Das nächste Beben war anders als die Vorherigen. Es fühlte sich an wie ein tiefes Brummen, irgendwo in den Eingeweiden des Planeten.
Ringsum ertönten Schreie. Menschen ließen sich zu Boden fallen, um nicht zu stürzen, hielten einander fest und umklammerten die wenigen Felsen und kargen Bäume auf dem Plateau.
»Weg von der Kante«, brüllte Amjan – gerade noch rechtzeitig, denn ein weiterer Vorsprung brach ab und stürzte in die Tiefe, wo er Häuser und Hütten unter sich begrub. Die zwei Halbstarken, die eben noch am Rand des Plateaus gestanden hatten, hielten sich panisch aneinander fest.
Das Grollen schwoll an, wurde stärker, bedrohlicher. Leyo sah in der Ferne Funken in den Himmel steigen – flüssige Lava, emporgepresst aus dem porösen Boden. Die brennende Gesteinswalze unter ihnen bäumte sich auf wie ein hungriges Tier.
Dann begann der Felsen zwischen ihnen zu bröckeln. Entsetzen erfüllte die Luft. Leyo packte gerade noch rechtzeitig Kariko neben ihm und zerrte sie zur Seite. Sie fielen nebeneinander in den Staub und krabbelten hektisch weiter, weg von dem immer breiter werdenden Spalt, der sich mitten durch das Plateau zog. Der Felsen brach ab und stürzte in die Tiefe, der Boden hörte nicht auf zu wackeln. Ein Kleinkind brüllte wie am Spieß, Hilfeschreie, Panik.
Leyo lag wie gelähmt am Boden. Scheiße. Aufstehen. Jetzt. Los. Sein Körper gehorchte nicht. Verdammt, die ganze Zeit hatte er einwandfrei funktioniert, warum nicht jetzt?
Er quälte sich auf die Beine, hustete Staub aus seinen Lungen. Endlich ließ das Beben nach. Amjan kniete nicht weit von ihm entfernt am Boden, direkt am Rand des Spalts.
»Weg hier«, ächzte Leyo und ergriff ihn an der Schulter. »Komm schon.«
»Piet«, flüsterte Amjan und starrte auf den Riss im Fels. »Ich hab’ ... ich war zu langsam ...«
Leyos Kehle zog sich zu. Scheiße. Er blickte hinüber auf die andere Seite des Spalts. Die meisten hatten sich auf ihrer Seite zusammen gekauert, ein paar wenige drüben. Schlimm genug, dass die Beben immer heftiger wurden, jetzt waren sie auch noch durch einen zwei Meter breiten Krater voneinander getrennt.
»Sheriff«, brüllte jemand. »Hilf mir! Hier drüben!«
Amjan riss den Kopf herum. Ephi lag ebenfalls am Rand des Spalts, die Arme nach unten gestreckt. Leyo sprintete los, war sofort neben nim. Einer von Sheftas bärtigen Spießgesellen hatte sich gerade noch an einer Kante festklammern können, doch seine Finger drohten abzurutschen. Amjan hockte sich neben Ephi und ergriff den Mann am Unterarm, Leyo tat es sem gleich.
»Auf drei ziehen wir dich hoch, okay? Hilf mit. Eins ... zwei ... drei!«
Leyo zog mit aller Kraft und unter seinem Knie bröckelte der Fels. »Scheiße! Amjan, das geht so nicht.«
»Flach auf den Bauch«, wies ser Leyo und Ephi an. »Verteilt das Gewicht.«
Sie gehorchten, gemeinsam ergriffen sie den Mann an den Armen und zerrten ihn nach oben. Leyo hielt bei jedem Steinchen, jedem weiteren Riss panisch die Luft an, aus Angst, gleich mitsamt dem Felsen in die Tiefe zu stürzen.
Der Mann suchte Halt für seine Füße, fand keinen, sackte ab und grub die Fingernägel schmerzhaft in Leyos Oberarm.
