»Frau Ministerin? Wir sind da.«
Erim blinzelte. Leyo stand neben ihrem Bett, ein dünnes, beschämt wirkendes Lächeln auf den Lippen. »Wir landen in etwa dreißig Minuten auf Ranun.«
»Danke«, murmelte Erim und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Trish lag nicht mehr neben ihr, also fragte sie leise: »Gilt unsere Abmachung noch?«
Er nickte. »Es gibt zwei Rettungskapseln an Bord, das heißt, wir werden Liska und Ihre Schwester kurz vor der Landung mit einer davon rauswerfen. Liska kümmert sich dann darum, dass Trish sicher nachhause kommt. Versprochen.«
Erim strich notdürftig ihre Kleider glatt, in denen sie geschlafen hatte, und warf einen Blick in den Spiegel. Sie sah hundserbärmlich aus. Ihre Wimperntusche war verlaufen, ihr Haar stand wirr in alle Richtungen ab und ihr Make-up hatte sie ans Kissen geschmiert, sofern es überhaupt noch vorhanden gewesen war.
»Geben Sie mir ein paar Minuten«, murmelte sie. »Einem Gangsterboss sollte man gepflegt gegenübertreten, finden Sie nicht?«
»Kann nicht schaden. Ich warte im Cockpit auf Sie.«
Träge rappelte Erim sich auf und klatschte sich eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht. Wie sollte sie Motivation für den kommenden Tag aufbringen, wenn ihre Aufgabe darin bestand, dem meistgesuchten Verbrecher der Föderation gegenüber zu treten und hoffentlich nicht dabei zu sterben?
Sie schlüpfte in frische Kleidung und zog mit klammen Fingern ihren Hygienebeutel aus dem Koffer, um ihre Frisur und ihr Make-up zu richten. Gerade hatte sie den Lidstrich neu gezogen, als es klopfte.
Trish streckte den Kopf herein. »Wir sind gleich da. Leyo sagt, ich soll in die Kapsel steigen.«
Erim schenkte ihrer Schwester ein Lächeln. »Tu das. Liska wird dich so bald wie möglich nachhause bringen. Sie hat es versprochen.«
»Und was ist mit dir?«
»Mach dir keine Sorgen, ich komme zurecht.« Sie zog eine Visitenkarte aus ihrer Blazertasche und reichte sie Trish. »Das ist die Nummer von Ria, einer guten Freundin. Melde dich bei ihr, wenn du wieder in Paraphan bist, und sag ihr, dass du fürs Erste in meinem Apartment wohnst. Sie organisiert dann alles.«
Beschämt nahm Trish die Karte an sich und fiel Erim ungestüm um den Hals. »Sei vorsichtig. Ich hab’ Angst, dass dir was passiert.«
Und ich erst, dachte Erim, bemühte sich aber um Räson.
»Mir wird nichts passieren«, erwiderte sie leise. »Mach dir keine Sorgen.« Sie hauchte Trish einen Kuss auf den Scheitel und schob sie dann zur Tür. »Ab mit dir.«
Im Cockpit verabschiedete sich Liska gerade mit einem langen Kuss von ihrem Mann und strich ihm mit den Fingerspitzen über die Wange. »Pass auf dich auf, okay? Und versuch, keinen Blödsinn anzustellen.«
»Ich bemühe mich.« Er stupste sie gegen die Nase. »Gib Amjan einen Kuss von mir. Und lass dich ein wenig von sem verwöhnen, das hast du dir nach den ganzen Strapazen verdient.«
Liska lachte. »Der Meinung bin ich auch. Lass uns nicht zu lange warten, ja? Ich mach mir sonst Sorgen. Und denk dran, der Autopilot –«
»Ja, ja, wird schon schiefgehen. Pass du nur auf die Kleine auf.« Sie küssten sich ein letztes Mal, dann wandte Liska sich um und hob zwei Helme vom Boden auf. Einen drückte sie Trish in die Hand. »Bist du bereit?«
Trish nickte unschlüssig. »Ich ... denke schon.«
»Gut. Frau Ministerin, ich wünsche Ihnen alles Gute. Mein Mann ist manchmal ein Hornochse, aber im Grunde ein lieber Kerl. Er wird Sie nicht im Stich lassen.«
Erim versuchte sich an einem Lächeln, das ihr nur vage glückte. Sie hoffte inständig, dass ihr Vertrauen in Liska gerechtfertigt war und sie Trish wirklich nachhause bringen würde. Denn wenn nicht ... Sie durfte gar nicht daran denken. »Danke. Achten Sie gut auf meine Schwester.«
»Das werde ich.« Liska salutierte. »Vielleicht sehen wir uns ja noch einmal. Bis dann.« Sie marschierte mit Trish den Gang hinunter, öffnete die Kapsel und schob das Mädchen hinein, ehe sie hinterher kletterte. Zischend schloss sich die Tür und Erim blieb allein zurück.
Ihre Finger kribbelten und sie spürte ein Ziehen in der Magengegend. Im schlimmsten Fall war Trish jetzt auf sich gestellt, auf einem fremden Planeten, umgeben von zwielichtigen Menschen ... Hoffentlich ging alles gut.
Mit schweren Schritten schlurfte Erim zum Cockpit, wo Leyo über den Armaturen brütete. Vor ihnen lag die orange-rote Oberfläche Ranuns, die langsam näher kam. »Sind sie drin?«
»Ja. Denke schon.«
Leyo drückte einige Tasten und nickte. »Alles klar. Halten Sie sich fest, wir durchbrechen gleich die Atmosphäre.«
Erim ließ sich in den Sitz fallen, da ging bereits ein Ruck durch das Schiff. Flammen stoben um sie her auf, kurz hatte Erim das Gefühl, durch einen Vulkan zu fliegen – dann war es vorbei. Leyo drosselte die Geschwindigkeit auf ein Minimum, ließ das Schiff behutsam Richtung Boden trudeln und checkte die Koordinaten. Unten erkannte Erim kaum mehr als Sand und riesige schwarze Flecken, die von Trümmerteilen herrührten.
