In glühender Mittagshitze hockte Amjan auf dem Dach seres Büros und versuchte verzweifelt, den Funk zu reparieren – doch ohne Erfolg. Die Provisorien, die ser aus Draht und Kabeln gebastelt hatte, hielten dem starken Wind und den harschen Witterungsbedingungen einfach nicht stand. Ser brauchte spezifische Ersatzteile, die ser in Kalubs End nicht kriegen würde. In Kasdan vielleicht, aber sicher nicht hier.
Seren Gesicht glänzte vor Schweiß, und der Sand, der daran klebte, kribbelte auf serer Haut. Außerdem knirschten die Scharniere serer Prothese schon wieder bedenklich, obwohl sie frisch geölt waren.
Das Klingeln des Windspiels über der Tür ließ sen aufhorchen. Ser stieg die Leiter hinunter, klopfte sich notdürftig den Staub von den Klamotten und betrat das Büro über die Hintertür.
Eine fröhliche Stimme schallte sem von dort entgegen. »Wie siehst du denn aus? Hast du dich im Sand gewälzt?«
Amjan fiel ein Stein vom Herzen. Mit wenigen Schritten durchmaß ser den Raum und zog Liska innig an sich. »Ich bin so froh, dich zu sehen.« Ser entließ sie aus serer festen Umarmung und betrachtete sie eindringlich. Es waren keine Blessuren zu erkennen, Liska lächelte sogar entspannt und wirkte eigentümlich zufrieden mit sich. »Bist du okay? Wo ist Leyo?«
»Er kommt nach, sieht zu, ob er bei Colay noch ein paar Informationen abgreifen kann. Du weißt schon, wegen ... der Sache.«
Amjan nickte. »Ist alles glattgegangen?«
»Ja, alles wunderbar.«
Amjan legte die Stirn in Falten. Ser kannte diese Art, wie Liska sich die Nase rieb und scheinbar unbeteiligt an sem vorbei den Raum sondierte. Im Gegensatz zu Leyo war sie keine gute Lügnerin. »Süße, sei ehrlich zu mir. Es reicht, wenn Leyo ständig Märchen erfindet, mach du das nicht auch noch.«
Ertappt hob sie einen Mundwinkel. »Du hast recht, sorry. Es ist alles gut gelaufen, wirklich. Es ist nur ... ich muss dir jemanden vorstellen. Hast du kurz Zeit?«
Amjan nickte unschlüssig und folgte Liska nach draußen, die Straße hinunter bis zu ihrer Hütte. Ser konnte nicht anders, das Prickeln in serem Nacken zwang sen dazu, sich ständig umzusehen. Der Tag war trüb und diesig und die Staubwolken reduzierten die Sichtweite auf unter fünf Meter. Das konnte ein Vorteil sein – oder auch nicht.
»Weißt du, wo meine Eltern sind?«, fragte Liska im Gehen. »Der Laden ist zu und es hängt ein Schild davor, dass sie geschlossen haben.«
Amjan schluckte. Wie viel durfte ser Liska erzählen? »Sie sind nach Kasdan aufgebrochen. Wollten deinen Bruder besuchen.«
Liska runzelte die Stirn. »Einfach so? Ohne mir vorher was zu sagen?«
»Nicht ganz. Ich ... erzähl’ es dir, wenn wir zuhause sind, okay?«
Liska wirkte beunruhigt, nickte aber stumm. Sie führte Amjan durch die Haustür in die Wohnstube und deutete auf das Sofa. »Darf ich vorstellen? Das ist Trish. Sie ist für eine Weile bei uns zu Gast.«
Auf der Couch hockte ein Teenager, etwas älter als Sami mit schulterlangem, braunem Haar und zahllosen Sommersprossen im blassen Gesicht. Sie wirkte müde, hatte Ringe unter den Augen und eine Beule an der Stirn. Irritiert blickte Amjan von Trish zu Liska und zurück. »Was hat das zu bedeuten?«
Liska kaute verlegen auf ihrer Unterlippe. »Weißt du ... diese Ware, die wir für Colay beschaffen sollten, das war nicht wirklich eine Ware, sondern viel eher ... also ... «
»Ihr habt sie entführt?«, platzte es aus Amjan heraus. Entsetzt starrte ser Liska an. »Das ist nicht dein Ernst.«
»Trishs Schwester arbeitet für die Regierung«, erwiderte Liska kleinlaut, »und Colay wollte mit ihr sprechen. Es war ihm wichtig, dass ihr nichts zustößt. Leyo ist jetzt dort, er passt auf sie auf.«
»Und das Mädchen?«
»Sie war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Wir haben ihrer Schwester versprochen, sie sicher nachhause zu bringen.«
Stöhnend strich Amjan sich durch den Bart. Das kam davon, wenn man serer übermütigen Familie freie Hand ließ. »Scheiße, Liska. Entführung ist eine Nummer härter als das, was Leyo sonst abgezogen hat. Das ist kein Kavaliersdelikt.«
Sie rieb sich verlegen die Nase. »Ich weiß. Wir waren vorsichtig, ehrlich, niemand wurde verletzt.«
Amjan warf Trish mit der Platzwunde an der Stirn einen Seitenblick zu.
