging – es hätte so viel Schlimmeres passieren können. Trotzdem konnte sie ihre Wut nicht ganz ausblenden. Das passierte, wenn man ihrer Schwester freie Hand ließ – und sie wunderte sich darüber, dass ihr niemand reifes, erwachsenes Verhalten zutraute. »Komm jetzt«, brummte sie. »Das Shuttle wartet da drüben.«

Sie zerrte Trish weiter die Straße hinunter, ging der Gruppe, die ihre Brieftasche gestohlen hatte, aus dem Weg und erblickte schließlich das Shuttle. Endlich. Sie wollte dringend hier weg. Der Gestank, die zwielichtigen Gestalten, all das verknotete ihren Magen.

Trish stolperte eher, als dass sie lief. Sie hielt sich an Erim fest, kam immer wieder aus dem Tritt und gab ächzende Geräusche von sich. Sie hatten die Station fast erreicht, da blieb Trish abrupt stehen. »Warte.«

»Was ist?«

»Ich ... muss ...« Sie keuchte, dann erbrach sie sich in einem Schwall auf den Gehsteig. Erim machte einen Satz zurück, konnte aber nicht verhindern, dass einzelne Spritzer auf ihrem Mantel und ihren Schuhen landeten. Trish taumelte, sie war leichenblass. Sie griff nach Halt, umklammerte eine Straßenlaterne und erbrach sich erneut.

Erim löste sich aus ihrer Starre, hielt Trish fest und unterdrückte ihre eigene Übelkeit. Sie strich ihrer Schwester die Haare zurück – ein wenig spät, aber immerhin – und redete ruhig auf sie ein. Wieder verkrampfte sich Trishs schmaler Körper, bis sich ihr Magen komplett auf den Asphalt entleert hatte. Sie würgte noch ein-‍, zweimal trocken, dann sank sie zitternd in Erims Arm.

Angewidert machte Erim einen Schritt zur Seite, zog Trish an sich und strich ihr beruhigend übers Haar. »Ist schon gut. Das musste raus, jetzt geht es dir sicher bald besser.«

»Ich war ... so dumm«, flüsterte Trish unter Tränen. »So unfassbar beschissen dumm.«

»Stimmt«, erwiderte Erim mit möglichst sanfter Stimme, »ist aber nicht schlimm. Ich bring dich jetzt einfach in die Klinik, da kannst du dich ausruhen, und –«

»Nein«, wimmerte Trish panisch. »Bitte, nicht ins Krankenhaus. Bitte.«

»Trish, du bist völlig am Ende und dehydriert. Du brauchst Hilfe.«

»Ich muss nur schlafen«, flehte Trish. »Nur ein bisschen schlafen, Erim. Wirklich.«

»Mein Schiff geht in zwei Stunden«, wiederholte Erim. »Ich kann dich nicht allein zuhause lassen. Nicht in dem Zustand.«

»Ich komm klar. Wirklich. Ich lauf’ auch nicht mehr weg.«

Erim seufzte. »Wir klären das nachher. Komm, da vorne ist das Shuttledock.«

Sie schleppte ihre zitternde Schwester durch die leeren Abflughallen in das wartende Shuttle, aktivierte den Rückflug und lehnte sich dann ächzend im Sessel zurück. Sie realisierte erst jetzt, welche Spuren diese Nacht bei ihr hinterlassen hatte. Kein Schlaf, stundenlange Sorgen, der Flug, der Weg durch das widerliche Viertel, Trishs Zustand ... Und in knapp zwei Stunden sollte sie im Schiff nach Irah sitzen, ausgeruht, fit und bereit, ihren Posten als Umweltministerin mit aller Vehemenz zu verteidigen. Großartig.

Trish neben ihr war nach wenigen Minuten eingeschlafen und Erim war froh darüber. Sie wollte jetzt nicht mit ihrer störrischen Schwester diskutieren. Das Mädchen kam in die Klinik und würde dort bleiben. Erim konfigurierte das Shuttle neu und gab als Ziel das Zentralkrankenhaus von Rekama ein. Der Credit-Zähler schnellte hoch, doch das interessierte Erim nicht. Es war zwar ein kleines Vermögen, das sie für Trishs Rettung ausgegeben hatte – insbesondere, wenn man den Raubüberfall einrechnete, – aber Geld war gerade ihr kleinstes Problem. Sie schielte auf die Uhr und die geplante Ankunftszeit. Das würde verdammt knapp werden. Sie musste Trish in der Klinik abliefern, nachhause, ihre Sachen holen, sich umziehen ...

Unmöglich, dachte Erim. Das schaffst du nie.

Nun, das Schiff würde schon warten. Hoffentlich. Und wenn nicht, war das nur ein weiteres Teil im Puzzle ihres Versagens.