»Okay, das müsste passen.« Leyo aktivierte den Funk. »Hey ihr zwei, ich klinke euch jetzt aus. Macht’s gut. Ich liebe dich, Süße.«
Ein einziger Knopfdruck genügte und mit einem vernehmlichen Knacken löste sich die Rettungskapsel. Erim sah sie nach unten sinken und atmete auf, als die Triebwerke zündeten und die Kapsel Richtung Boden steuerte. Sie schob die Finger ineinander, um das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. Sie würden Trish nichts tun. Sie würden sie nach Hause bringen. Sie waren ihr das schuldig, verdammt!
»So, Gnädigste, nächstes Ziel: Colays Anwesen.«
»Erwarten Sie Begeisterung von mir?«
»Nein, nicht wirklich.« Er drückte einige Knöpfe und lehnte sich dann zurück. »Zum Glück hat das Ding eine Landungsautomatik, sonst wären wir ohne Pilotin verloren. Keine Sorge, wir sind gleich unten.«
Erim nickte angespannt und sah zu, wie die Oberfläche des Planeten langsam, aber sicher näherkam. Zwischen den Dünen und Felsen ragte in der Ferne ein gigantischer Turm auf – die ehemalige Vicariummine. Das Schiff ging schon vorher runter und hielt auf ein Gebäude zu, das völlig isoliert im Nirgendwo stand. Signallichter markierten eine Landefläche und es knackte im Funk.
»Boden an Naharra 3. Haben Ihre Signatur geprüft und erteilen Ihnen Landeerlaubnis. Haben Sie die Ware? Over.«
Leyo verzog das Gesicht und warf Erim einen entschuldigenden Blick zu. »Naharra 3 an Boden. Die Ware hat einen Namen und ja, sie ist hier. Kommen jetzt runter.«
Er deaktivierte ein Triebwerk nach dem anderen, wie Liska es ihm gezeigt hatte. Das Schiff sank Stück für Stück, wie ein Ballon, dem die Luft ausgegangen war. Mit einem Ruck kamen sie auf der Landefläche auf, Erims Kopf wurde nach vorne gerissen, dann stand alles still.
Leyo zwinkerte und öffnete seinen Gurt. »Da wären wir. Darf ich Ihnen aufhelfen?«
Erim schlug seine Hand missmutig aus und schälte sich allein aus dem Sitz. Sie blinzelte zweimal, um die AR-Linse zu aktivieren. Immer noch kein Zugriff, eine Fehlermeldung flimmerte vor ihr in der Luft. Ein Netzblocker. Colay war in der Tat vorsichtig.
Das Anwesen, in dessen parkähnlicher Anlage sie gelandet waren, war gut in Schuss gehalten und elegant, wenn auch etwas altbacken: weiß getünchte Wände, eine hölzerne Veranda und ein von Giebeln durchsetztes Spitzdach. Kein Glas und Chrom wie auf Paraphan. Überall standen Männer und Frauen in Sicherheitspanzerung mit angelegten Waffen, fast so, als wären sie gerade auf einer Militärbasis gelandet. An Flucht war jedenfalls nicht zu denken.
Leyo nahm Erims Gepäck und aktivierte die Luke, die sich zischend öffnete. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Beim ersten Schritt nach draußen fühlte Erim sich, als sei sie gerade gegen eine heiße, trockene Wand gelaufen. Sie hatte nicht realisiert, wie angenehm temperiert das Innere des Schiffs gewesen war ... Sie rang nach Luft und ging dann so selbstbewusst wie möglich die Rampe hinunter. Eine Frau erwartete sie, klein und untersetzt, in einen schwarzen Overall gekleidet.
Missmutig begutachtete sie die Dellen, Schrammen und Einschusslöcher in der Bordwand der Maschine und warf Leyo einen bitterbösen Blick zu. »Was haben Sie mit dem Schiff angestellt?«
»Komplikationen«, erklärte Leyo beflissen und drehte sich eine Zigarette. »Crings, um genau zu sein. Keine Sorge, Ihr Baby fliegt noch. Es hat nur ein paar Kratzer – und ein Leck im Kühlsystem bei B3. Das haben wir notdürftig gefixt, aber Sie sollten es vielleicht ordentlich reparieren lassen.«
Die Frau wirkte alles andere als zufrieden. Sie spickte Leyo weiter mit giftigen Blicken und nahm dann das Schiff in Augenschein. »Die Rettungskapsel fehlt.«
»Stimmt.« Leyo zog an seiner Zigarette und verdrehte genüsslich die Augen. »Wow, ehrlich, die hab’ ich gebraucht.«
Die Frau ließ nicht locker. »Warum fehlt die Kapsel?«
»Mussten sie abwerfen, als wir unter Beschuss gerieten«, erklärte Leyo unbekümmert. »Die Halterung hatte sich beim Treffer gelöst, das Ding wäre uns sonst um die Ohren geflogen. Da haben wir sie lieber ausgekoppelt und unsere Verfolger ein bisschen abgelenkt.«
Erim war beeindruckt davon, wie ungeniert er log. Selbst sie hätte ihm die Antwort abgekauft, obwohl sie es besser wusste. Glück für Trish, dachte sie und atmete stumm auf. Leyo hatte Liska nicht erwähnt, möglicherweise hatte er sie ohne Colays Wissen mit an Bord genommen. Wenn dem so war, stiegen Trishs Chancen, unbeschadet aus der Sache herauszukommen.
Die Frau blähte zornig die Nasenflügel. »Toll. Das heißt, die Kapsel treibt jetzt irgendwo im All?«
»Vermutlich. Außer, die Crings haben sie eingesackt.«
Die Frau starrte ihn finster an, gab aber keine Widerworte, sondern winkte zwei Wachen heran, die Erim in ihre Mitte nahmen.
Einer wollte sie am Arm packen, doch sie wich ihm aus. »Ich kann alleine gehen. Danke.« Entschlossen reckte sie das Kinn vor und schritt ihrer Eskorte voran in Richtung der Villa.
Leyo folgte ihnen in etwas Abstand. Ihre herrische Geste hatte Erim ein bisschen Zuversicht geschenkt, überdeckte aber nur kurz, wie ängstlich und verloren sie sich fühlte. Dieser Ort war eine Festung, und sie war die Gefangene. Was auch immer Colay von ihr wollte, sie war ihm hilflos ausgeliefert. Wenigstens hatte man sie nicht gleich erschossen, als sie einen Fuß auf festen Boden gesetzt hatte, aber daran hatte sie auch nicht wirklich geglaubt. Sie stimmte Leyos Einschätzung zu: Colay hatte sie entführen lassen, weil er etwas von ihr wollte. Nur was ...?