»Nicht ernstlich verletzt jedenfalls. Leyo sorgt dafür, dass Trishs Schwester nichts passiert, was auch immer Colay von ihr will.«
Amjan holte tief Luft. Verdammt, das klang alles gar nicht gut. Aber nun, das Kind war in den Brunnen gefallen, es half nichts mehr, Liska dafür zu schelten. »Na gut. Weiß jemand, dass das Mädchen hier ist?«
»Nein, niemand. Wir haben aufgepasst.«
»Gut, immerhin.« Ser schenkte Trish ein Lächeln und reichte ihr die Hand. »Ich bin Amjan, meine Pronomen sind ser/sem. Freut mich.«
Trish erwiderte wortlos seren Händedruck.
»Habt ihr Hunger?«, fragte ser. »Soll ich uns was machen?«
»Oh ja!« Liska rieb sich den Bauch und grinste. »Ich bin am Verhungern.«
*
Während sie Brot mit Karfaunbutter, Käse und etwas Speck aßen, taute Trish allmählich auf. Sie und Liska schilderten in kurzen Worten, was sich bei der Entführung zugetragen hatte. Amjan war hin und her gerissen zwischen Stolz, Entsetzen und dem unangenehmen Gefühl, dass sich vor seren Augen ein Puzzle zusammensetzte, dessen Motiv ser lieber nicht sehen wollte. Colay, die Mine, die Ministerin ...
Ser vertrieb den Gedanken und fragte stattdessen: »Ihr habt das Leck wirklich mit Panzertape geflickt?«
»Besser als nichts.« Trish schob sich ein weiteres Stück Brot in den Mund und kaute eifrig. »Immerhin hat es gehalten. Wir sind sicher hier gelandet.«
»Trish hat ein Talent für Reparaturen«, ergänzte Liska. »Ich wollte ihr nachher mal meine Werkstatt zeigen.«
»Hm.«
Liska legte ihr Messer beiseite und musterte Amjan prüfend. »Was ist los? Irgendwas beschäftigt dich doch. Hat es mit meinen Eltern zu tun?«
Amjan starrte auf seren Teller. Ser hatte das Essen kaum angerührt. »Hier sind ein paar seltsame Dinge passiert, seit ihr aufgebrochen seid. Du erinnerst dich an die Sache mit der Mine? Die Söldnercorps und all das?«
»Klar, sicher.«
»Shefta hatte einen Informanten aufgetrieben, der mit mir sprechen wollte, aber ehe er mir verraten konnte, was er wusste, war er tot. Einiges deutet darauf hin, dass jemand die alte Mine wieder in Betrieb genommen hat, um illegal Tiefenbohrungen vorzunehmen und die letzten Tonnen Vicarium aus dem Gestein zu pressen. Trotz aller Risiken, die damit einhergehen.«
Liska stand der Mund offen. »Aber das ... Wer würde ...?«
»Keine Ahnung. Shefta glaubt, die Regierung stecke dahinter, aber ich habe einen anderen Verdacht.«
»Colay.«
Ser nickte. »Sami war bei mir. Er hat mir ein paar Geschichten erzählt, über krumme Machenschaften, in die Arifas Ehemann möglicherweise verstrickt ist. Außerdem ist mein Funk kaputt, plötzlich, aus heiterem Himmel. Ich kann also keine Verstärkung bei ALIS anfordern. Das stinkt wie ein Haufen Karfaunscheiße. Und dann lässt Colay ausgerechnet die Umweltministerin entführen, die sich gegen den Vicariumabbau stark macht? Ehrlich, ich glaube nicht an Zufall.«