Das Shuttle verließ Tankam, steuerte über die Hoya-Felsen hinweg und erreichte die Ausläufer Rekamas. Trish rekelte sich müde und schlug die Augen auf, als das Shuttle eine scharfe Kurve beschrieb. Sie blinzelte. »Wo ... wo sind wir?«

»Auf dem Weg in die Klinik.«

»Nein!« Trish fuhr hoch. Aus aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen starrte sie ihre Schwester an. Unzusammenhängende Worte sprudelten über ihre Lippen. »Nein, bitte, Erim, das ... du ... bitte.«

»Es ist das Beste so«, erklärte Erim begütigend. »Du kannst dich dort ausruhen und bist versorgt, bis ich zurückkomme.«

Trish schwieg. Sie rang nach Worten, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Stumme Tränen liefen ihre Wangen hinunter, sie bot einen Anblick puren Elends. »Bitte, Erim.« Sie ergriff ihre Hand und hielt sie fest. »Bitte, ich kann nicht ... Die haben schon zwei Vermerke von mir. Wegen Drogen. Die stecken mich in so ein Erziehungscenter. Das ist wie Knast!«

»Unsinn«, widersprach Erim. »Vielleicht täte dir das gut. Jetzt, wo das mit der Schule erstmal –« Sie konnte den Satz nicht beenden, denn Trish brach in hysterisches Weinen aus. Ein Heulkrampf nach dem anderen schüttelte ihren mageren Körper, sie japste nach Luft, weinte wieder und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Hey ...« Unbeholfen legte Erim ihr den Arm um die Schulter. »Alles wird wieder gut. Ich verspreche es dir.«

Trish schüttelte monoton den Kopf. »Nein, nein, nein. Nichts wird gut. Gar nichts. Ich bin am Arsch.«

»Unsinn.« Erim streichelte sie sanft. »Wir kriegen das hin. Vertrau mir.«

Trish unterdrückte den nächsten Heulkrampf und schluckte den Schluchzer hinunter. »Nicht in die Klinik«, flüsterte sie. »Bitte, nicht in die Klinik.«

»Trish, ich weiß nicht, was ich sonst machen soll. Ich muss in rund einer Stunde am Raumhafen sein und ich kann dich in dem Zustand unmöglich allein lassen. Nicht, ohne dass ich mir ständig Sorgen mache.«

»Dann nimm mich mit«, flüsterte Trish. »Ich bleibe einfach im Schiff, okay? Ich schlafe. Sonst nichts. Ich mach dir keinen Ärger. Versprochen.«

»Trish, das geht nicht. Ich –«

»Bitte.« Trishs Augen füllten sich erneut mit Tränen. »Bitte, Erim. Lass mich nicht hängen. Bitte.«

Erim schluckte. Der wütenden Trish mit Zorn und Frust zu begegnen, war einfach gewesen. Die zu Tode betrübte Trish hingegen tat ihr schlichtweg leid. Sie schielte auf die Uhr. Wenn sie ihre Schwester mitnahm, hatte sie eine Chance, das Schiff pünktlich zu erreichen. Falls nicht ... nun, dann musste sie sich auf Diskussionen, Geschrei und Wut gefasst machen. Und auf richtig miese Presse, wenn Trishs Name mit ihrem in Verbindung gebracht wurde. Ria würde vor Verzweiflung die Hände über dem Kopf zusammenschlagen ...

»Ich fliege nach Irah«, sagte sie vorsichtig. »Das sind fast zwei Tage, ist dir das klar?«

»Macht nichts«, murmelte Trish. Sie zitterte jetzt wieder und versuchte verzweifelt, sich zu wärmen. »Ich will nur schlafen. Und nicht ins Krankenhaus.«

Erim kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Was sollte sie tun? Trish hatte recht, ein Drogenvermerk war eine ernste Sache. Die Regierung hatte die Drogenpolitik in den letzten Jahren konsequent verschärft und setzte selbst bei Jugendlichen auf Abschreckung und Ausgrenzung statt auf Rehabilitation.

Mit einem Drogenvermerk würde Trish nicht nur in eine der Erziehungsanstalten geschickt, sondern müsste auch bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz oder einer Arbeitsstelle mit massiven Repressalien rechnen. Für die meisten Schulen und Arbeitgeber waren Drogenvermerke ein No Go. Ganz zu schweigen davon, was die Regenbogenpresse mit dieser Information anfangen würde.

»Ich rede mit dem Personal in der Klinik«, schlug Erim vor. »Bestimmt verzichten sie auf den Vermerk, wenn ich ihnen klar mache, dass du das Zeug nicht freiwillig genommen hast. Ich bin immerhin eine Ministerin.«

Trish schniefte. »Und wenn nicht? Dann bin ich am Arsch. Bitte, Erim, tu das nicht. Ich reiß mich zusammen, ehrlich, ich mach so einen Scheiß nie wieder.«

Erim starrte ins Leere, nervös trommelte sie mit den Fingerspitzen auf die Armlehne. Wenn Trish nicht in die Klinik wollte, was sollte sie tun? Ihre Eltern informieren? Nein, das war herzlos. Ihre Mutter würde Trish in der Luft zerreißen, das war schlimmer als jede Erziehungsanstalt. Also blieb nur eine Option.

Seufzend nahm sie ihren Mantel ab und legte ihn ihrer Schwester um die Schultern. »Okay«, murmelte sie lahm. »Aber das ist definitiv das letzte Mal. Sobald wir von Irah zurückkommen, rufst du unsere Eltern an. Diese Farce hier muss aufhören.«

Trish schniefte. »Okay.« Sie sah auf. »Es tut mir leid, Erim. Wirklich. So leid. Ich wollte nicht, dass –«

»Schon gut. Wir kriegen das hin.« Sie atmete tief durch. Verdammt, was für ein Durcheinander. Sie musste sich wohl eine gute Ausrede für das Bordpersonal einfallen lassen ...