Die Söldner eskortierten Erim ins Innere des Anwesens, wo sie die Hitze hinter sich lassen konnte. Ein angenehmer Duft lag in der Luft und sie war überrascht, wie geschmackvoll und gediegen die Villa eingerichtet war. An den holzvertäfelten Wänden hingen Fotografien und Gemälde, eine bunte Vase stand auf einem Beistelltisch und die hölzernen Dielen waren blank poliert.
Die Wachen führten Erim zu einer Tür am Ende der Halle und weiter in einen hellen Salon mit schwarzen Ledersesseln und einer üppigen Schnapsbar. Der Esstisch aus rötlichem Holz war für zwei Personen gedeckt und eine gekühlte Wasserkaraffe befand sich in der Mitte.
Erim blieb unschlüssig im Raum stehen. Eine Wache verharrte neben der Tür, die andere draußen in der Eingangshalle. Leyo schlenderte unbekümmert durch das Zimmer, strich mit den Fingern über die Armlehnen der Sessel und lächelte versonnen. »Nett hier, oder?«
Erim nickte verhalten, ihr war gerade nicht nach Smalltalk zumute. Die hohen Glasfenster minderten den Eindruck von einem Gefängnis, trotzdem fühlte sich ihr Magen flau an. Ganz egal, wie behaglich Colay es erscheinen ließ, sie war hier eine Gefangene. Oder zumindest eine Geisel.
Die Tür schwang auf, doch statt Colay betrat eine Person in elegantem Livree den Raum und nickte Erim freundlich zu. »Einen wunderschönen guten Tag, Frau Ministerin. Mein Name ist Artie, ich bin der Butler des Hauses und für Ihr Wohlergehen zuständig. Nehmen Sie doch bitte Platz, der Hausherr ist gleich für Sie da.«
Erim gehorchte zögerlich und sah zu, wie Artie ihr aus einer Karaffe Wasser einschenkte. Sie würde keinen Tropfen davon anrühren, so viel stand fest, egal, wie durstig sie war.
»Benötigen Sie sonst etwas?«
Sie schüttelte den Kopf und der Butler huschte noch einmal geschäftig durch den Raum, ehe er nach draußen glitt. Von Leyo und der Wache schien er keine Notiz zu nehmen.
Nur wenig später öffnete sich die Tür erneut und ein Mann betrat den Salon. Colay. Erim erinnerte sich vage, einmal ein Foto von ihm in der Presse gesehen zu haben. Er war groß und breitschultrig mit dunklem, teils ergrautem Haar und einem durchdringenden, scharfen Blick, der Erim an den ihres Vaters erinnerte. Tatsächlich machte Colay auf sie eher den Eindruck eines Kriegsveteranen als eines Verbrechers. Eine unansehnliche Narbe zog sich quer über sein Gesicht, unter seiner eleganten Kleidung zeichnete sich ein kräftiger Körper ab und in seinem Lächeln lag Berechnung, aber keine Kälte.
»Frau Ministerin, schön, Sie zu sehen. Es freut mich, dass Sie meiner etwas rüden Einladung gefolgt sind.« Er streckte Erim seine Hand hin, doch diese blieb wie angewurzelt stehen.
»Unter einer Einladung verstehe ich etwas anderes.«
»Nachvollziehbar.« Colays Lächeln verblasste nicht. »Sie müssen verstehen, die Regierung hat auf meinen Kopf eine ansehnliche Summe ausgesetzt. Es war mir daher leider nicht möglich, Sie um einen offiziellen Termin zu bitten.«
»Also lassen Sie mich entführen?«
»Nun, die Angelegenheit war mir wichtig, wie Sie sehen.« Er deutete auf den Tisch. »Wollen Sie sich nicht setzen? Sie müssen hungrig sein nach der langen –« Erst jetzt schien ihm Leyo aufgefallen zu sein, der stumm in einem Ledersessel fläzte. »Was machen Sie denn noch hier?«
Leyo grinste, ohne aufzustehen. »Die Ministerin ist hier und Sie haben, was Sie wollten. Fällt Ihnen auf, was noch fehlt?«
Colay verdrehte die Augen. Er griff ins Innere seines Jacketts und zog einen Chip nebst Lesegerät heraus. Er steckte den Chip hinein, wartete einen Moment und reichte Leyo beides hinüber. »Hier. Damit Sie sehen, dass alles seine Richtigkeit hat.«
Erim war kurz versucht zu fragen, welche Summe Colay für ihre Entführung geboten hatte, doch sie schwieg. Eigentlich wollte sie es gar nicht wissen.
Leyo zog den Chip ab, steckte ihn ein und nickte zufrieden. »Verbindlichsten Dank. Stört es Sie, wenn ich noch etwas bleibe?«
»Wieso sollten Sie?«
»Sie haben es sehr nett hier.« Leyo zuckte mit den Schultern. »Abgesehen davon würde mich brennend interessieren, was Sie so Dringliches mit der Frau Ministerin zu besprechen haben.«
»Darauf wette ich.« Ein Lächeln kräuselte Colays Lippen. »Das geht Sie aber überhaupt nichts an. Also verschwinden Sie.«
»Na schön.« Leyo stand auf und streckte seinen Rücken durch. »Ich helfe Ihren Leuten draußen ein bisschen mit dem Schiff, die Schäden beseitigen.«
Colay runzelte die Stirn. »Schäden?«
»Wir hatten Crings-Jäger am Arsch kleben und mussten durch die Trionen-Brücke verschwinden, um sie abzuhängen.«
»Sie sind durch ein Wurmloch geflogen? Und Sie leben noch?«
»Wie Sie sehen.«
Colay schob anerkennend die Unterlippe vor. »Dann sind Sie tatsächlich ein besserer Pilot, als ich dachte. Meinetwegen machen Sie sich nützlich, wenn Sie unbedingt wollen.«
»Nun ja, ich könnte auch –«
»Gehen Sie. Strapazieren Sie meine Geduld nicht.«
Leyo nickte ergeben und schlurfte zur Tür. Er schenkte Erim ein Lächeln und legte zum Abschied die Finger an die Schläfe. »Machen Sie’s gut, Frau Ministerin. Lassen Sie sich von dem Kerl nicht einschüchtern. Er ist nur halb so gefährlich, wie er tut.«
Colays Augenbrauen senkten sich bedrohlich, doch da war Leyo schon nach draußen verschwunden. »Unflätiger Kerl«, brummte er und nahm die Karaffe aus dem Kühler. »Ich hoffe, er hat Sie nicht belästigt?«
»Nein. Er war sehr höflich.«
»Gut, das freut mich. Möchten Sie einen Schluck?«
Erim zögerte.