»Es ... es geht nicht«, keuchte er, Schweiß rann über sein Gesicht. »Ich ... ich kann mich nicht –«
»Vergiss es«, unterbrach Amjan ihn scharf. »Du schaffst das. Komm schon. Leyo, hilf mit.«
»Ich tu, was ich kann! Aber der beschissene Felsen ...« Es knackte vernehmlich unter Leyos Oberkörper. Verdammt, das war nicht gut! Egal. »Auf drei, dann noch einmal mit aller Kraft. Eins, zwei, drei!«
Leyo spannte seine Muskeln an, packte zu, zog den Mann nach oben. Der Fels bröckelte, Leyo hielt die Luft an und endlich schaffte es der Kerl, selbständig über die Kante zu robben. Ephi ergriff ihn am Kragen und zog ihn vorwärts, bis er bäuchlings auf festem Boden lag.
Apropos fester Boden.
Leyo sah sich hektisch um. Wie Schlangen krochen die Risse vorwärts, verbreiterten und teilten sich. Leyo blieb liegen und robbte rückwärts vom Spalt weg. Amjan tat es ihm gleich.
Scheiße, der Fels wurde zunehmend instabil. Wenn es noch ein Beben gab, brach vielleicht das ganze Plateau auseinander.
»Bleibt, wo ihr seid«, schrie jemand hinter ihnen. Ein Knacken durchzuckte die Luft. »Bewegt euch nicht!«
Wir sind am Arsch, schoss es Leyo durch den Kopf. Unter ihnen das Feuer, der berstende Fels, immer mehr Explosionen in der Ferne. Er atmete tief durch und griff nach Amjans Hand. Wenn es endete, dann nur so.
*
»Wir sind gleich da.« Liska korrigierte mit den Fingerspitzen einige Koordinaten auf dem Schirm und warf Erim einen Blick zu. »Sind Sie okay?«
Erim nickte stumm. Nein, sie war überhaupt nicht okay. Im Kopf war sie Liskas Geschichte und das Gespräch mit Colay Dutzende Male durchgegangen. Sie hatte keine Beweise, aber es passte. Verdammt, um ein Haar hätte sie zugelassen, dass Colay mit dieser riesigen Schweinerei davon kam! Und das alles nur wegen ihres verzweifelten Wunschs, wiedergewählt zu werden. Wie konnte sie auf das korrupte, kapitalistische Regierungssystem schimpfen und sich im selben Atemzug wie ein Frischling ködern lassen?
Du bist so berechenbar, Erim Sariz. So verdammt berechenbar.
Dennoch kam es ihr unfair vor, Liska mit diesen Gedanken zu überhäufen. Erim hatte ihre Familie in Gefahr gebracht, sie gezwungen, zurück nach Ranun zu fliegen und sich mit Colay anzulegen. Sie hatte Liska genug Ärger bereitet – und auf dem gesamten Rückflug hatte sie sich nicht ein einziges Mal darüber beklagt.
Liska prüfte die Schirme und ihre Augen weiteten sich plötzlich. »Verdammte Fakke!«
Erim richtete sich kerzengerade in ihrem Sitz auf. »Was ist los?«
»Da.« Liska deutete auf den Schirm. »Da sind Schiffe im Orbit von Ranun, fünf Stück. Ein Kreuzer und vier kleinere.«
»Signatur?«
»Keine Ahnung, ich kenne mich mit dem Kram nicht aus, das ist Leyos Fachgebiet. Ich könnte ... Okay, zu spät.«
»Was ist los?«
»Sie rufen uns. Ich hol sie auf den Schirm.«
Erim nickte angespannt. Binnen weniger Augenblicke baute sich ein Bild vor ihnen auf, ein Lidojsi mit glatter, weißer Haut, einer langgezogenen flachen Nase und einem facettierten Augenpaar, gekleidet in eine ALIS-Uniform. Nur wenig später erschien über dem Abbild ein digitaler Namenszug mit den passenden Pronomen: Lieutenant Nasanwe (sie/ihr).