»Aber was will er von meiner Schwester?«, fuhr Trish dazwischen. »Er tut ihr nichts, oder? Leyo hat das versprochen!«
»Und er hält sein Wort«, bestätigte Liska. »Du sagst, dein Funk ist kaputt?«
»Komplett demoliert. Ohne Ersatzteile hab’ ich keine Chance, ihn zu reparieren.«
»Also keine Verstärkung im Ernstfall.«
Amjan seufzte. »Ich hab’ ganz altmodisch einen Brief nach Kasdan geschickt, an die ALIS-Kaserne dort. Aber wir können noch Wetten abschließen, ob er direkt im Altpapier landet oder ob sich jemand die Mühe macht, ihn zu lesen, ehe das Ding geschreddert wird.«
Trish bestrich ein weiteres Brötchen dick mit Karfaunbutter. Ihr Viertes mittlerweile. »Ihr habt ja echt viel Vertrauen in die Regierung, was?«
»Wir sind nur realistisch«, antwortete Amjan. »Das hier ist Ranun, Kleine, nicht Paraphan.«
»Ich bin nicht deine Kleine, okay? Ich bin sechzehn. Wenn meine Eltern keine dämlichen Spießer wären, hätte ich schon einen ordentlichen Job und eigenes Geld.«
Amjan wechselte einen amüsierten Blick mit Liska, sagte aber nichts. Ser bezweifelte, dass die Tochter eines ehemaligen Außenministers der Föderation je im Leben wirklich hatte arbeiten müssen, um etwas zu erreichen. Sem war es ähnlich ergangen, obwohl sere Väter nur einfache Offiziersränge bekleidet hatten. Sere Karriere beim Militär war vorgezeichnet gewesen und trotz mittelmäßiger Schulleistungen hatte sem niemand Steine in den Weg gelegt. Nicht wie bei Leyo oder Liska, die sich jeden Erfolg im Leben hart hatten erkämpfen müssen.
»Guck nicht so«, blaffte Trish. »Das stimmt. Ich hab’ unser Schiff gerettet.«
»Hat sie«, bestätigte Liska. »Na komm, iss auf, dann zeig ich dir meine Werkstatt.«
Amjan wartete, bis die beiden aufgegessen hatten und nahm Liska danach kurz beiseite. »Sei vorsichtig«, raunte ser. »Wenn jemand sie erkennt ...« Ser schluckte. »Ich will mir nicht ausmalen, was die Skorpione mit einer so wertvollen Geisel anstellen könnten.«
»Ich pass auf«, versprach Liska und strich sem über die bärtige Wange. »Mach dir keine Sorgen.«
»Du bist witzig. Ihr habt die Umweltministerin entführt, Leyo steckt knietief in Colays Machenschaften und irgendjemand riskiert möglicherweise eine Umweltkatastrophe, die ganz Kalubs End vernichten könnte. Wie soll ich mir da keine Sorgen machen?«
»Leyo schafft das«, entgegnete Liska. Sie schmiegte sich an Amjans Schulter und ser legte die Arme um sie. »Er kriegt das hin. Und dann überlegen wir gemeinsam, was wir tun. Okay?«
Amjan schwieg und hielt sie fest.