»Keine Sorge.« Colay lächelte und schenkte sich selbst ein Glas ein. »Ich habe nicht vor, Sie zu vergiften. Ich möchte nur mit Ihnen reden, das ist alles, und Ihnen ein Angebot unterbreiten. Unabhängig davon, ob Sie es annehmen, oder nicht, werde ich Ihnen kein Haar krümmen.«
»Das muss ich Ihnen wohl glauben.«
»Sie haben mein Sicherheitspersonal draußen gesehen. Wollte ich Ihnen etwas antun, wäre das längst geschehen.« Colay nahm Platz und deutete auf den Stuhl gegenüber. »Bitte. Setzen Sie sich.«
Erim gehorchte und umklammerte das Wasserglas mit den Händen, als müsse sie sich daran festhalten. Das Wissen, allein mit diesem Mann und einer gewaffneten Wache in einem Raum zu sitzen, krampfte ihr den Magen zusammen. Er könnte sie hier und jetzt erschießen lassen, niemand würde etwas unternehmen. Vermutlich würde es auch nie jemand erfahren. Weder Trish noch ihre Eltern oder Raqan. Falls es den überhaupt interessierte.
»Möchten Sie etwas essen?«, fragte Colay. »Sie müssen hungrig sein nach dem langen Flug.«
»Ein wenig«, gestand Erim. Wenn sie schon in diesem Haus gefangen war, konnte sie zumindest die Annehmlichkeiten genießen, solange es noch ging.
»Haben Sie schon einmal Samiq gekostet?«
»Nein. Was ist das?«
»Ein Rüsseltier. Haarlos, etwa von der Größe eines Pferdes und sehr muskulös. Mein Koch bereitet ein hervorragendes Samiq-Steak zu.«
»Wenn Sie das sagen ...«
Colay drückte einen Knopf an der Unterseite des Tisches und der Butler erschien wenig später in der Tür.
»Artie, serviere uns doch bitte das Menü. Und eine Flasche Wein dazu.«
Erim nippte skeptisch an ihrem Wasser und sah Colay über den Rand des Glases hinweg an. »All die Mühen, um mich zum Essen einzuladen und mit den erlesenen Speisen Ihrer Heimat zu protzen?«
»Mitnichten, Frau Ministerin.« Colay wurde unverwandt ernst. »Ich möchte nur den Rahmen so angenehm wie möglich gestalten. Sie sollen nicht den Eindruck gewinnen, ich würde Ihnen leichtfertig Ihre kostbare Zeit stehlen. Ich meine, eigentlich sollten Sie jetzt schon auf Irah sein, nicht wahr?«
»In der Tat. Und man wird sich sicher wundern, warum ich dort nicht auftauche.«
»Vermutlich. Aber wenn Sie ehrlich sind, Sie vermissen den Auftritt nicht, habe ich recht?«
Erim legte die Stirn in Falten. »Nein. Nicht sehr. Wieso fragen Sie?«
Colay stand auf, ging einige Schritte durch den Raum und nahm ein Bild von der Wand. Sacht legte er es neben Erim auf den Tisch. »Wissen Sie, wo dieses Foto aufgenommen wurde?«
Erim betrachtete es. Es sah alt aus, die Farben waren verblichen und die Auflösung verwaschen. Trotzdem erkannte sie das Haus im Hintergrund wieder: Es war Colays Anwesen. Nur mit dem Unterschied, dass rings um die Villa üppige Felder sprossen, Palmen, Kakteen und Obstbäume. »Das ist dieses Haus hier.«
»Das Haus meiner Familie«, bestätigte Colay und nahm wieder Platz. »Das Foto ist zweihundert Jahre alt. Erschreckend, nicht wahr? Zweihundert Jahre, und man erkennt nichts davon wieder. Der Mann, den Sie dort sehen, das war mein Ur-Urgroßvater. Er besaß mehrere Morgen fruchtbares Land, Felder und Plantagen. Meine Familie gehörte zu den Reichsten in der Gegend.«
Erim ahnte, was folgte, und betrachtete das Foto. »Und dann wurde das Vicarium entdeckt.«
»Exakt.« Colay nickte gewichtig. Er stand auf und trat ans Fenster. »Kommen Sie.«
Erim folgte ihm zögerlich.
»Sehen Sie den Schatten da hinten? Ganz schwach zwischen Sand und Staub? Das ist eine der alten Minen. Dort fanden sie das meiste Vorkommen, direkt unter der Oberfläche.« Er seufzte und senkte den Blick, versunken in seinen Gedanken. »Die Regierung zwang meine Familie, große Teile ihrer Ländereien an die Sanwa Mining Corporation zu verkaufen. Jene Firma, welche die Mine betreiben sollte. Der Druck war immens, immerhin ging es um tausende Arbeitsplätze, um Rohstoffe, um sehr viel Geld für Ranun. Am Ende willigte mein Ur-Urgroßvater ein.« Ein bitteres Lächeln huschte über Colays Gesicht. »Nun, wohin es uns gebracht hat, sehen Sie hier. Nach Beginn des Abbaus wurden die Ernten jede Dekade schlechter. Der Boden vertrocknete und reicherte Giftstoffe an. Die Pflanzen gingen ein. Sandstürme suchten die Landstriche heim, Dürren, Insektenplagen. Irgendwann lohnte es sich nicht mehr, die Felder zu bewirtschaften, und meine Familie stand vor dem Ruin.«
Colay kehrte zum Tisch zurück und Erim folgte ihm. Sie war sich nicht sicher, worauf er mit seiner Geschichte hinauswollte. Dass der Vicariumabbau ein Spiel mit dem Feuer oder – noch schlimmer – mit Menschenleben war, wusste sie selbst. Ranun war nur ein trauriges Beispiel von vielen. Also warum ...?
Plötzlich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Er hatte sie hierher gebracht, um sie zu bestrafen. Um sie im Namen der Regierung leiden zu lassen für das, was seiner Familie angetan worden war. Erim krallte die Finger in die Tischplatte. Verdammt, das war doch nicht ihre Schuld!