Liska schluckte sichtlich. »Guten Tag, Lieutenant, hier ist Naharra 3. Wir erbitten Landeerlaubnis auf Ranun. Gibt es da ... ein Problem?«
»Landeerlaubnis negativ«, erwiderte Nasanwe prompt. »Ranun ist bis auf Weiteres abgeriegelt.«
»Warum?« Liskas Finger umklammerten die Armlehnen, ihre Stimme zitterte. »Lieutenant, meine Familie ist da unten. Ich kann nicht –«
»Die Lage ist unter Kontrolle«, fiel ihr Nasanwe ins Wort. »Ändern Sie Ihren ...« Sie unterbrach sich und der Blick ihrer Facettenaugen flackerte für einen Moment. »Frau Ministerin Sariz?«
Erim rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her, fasste sich dann aber und reckte das Kinn vor.
Du bist Ministerin der Föderation. Tu was!
»In der Tat, Lieutenant. Ich will mir ein eigenes Bild von der Lage machen, also würde ich Sie bitten, uns passieren zu lassen.«
»Bei allem Respekt, Frau Ministerin, ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist. Es gab ein schweres Erdbeben und massive Flächenbrände in den Distrikten 3 – 14 und 3 – 16, wahrscheinlich durch mehrere Methanexplosionen. Wir schicken gerade eine Aufklärungsmaschine runter.«
Erim schlug das Herz bis zum Hals, sie wagte nicht, Liska anzusehen. Erdbeben. Brände. Methan. Die Folgen von illegalen Vicariumbohrungen – genau wie vermutet. D 3 – 14, da lagen Kalubs End und der Gigantenfriedhof. Und Trish! Was war mit Trish?
»Wir kommen mit«, entschied Erim und war überrascht, wie klar und befehlsgewohnt ihre Stimme klang. »Ich will mir das ansehen. Es gibt Hinweise, dass die Vorfälle mit dem Vicariumabbau auf Ranun zusammenhängen, das ist ganz klar mein Ressort.«
Die Lieutenant zögerte. »Einen Moment, Frau Ministerin. Ich werde das mit meinen Vorgesetzten klären.«
Der Bildschirm erlosch und hinterließ bleiernes Schweigen. Liska starrte fassungslos auf das Display, dann hinaus auf den rötlichen Planeten, der vor ihnen lag. Sie sagte kein Wort und Erim legte intuitiv ihre Hand auf Liskas Arm.
»Es geht ihnen gut«, flüsterte sie, eine Aufmunterung, die sie auch ihrerseits gut gebrauchen konnte. »Ihr Mann ist clever, das haben Sie selbst gesagt, und ich bin mir sicher –«
Liska schüttelte den Kopf und unterbrach Erims Wortschwall. Diese schwieg bedrückt. Sie wollte sich entschuldigen, Liska versprechen, alles wieder gut zu machen, doch das war sinnlos. Sie wusste ja nicht einmal, wie schlimm es um Ranun stand. Ob von den Distrikten überhaupt etwas übrig war. Ob Liskas Familie noch lebte. Oder Trish ... Die Panik presste ihr die Luft aus den Lungen. Nicht daran denken. Bloß nicht daran denken.
Ein Piepsen ließ sie aufhorchen, Liska aktivierte erneut den Schirm. Lieutenant Nasanwes Gesicht erschien vor ihnen. »Frau Ministerin, die Commander hat eingewilligt und ist bereit, Sie zum Krisengebiet zu eskortieren. Sie können unsere Aufklärungsmaschine begleiten, bleiben Sie aber immer in deren Nähe und folgen Sie den Befehlen der Commander.«
Erim atmete tief durch und nickte. »Danke, Lieutenant. Wir warten.«
*
Stille war eingetreten. Das Beben war vorbei, nur der Fels knirschte noch immer bedrohlich. Ein weiterer Schub, und alles würde auseinanderbrechen. Leyo starrte auf seinen Arm und die blutige Stelle. Hätte er doch nur früher an den Chip gedacht. Jetzt war es zu spät. Bis ALIS ankam, wäre das Plateau unter ihnen schon lange zerborsten und ihre Körper lägen zerschmettert irgendwo zwischen Felsbrocken. Und das war noch die bessere Variante.