»Meine Eltern«, sagte Liska nach einer Weile. »Hast du ihnen von der Sache mit der Mine erzählt?«
»Nicht direkt«, antwortete Amjan. »Ich hab’ ihnen geraten, Kalubs End für eine Weile zu verlassen. Es schien mir sicherer. Vielleicht übertreibe ich, aber wenn nicht ... Dann weiß ich wenigstens, dass sie in Sicherheit sind.«
Liska nickte langsam. »Was ist mit den anderen Leuten hier? Sollten wir ihnen nicht auch davon erzählen?«
»Ich weiß es nicht.« Amjan seufzte schwer. »Wir haben nicht genug Fahrzeuge, um alle hier zu evakuieren. Schon gar nicht auf einen vagen Verdacht hin. Die meisten würden mich für paranoid halten. Wer weiß, vielleicht hätten sie sogar recht.«
»Du bist nicht paranoid«, entgegnete Liska und streichelte sem sacht den Rücken. »Du willst nur das Beste für die Bevölkerung hier – und dafür liebe ich dich.«
Amjan lächelte mild und genoss für eine Weile schweigend Liskas Streicheleinheiten. »Wir sollten von hier verschwinden«, sagte ser schließlich. »So bald wie möglich. Scheiß auf ALIS, sollen sie mich unehrenhaft entlassen, das ist mir egal. Wir kappen Leyos Chipsignal und dann suchen wir uns irgendwo ein neues Zuhause.«
Liska löste sich aus serer Umarmung. Ihre Unterlippe bebte und in ihren dunklen Augen lag ein verzweifelter Glanz, der Amjan sere Worte sofort bereuen ließ. »Wie stellst du dir das vor? Denkst du, die Galaxis wartet nur auf Leute wie Leyo und mich? Wir haben keinen Schulabschluss, keine Kontakte und kein Geld. Wenn es so einfach wäre, von hier wegzugehen, hätten wir es schon längst getan.«
»Es gibt immer Möglichkeiten. Wir –«
»Amjan, du bist ein Narr«, fiel Liska ihm ins Wort. »Weißt du, wie lange meine Eltern gespart haben, damit wenigstens einer aus unserer Familie einen Abschluss machen und an die Uni gehen kann? Sie haben sich in fünfzig Jahren nie auch nur irgendetwas gegönnt, sondern jeden Ruq beiseitegeschafft. Und trotzdem schuftet mein Bruder Tag und Nacht, um Miete und Essen bezahlen zu können, neben den Studiengebühren.« Sie schluckte hart, ihre Stimme zitterte. »Ich will das nicht, Amjan. Ich will, dass es unser Baby einmal besser hat. Dass es eine Wahl hat, verstehst du? Eine echte Wahl. Die, die ich nie hatte.«
»Ich weiß, Süße.« Amjan küsste sie sanft auf die Nasenspitze. »Doch Ranun bietet keine Perspektiven mehr für unser Kind. Ja, mein Gehalt ist nicht schlecht, aber ich kann auch anderswo Geld verdienen. In der Sicherheitsbranche oder –«
»Wir haben das schon so oft durchgekaut. In einem Konzernjob würdest du eingehen, unser Baby kaum sehen, Nachtschichten schieben. Das wollten wir doch alles nicht. Du wolltest das nicht.«
Amjan seufzte und wischte sich mit der Hand übers Gesicht. »Ja, du hast recht. Ich mach mir einfach Sorgen. Wenn Sheftas Geschichte stimmt, und in der Mine geht irgendetwas Illegales vor sich, dann sind wir alle in großer Gefahr.«
»Seid ihr bald fertig?«, rief Trish vom Sofa rüber. »Sonst gehe ich mir ne Runde die Beine vertreten.«
Liska fluchte. »Du wirst dich doch für ein paar Minuten gedulden können. Göttin!«
»Geh ruhig«, ermunterte sie Amjan und gab ihr einen langen Kuss. Ser war zu weit gegangen, Liska gerade jetzt mit all diesen Dingen zu bestürmen, und bereute seren Vorstoß. »Du hast recht, wir müssen warten, bis Leyo zurück ist. Dann sehen wir weiter.«