»Hören Sie«, murmelte sie und wischte sich fahrig mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn, »ich weiß, wie schädlich der Vicariumabbau ist, ich predige das seit Jahren. Wenn es nach mir ginge, würden wir unsere Energie schon lange über andere, nachhaltige Wege gewinnen, statt einen Planeten nach dem anderen auszubeuten. Aber die Regierung interessiert das nicht. Sie schaut nur auf den Profit, auf die Effizienz und –«
»Das weiß ich, Frau Ministerin.« Colay hob begütigend die Hand. »Deswegen wollte ich mich ja mit Ihnen unterhalten und mit niemandem sonst. Sie scheinen mir die einzig Vernünftige in diesem Haufen von ignoranten Großmäulern zu sein.«
Erim stutzte. »Dann ... wollen Sie mich gar nicht zur Rechenschaft ziehen?«
»Sie?« Colay lachte. »Nein, gewiss nicht. Aber lassen Sie mich zu Ende erzählen, ich denke, dann sehen Sie klarer. Vor rund fünfzig Jahren – ich war noch ein kleiner Junge damals – stellte die Regierung den Vicariumabbau ein. Es lohnte sich nicht mehr, die oberen Schichten waren alle abgetragen und bekanntermaßen ist der Abbau von tieferen Schichten mit massiven Risiken verbunden.«
Erim nickte. Tiefenbohrungen nach Vicarium erhöhten die Gefahr von Methan-Explosionen, die Erdbeben, Erosionen und Schlimmeres zur Folge haben konnten. Insbesondere auf einem Planeten wie Ranun, unter dessen Oberfläche zahlreiche erloschene Vulkane schlummerten.
»Meine Familie verlangte mehrmals die versprochenen Entschädigungen«, fuhr Colay fort, »und wurde jedes Mal abgewiesen. Meine Großmutter zog bis vor den Intergalaktischen Gerichtshof in Paraphan, doch die Verträge waren wasserdicht. Es gab einige Klauseln, die meine Vorfahren übersehen hatten, und jetzt brachen die meiner Familie das Genick. Die Regierung lehnte ihr Ansinnen ab. Wir standen da mit leeren Händen und horrenden Schulden.«
Es klopfte und der Butler, Artie, schob einen Servierwagen herein, auf dem zwei Platten unter Servierglocken standen. Daneben eine dampfende Schüssel mit gerösteten Kichererbsen und eine Karaffe Wein. Allein der Duft ließ Erim das Wasser im Munde zusammenlaufen.
»Nehmen Sie Platz.« Colay deutete auf den Tisch. »Wir können uns beim Essen weiter unterhalten.«
Artie servierte die Teller und hob schwungvoll die Tellerglocke auf. »Samiq-Nackensteak an Trüffelsauce mit grünen Bohnen und gerösteten Kichererbsen.«
Erim schnupperte verzückt. »Das duftet köstlich.«
»Bitte, greifen Sie zu.« Colay tat ihr Erbsen und Bohnen auf und bediente sich anschließend selbst. Er hob die Weinkaraffe. »Darf ich Ihnen einschenken?«
Erim nickte und nahm einen tiefen Schluck von dem vollmundigen Rotwein, der ihr samtig die Kehle hinunter rann. Am liebsten hätte sie das ganze Glas in einem Zug geleert, doch sie beherrschte sich. Auf leeren Magen war das keine gute Idee. »Warum erzählen Sie mir diese Geschichte?«, fragte sie schließlich. »Um mir ein schlechtes Gewissen zu machen?«
»Mitnichten«, erwiderte Colay sanft. »Ich wollte Ihnen nur meinen Standpunkt verdeutlichen, damit Sie gleich verstehen, warum ich Ihnen mein Angebot unterbreite.« Er schnitt ein Stück von seinem Steak ab und sah Erim dann eindringlich an. »Sie und ich haben ein gemeinsames Ziel, Frau Sariz. Wir beide wollen der Regierung beweisen, dass der Abbau von Vicarium unfassbare Schäden für die Menschen und die Umwelt bedeutet. Wir wollen Fairness. Gerechtigkeit.«
Erim schnaubte. »Ich vermute, Sie haben eine andere Auffassung von Gerechtigkeit als ich.«
»Möglich.« Colay tunkte ein Stück Fleisch in die Soße und schob sich den Bissen in den Mund. »Wissen Sie, nachdem meine Großmutter vom Intergalaktischen Gerichtshof zurückkam, mit leeren Händen, beschloss mein Vater, das Recht in die eigene Hand zu nehmen. Die Regierung hatte uns verraten, uns im Stich gelassen, uns all unseren Besitz genommen. Ist es da nicht verständlich, dass mein Vater beschloss, andere Wege zu beschreiten? Wege jenseits der Gesetze der Föderation?«
Erim schwieg. Sie musste gestehen, dass sie Colays Argumentation erschreckend nachvollziehbar fand. Die Regierung hatte den Planeten verramscht und ausgebeutet, ohne sich je für die Belange der Menschen dort zu interessieren. Natürlich verloren diese irgendwann den Glauben an Gerechtigkeit und die föderale Gemeinschaft. Und dennoch, sie wusste, was man Colay vorwarf, welche Verbrechen man ihm zur Last legte – er war alles andere als ein Menschenfreund.
Sie nahm ihrerseits einen Bissen Steak und musste zugeben, dass es fabelhaft schmeckte, besonders mit der dunklen Soße. Um der drückenden Stille zu entgehen, konzentrierte sie sich ganz auf ihren Teller und schob eine Gabel mit Kichererbsen hinterher.