Amjan hatte den Arm um Leyo gelegt und er lehnte sich gegen sen. Er hätte gerne auch Sami und Arifa an seiner Seite gehabt, aber er wagte nicht, über das instabile Plateau zu laufen. Er konnte sie in der Ferne erkennen, aneinandergeschmiegt, zusammen mit Trish. Immerhin war niemand von ihnen allein.
Die Luft schmeckte nach Staub und Methan, nach Asche und verbranntem Holz. Er schob die Hand in die Jackentasche, um eine Zigarette herauszuziehen, und ertastete dabei einen Chip. Richtig, Colays dreckiges Geld, das hatte er ganz vergessen. Angesichts der Situation kamen ihm tausend Credits extrem belanglos vor.
»Liska wird echt sauer sein«, meinte er nach einer Weile, während er seine Zigarette paffte, und Amjan stieß ein Lachen aus.
»Vermutlich, ja.«
Wenigstens geht es ihr gut. Und dem Baby.«
»Hm.« Leyo schnippte die Kippe beiseite und schmiegte seine Wange gegen Amjans. »Es tut mir leid.«
Amjan sah ihn irritiert an. »Was genau?«
»Alles. Der Job, ALIS, die Entführung ...«
»Leyo, das hat doch nichts mit dir zu tun. Du hättest das nicht verhindern können. Ich war unvorsichtig. Ich hätte sehen müssen, was da läuft, schon viel früher. ALIS hätte noch helfen und intervenieren können, jetzt ist es zu spät.«
»Es ist auch nicht deine Schuld«, erwiderte Leyo. »ALIS hat sich nie für uns interessiert, du hättest dich auf den Kopf stellen können und es wäre nichts passiert. Lass uns das nicht diskutieren, okay?«
Amjan nickte und zog Leyo fester an sich. »Ich verzeih dir. Du mir auch?«
»Ja, klar.« Ihre Lippen trafen sich zu einem langen, innigen Kuss und Leyo musste lächeln. »In deinem Arm zu sterben ist immerhin noch unter meinen Top Fünf der besten Todesarten.«
»So?« Amjan hob die Brauen. »Was wäre für die Top Drei nötig gewesen?«
»Weniger Kleidung. Oder eine fette Weltraumschlacht.«
»Oder beides?«
Leyo grinste. »Du kennst mich.«
Stumm schmiegten sie sich aneinander, da ertönte in der Ferne ein weiterer Knall. Leyo schloss ergeben die Augen. Die nächste Explosion. Gleich das nächste Beben. Das Letzte vielleicht. Nein – er hatte keine Lust, abzutreten. Jetzt noch nicht. Und schon gar nicht wegen dieses Dreckschweins Colay!
Auch durch Amjans Körper ging ein Zucken, dann stieß ser Leyo mit dem Ellbogen in die Seite. »Scheiße, Leyo. Sieh dir das an.«
*
Der Anblick war grauenhaft. Erim spürte regelrecht, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich. Brennende Felder, so weit das Auge reichte. Risse, die sich in den staubigen Boden gegraben hatten, zersplitterte Felsbrocken. Farmen, von denen nur Asche übrig war. Und da, wo noch vor wenigen Tagen Colays Anwesen und die Vicariummine gewesen waren, klafften tiefe Löcher, aus denen glühendes Gestein an die Oberfläche drang und sich mit unaufhörlicher Gewalt einen Weg bahnte.