»Sie haben nicht schlecht gelebt«, sagte sie schließlich mit Blick auf die teuren Delikatessen auf dem Tisch. »Ganz im Gegensatz zu den anderen Menschen auf Ranun.«
»Wohl wahr.« Colay spießte eine Bohne auf und betrachtete sie. »Ich habe mir Mühe gegeben, das zu erhalten, was meiner Familie einst gehörte. Aus Respekt vor meinen Eltern und meiner Großmutter. Ich will nicht so tun, als sei ich Ranuns Wohltäter gewesen. Aber Fakt ist: Das Geld, das meine Geschäfte erwirtschaftet haben, hat vielen Familien auf diesem Planeten das Leben gerettet. Ihre Regierung war da weniger hilfreich. Doch wie gesagt, ich will Ihnen keinen Vorwurf machen, Frau Sariz. Im Gegenteil. Ich habe Sie eingeladen, weil ich überzeugt bin, dass wir am selben Strang ziehen sollten.«
Erim stieß einen missbilligenden Laut aus und ließ die Gabel sinken. Fast hätte er sie eingewickelt mit seinem guten Essen, den schmeichelnden Worten und dem Wein. »Ich mache keine Geschäfte mit Verbrechern.«
»Ehrenwert.« Colay lächelte, es wirkte beinahe anerkennend. Ungerührt nahm er einen weiteren Bissen von seinem Teller. »Ich bin mir sicher, Ihr Vater hat dasselbe gesagt, als er damals mit der Uthari-Rebellion verhandelt hat.«
Erims Miene gefror zu Eis. »Lassen Sie meinen Vater aus dem Spiel.«
»Er hat einiges erreicht«, fuhr Colay fort, ohne ihren Einwurf zu beachten. Quälend langsam schnitt er sich ein Stück Steak ab. »Die Aufstände wurden quasi über Nacht beendet, und das nur, weil Ihr Vater sich nicht scheute, mit Terroristen zu verhandeln und ihnen Zugeständnisse zu machen.«
»Ich habe gesagt, lassen Sie meinen Vater –«
»Er hat für seine Überzeugungen gekämpft und das große Ganze gesehen. Das, was wirklich zählt. Ein Jammer, dass er –«
»Es reicht!« Erim sprang vom Tisch auf, ihre Knie zitterten. Dass dieser Mistkerl es wagen konnte! »Sie werden meinen Vater nicht gegen mich benutzen!«
»Meine Liebe, das ist keine Frage von Für oder Wider. Ich versuche nur, Ihnen klar zu machen, dass Sie die Entscheidung für eine Zusammenarbeit nicht von meiner Person abhängig machen sollten. Sondern davon, was Sie am Ende für die Gemeinschaft gewinnen können.«
»Der Zweck heiligt die Mittel, wollen Sie das damit sagen?«
»Vielleicht.« Er schob sich eine Gabel voller Kichererbsen in den Mund, kaute gemächlich und schluckte den Bissen, ehe er weitersprach. »In jedem Fall würde ich Sie ersuchen, sich mein Angebot zunächst anzuhören, ehe Sie es ablehnen.«
Erim starrte ihn an, hin und hergerissen zwischen Wut und Neugier. Dieser Mann wusste genau, welche Knöpfe er bei ihr drücken musste, und dafür verabscheute sie ihn. Und zugleich wohnte seinen Worten eine bestechende, grausame Logik inne, die sie dazu zwang, ihm weiter zuzuhören. Dafür verabscheute sie ihn noch mehr.
»Schön.« Sie ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken und verschränkte die Arme vor der Brust. So schmackhaft das Essen auch war, der Appetit war ihr vergangen. »Dann reden Sie nicht länger um den heißen Brei herum, sondern kommen Sie zur Sache.«
»Wie Sie wünschen.« Colay nahm einen Schluck Wein und musterte sie über den Rand des Glases hinweg. Erim hatte das ungute Gefühl, dass er jede Regung auf ihrem Gesicht erfasste, um daraus Rückschlüsse für die optimale Verhandlungsstrategie zu ziehen. Also bemühte sie sich um eine möglichst ausdruckslose Miene.
»Wir beide, Frau Sariz, verfolgen dasselbe Ziel. Wir wollen, dass diejenigen, die Raubbau an diesem Planeten betrieben und meine Familie in den Ruin gestürzt haben für ihre Taten bezahlen. Doch solange die Regierung ihre schützende Hand über den Vicariumabbau hält und dessen schädliche Wirkung ignoriert, sind uns beiden die Hände gebunden.«
Er schwieg eine Weile und ließ den Wein im Glas bedeutungsschwanger hin und her schwappen. »Doch nun nehmen wir an, es gäbe Aufzeichnungen, die belegen, dass die Sanwa Mining Corporation damals zahlreiche Sicherheitsbestimmungen missachtet hat und dass die Regierung – wider besseres Wissen – keine Sanktionen dafür verhängt hat. Schließlich ging es um viel Geld, um Arbeitsplätze, um Wohlstand. Was ist da schon ein einzelner Planet wie Ranun?«
Erims Mund wurde trocken und sie griff nach dem Weinglas. »Sie bluffen.«
Colay gab keine Antwort, stattdessen stand er auf und trat auf die Holzvertäfelung hinter dem Tisch zu. Er drückte seinen Daumen in eine kleine Vertiefung, einige Linien leuchteten auf und zu Erims Überraschung öffnete sich ein nahezu unsichtbarer Safe in der Wand. Erim erwartete ganz theatralisch einen altmodischen Packen Papier, doch Colay nahm lediglich einen Datenchip heraus.
»Sehen Sie es sich selbst an, Frau Ministerin.« Er drückte auf eine weitere Stelle an der Wand, die Paneelen flimmerten und Erim staunte nicht schlecht, als sie feststellte, dass sich dort ein Bildschirm und eine kleine Konsole befanden. Im Nachhinein fragte sie sich, ob die Holzvertäfelung überhaupt echt war oder nur ein hochwertiges Hologramm.
Colay schob den Chip ins Lesegerät und auf dem Bildschirm bauten sich einige Dokumente auf. Er zoomte näher heran, sodass Erim die Texte lesen konnte. Sie überflog die Zeilen nur, doch was sie sah, trieb ihr Schweiß auf die Stirn. Die Firma hatte sich massiver Verstöße gegen Regierungsbestimmungen schuldig gemacht, hatte tonnenweise Vicarium aus tieferen Erdschichten extrahiert, Sicherheitsvorgaben ignoriert und war verschiedenen Meldepflichten nicht nachgekommen.
»Sehen Sie sich das an.« Colay rief ein weiteres Dokument auf und Erim sog scharf die Luft ein. Unter anderen Umständen hätte sie sich aus den Messwerten und Tabellen in dem dargestellten Gutachten keinen Reim machen können, doch im Zuge ihrer Recherchen für den Solarausschuss hatte sie sich ständig mit diesen Kalkulationen beschäftigt. Bodenproben, Temperaturkurven, alles bezogen auf den Vicariumabbau von Ranun – und die Schlussfolgerungen des Gutachtens waren verheerend. Der Abbau hatte zu einem mittleren Temperaturanstieg von fast zwei Grad geführt, zu einer massiven Freisetzung von Treibhausgasen und einer Destabilisierung des Ökosystems. Genau die Folgen, die Erim der Regierung immer wieder vor Augen gehalten hatte.
Sie atmete tief durch, krümmte ihre Finger und dehnte sie wieder. Wenn diese Unterlagen echt waren, hielt Colay die Beweise in den Händen, nach denen sie immer gesucht hatte, und genau das machte sie stutzig. Es war zu perfekt. »Wieso sollte ich Ihnen glauben, dass die Unterlagen keine Fälschungen sind?«
»Eine gute Frage. Sehen Sie sich die Codes an.« Colay zoomte näher, um Erim die Zahlen- und Ziffernfolgen zu zeigen. »Jedes Dokument trägt eine offizielle Eingangssignatur der Regierung. Ich habe sie mehrfach von meinen besten Spezialisten prüfen lassen, sie sind echt. Diese Dokumente lagen dort auf einem Schreibtisch, zumindest virtuell. Offenbar wurden sie aber nie bearbeitet, vermutlich hält man sie für vernichtet.«
»Da ich die Authentizität nicht überprüfen kann, werde ich Ihnen das glauben müssen.«
»In der Tat.« Colay lächelte fein. »Aber lassen Sie mich fortfahren, dann werden Sie sehen, warum ich keinen Nutzen aus einer Fälschung ziehen würde.«
Erim lehnte sich zurück, rang um ihre Fassung. Sie durfte sich ihre Anspannung nicht anmerken lassen, die ihm zu sehr in die Hände spielte. »Ich bin gespannt.«
Colay schaltete die Wiedergabe ab. »Wenn diese Dokumente ans Licht der Öffentlichkeit gelangen würden, gäbe das einen handfesten Skandal. Sie beweisen, dass die Regierung von den schädlichen Folgen des Vicariumabbaus wusste und dass sie kritische Zwischenfälle unter den Teppich gekehrt hat. Nur sind sie in meinen Händen leider weitgehend nutzlos. In den Händen einer Regierungsbeamtin hingegen, noch dazu der amtierenden Umweltministerin, sähe das schon ganz anders aus, nicht wahr?«
»Sie wollen, dass ich diese Dokumente vor dem Senat offenlege?«
»In der Tat. Ich will, dass die Firma, die meiner Familie ihre Lebensgrundlage entrissen hat, bis auf den letzten Credit ausblutet. Das ist der Deal, den ich Ihnen anbiete, Frau Sariz.« Er setzte sich wieder ihr gegenüber auf seinen Platz. »Sie erhalten diese Unterlagen und verpflichten sich, den Inhalt an die Öffentlichkeit zu bringen. Ich bekomme Gerechtigkeit und Sie haben endlich die Chance, die Regierung von den Gefahren des Vicariumabbaus zu überzeugen. Sie sehen also: Würden diese Unterlagen einer Echtheitsprüfung nicht standhalten, gewänne ich nichts.«
Erim musterte Colay eine ganze Weile, während es in ihrem Kopf arbeitete.
Colay lächelte begütigend. »Sie glauben mir noch immer nicht.«
»Wundert Sie das? Diese Unterlagen hier, warum sollten sie überhaupt noch existieren? Warum sollte die Regierung belastende Dokumente wie diese behalten, statt sie zu vernichten?«
Colay schmunzelte und nahm einen Schluck Wein. »Sie ehren mich, Frau Sariz, wenn sie glauben, ich wäre in der Lage, streng vertrauliche Dokumente aus Regierungssystemen zu stehlen. Diese Unterlagen stammen aus den Archiven der Sanwa Mining Corporation. Sie war nicht nur für den Vicariumabbau auf Ranun zuständig, sondern auch auf zahlreichen anderen Planeten.«
Erim nickte. Die SMC errichtete gerade die neue Vicariummine auf Irah, für die sie heute – war das heute? – die Eröffnungsrede hätte halten sollen. »Sie wollen sagen, die Firma habe sich abgesichert? Für den Fall, dass es eines Tages Regressansprüche gäbe?«
»So ist es. Diese Unterlagen sind die Originale, sofern Sie sich das gefragt haben, meine Leute haben täuschend echte Kopien auf den Systemen von SMC hinterlassen.«
»Wie haben ausgerechnet Sie von den Dokumenten erfahren?«
»Ich habe meine Quellen.« Er schnitt den Rest seines Steaks in kleine Stücke. »Ich warte schon seit Jahren auf meine Chance, der SMC einen Denkzettel zu verpassen, und unverhofft ergab sich eine Gelegenheit, zuzuschlagen. Eine Whistleblowerin, die ihrem ehemaligen Arbeitgeber den Gnadenstoß versetzen wollte und bereit war, an mich zu verkaufen.«
»Sie haben keine Kosten gescheut, nicht wahr?«
Colay neigte sich nach vorne, sein bohrender Blick traf Erims. »Diese Angelegenheit ist mir wichtig, Frau Ministerin. Sehr wichtig sogar. Und ich weiß, dass Ihnen ebenso viel daran liegt, den Vicariumabbau endlich zu beenden. Zum Wohle Ranuns – und der Föderation.«
»Natürlich. Sie sind ein wahrer Wohltäter.«
Colay lachte und breitete die Arme aus. »Ich bin ein Verbrecher, Frau Sariz. Aber Sie, Sie könnten zur Wohltäterin werden. Sie müssen nur auf unser kleines Abkommen eingehen.«
Erim atmete tief durch. Colays joviale Art machte es ihr schwer, die nötige Distanz zu wahren und sich daran zu erinnern, wie gefährlich der Mann war, der ihr gegenüber saß. Wie berechnend seine Schmeicheleien waren und wie leicht er ihr einen Haufen Lügen auftischen konnte.
»Ich glaube Ihnen nicht, dass es nur um späte Rache geht. Rache füllt weder den Magen noch Ihren Geldbeutel. Sie haben viel Geld für meine Entführung und diese Dokumente ausgegeben, ich bin mir sicher, Sie versprechen sich mehr davon als nur Genugtuung. Also – was wollen Sie wirklich von mir?«
Colay schwieg eine ganze Weile und konzentrierte sich auf seine Mahlzeit. Angespannt sah Erim ihm dabei zu, wie er den Rest des Steaks aß und mit dem letzten Bissen die verbliebene Soße auf dem Teller aufwischte. Genüsslich tupfte er sich die Mundwinkel mit einer Serviette ab. »Köstlich, wirklich. Sie sollten das gute Fleisch nicht vergeuden, es wäre schade darum.«
»Beantworten Sie meine Frage, dann überlege ich es mir.«
»Ich war völlig offen zu Ihnen. Zugegeben«, er lächelte, »vielleicht habe ich auch ein paar Optionen darauf gesetzt, dass die Aktien von SMC demnächst in den Keller sinken. Oder habe Wertpapiere bei der Konkurrenz erworben. Aber all das muss Sie nicht interessieren. Wirklich von Bedeutung ist nur, dass Sie SMC wirtschaftlich vernichten, indem Sie die Dokumente vor dem Senat offenlegen. Ich bekomme meinen Frieden und Sie eine zweite Amtszeit.«
Erim sog scharf die Luft ein. Verdammt, Colay hatte ihren sensiblen Punkt gefunden und legte jetzt genüsslich den Finger in die Wunde. Die Entführung würde ihr vielleicht eine gewisse Publicity einbringen, doch für politische Erfolge genügte das nicht. Wenn sie hingegen Colays Unterlagen offenlegte, konnte sie beweisen, dass sie all die Jahre recht gehabt hatte. Ihre Solaroffensive würde vielleicht eine zweite Chance bekommen. Sie selbst würde eine zweite Chance bekommen. Geschäfte mit Kriminellen waren zweifellos unmoralisch, aber das Verhalten der Regierung war nicht weniger gewissenlos gewesen. Es war nur eine Korrektur, oder nicht? Eine Option, begangenes Unrecht zu begradigen.
Colay mochte unrechtmäßig an die Dokumente gelangt sein, vermutlich musste sie sich eine gute Ausrede einfallen und die Unterlagen sicherheitshalber auf Echtheit prüfen lassen, aber spielte das eine Rolle?
Jahrhundertelang hatte die Regierung sehenden Auges Raubbau an Planeten betrieben, hatte die Menschen dort in den Ruin gestürzt und ihnen die Lebensgrundlage entzogen. Das musste aufhören. Sie verschaffte Colay keinen Vorteil bei seinen krummen Geschäften, wenn sie auf seinen Deal einging. Nun ja, keinen direkten Vorteil, jedenfalls.
Und dennoch, der Gedanke, auf sein Angebot einzusteigen, fühlte sich schmutzig an. Wollte sie ihre politische Karriere wirklich auf der Hilfe eines Verbrechers aufbauen? Was würde er in der Zukunft noch von ihr fordern? Würde er gar versuchen, sie zu erpressen? Bestimmt gab es hier Kameras und Wanzenmikrofone, die ihre Unterhaltung aufzeichneten.
Sie sah Colay eindringlich an. »Was, wenn ich ablehne? Wenn ich Ihre Unterlagen nicht will?«
»Wie ich sagte, ich habe nicht vor, Ihnen etwas anzutun. Ich bin mir sicher, die verpasste Gelegenheit wird Ihnen genug Schmerzen bereiten. Vor allem im Zuge der Wiederwahl. Ich habe die Nachrichten verfolgt, glauben Sie mir, und ich kann mir vorstellen, wie viel Häme und Selbstgefälligkeit Ihnen entgegenschlagen wird, wenn ausgerechnet Sie, die Tochter des großen General Sariz, sang- und klanglos von der Bildfläche verschwinden.«
Erim blähte erbost die Nasenflügel. Sie hasste Colay dafür, dass er so verdammt recht hatte. Wie gerne hätte sie es all diesen Großmäulern im Ausschuss und im Senat so richtig gezeigt, allen voran Sarastos, diesem Mistkerl.
Sie wusste genau, was in den Hinterzimmern gemauschelt wurde. Falls das umstrittene Gesetz zur Förderung intergalaktischer Ressourcen, hinter dem auch Leute wie General Tuscar und Sarastos standen, irgendwann bewilligt würde, wurden Bemühungen um regenerative Energiequellen endgültig obsolet. Das Gesetz würde es ALIS und der Föderation erlauben, noch mehr Planeten in noch kürzerer Zeit ohne Rücksicht auf Verluste auszubeuten. So weit durfte es nicht kommen. Bislang war das Gesetz im Senat stets auf Ablehnung gestoßen, aber der Kreis der Unterstützer wurde größer. Auch dank intensiver Lobbyarbeit von Unternehmen wie SMC.
Erim knetete nervös ihre Finger, während sie nachdachte. Die Regierung, der Senat, alle politischen Apparate waren so durchtränkt vom Gedanken an Macht, Geld und Effizienz, dass ihnen ein Dämpfer guttun würde.
Abgesandte sämtlicher wichtiger Firmen saßen in den Senatssitzungen, träufelten den Abgeordneten Gift ins Ohr und spendeten üppige Summen, um die eigenen Anliegen durchzusetzen. Doch wer sprach für die Leute, auf deren Rücken die Firmen ihr Vermögen aufgebaut hatten? Niemand. Das musste einfach aufhören.
»Geben Sie mir eine Galgenfrist?«, fragte sie. »Wie lange?«
»Nehmen Sie sich Zeit. Sie sind fürs Erste mein Gast, wie versprochen. Dennoch, wir wollen nicht, dass sich die Regierung Sorgen um Ihren Verbleib macht, deswegen würde ich gerne Ihre Rückreise noch für den heutigen Tag anberaumen. Unabhängig davon, wie Sie sich entschieden haben.«
Erim nickte langsam. »Gut. Kann ich ... noch etwas Wasser haben?«
»Gewiss.« Colay erhob sich. »Artie wird Ihnen alles bringen, was Sie benötigen. Tun Sie mir den Gefallen und verlassen Sie den Salon nicht auf eigene Faust. Wenn Sie sich frischmachen möchten, wird Artie Sie zum Badezimmer begleiten.« Er schenkte ihr ein wissendes Lächeln, das Erim gar nicht gefiel. Es wirkte so verdammt siegessicher. »Ich bin überzeugt, Sie treffen eine gute Entscheidung.«