»Das war Cardie.« Liskas Stimme brach. »Da vorne. Da ist ... nichts mehr. Nur Feuer.«
»Vielleicht haben sie evakuiert«, warf Erim ein, ohne wirklich daran zu glauben. Das alles musste binnen Stunden passiert sein. Kaum genug Zeit, um sich vorzubereiten. Nein, nicht an Trish denken, bloß nicht daran denken. »Es gibt bestimmt Überlebende. Wir müssen sie nur finden.«
Ein Funkspruch piepste auf dem Schirm, Liska nahm ihn wortlos an. Auf dem Display erschien das Bild eines Menschen in Erims Alter mit schneeweißer Kurzhaarfrisur und Seitenscheitel. »Commander Ranjel Laveki (sie/ihr)« stand darüber.
»Frau Ministerin, hier ist Commander Laveki, ich leite diese Aufklärungsmission. Unser Wissenschaftsteam geht derzeit davon aus, dass es mehrere unterirdische Methanexplosionen nahe der ehemaligen Vicariummine gab, dadurch wurde in den frühen Morgenstunden ein erstes Erdbeben ausgelöst. In diesem Teil von Ranun gibt es einige inaktive Vulkane, durch das Beben wurde Magma an die Oberfläche geschleudert und hat den Steppenbrand und weitere Explosionen verursacht. Eine Kettenreaktion.«
»Wie kam es dazu?«, fragte Erim. »Irgendetwas muss die Methanexplosion ausgelöst haben.«
»Das wissen wir noch nicht. Wir –«
»Ist doch scheißegal«, fuhr Liska dazwischen. »Gibt es Überlebende? Wo sind sie? Wir müssen sie finden!«
Die Commander schob auf ihrer Seite des Cockpits einige Daten über den Schirm. »Unsere Scans zeigen etwa hundertfünfzig Menschen auf einem Plateau südwestlich von hier. Wir nehmen Kurs und ich fordere weitere Shuttles an.«
»Schicken Sie mir die Koordinaten.« Liska drückte einige Knöpfe. »Freigabe erteilt.«
Die Commander zögerte, doch als Erim eindringlich nickte, kam sie Liskas Aufforderung nach und sie nahmen direkt Kurs.
»Das ist bei Kalubs End«, murmelte Liska. Sie flogen deutlich unterhalb der Stratosphäre, aber hoch genug, um weit über dem Flammenmeer zu sein. Die Sicht war durch Rauch und Wolken massiv eingeschränkt, Liska jedoch schien das nicht zu stören, sie steuerte die Naharra mit nahezu traumwandlerischer Sicherheit durch das Inferno.
»Da vorne.« Sie deutete auf dem Schirm. »Wir sind gleich da. Drücken Sie die Daumen, okay?«
Erim nickte und kreuzte ihre Finger im Schoß. Liska überflog die Stelle und aktivierte alle Kameras und Sensoren. »Das sind sie!« Ihre Stimme überschlug sich fast. »Da ist Rubha. Und Arifa. Und ... da ist Leyo!« Sie vergrub das Gesicht in den Händen, ihr ganzer Körper zitterte. »O Göttin, danke, danke, danke.«
Auch Erim starrte auf den Bildschirm. Die Sicht war nicht besonders gut, sie konnte Trish nirgends erkennen, aber sie hoffte einfach, dass sie dort war. »Was können wir tun? Können wir landen?«
Liska zögerte und schüttelte den Kopf. »Nein, siehst du die Risse da? Das ...« Sie unterbrach sich erschrocken. »Oh, sorry, ich wollte nicht ...«
Erim winkte ab. »Schon gut. Lassen wir das mit dem Siezen.«
»Okay. Also, die Risse, vor allem der Spalt in der Mitte, die sind zu tief. Ich fürchte, wenn wir landen, reißt es das ganze Plateau auseinander. Aber wir haben immer noch eine Rettungskapsel, die hat zwar keine Steuereinrichtung, aber eine Rückholfunktion. Ich klinke dich aus, du landest und wir holen so viele Leute damit an Bord, wie wir können. Ein Dutzend kriegen wir hier sicher irgendwie unter und die ALIS-Leute kommen bestimmt gleich.«
Erim nickte und löste ihren Sicherheitsgurt. Ihre Knie waren weich wie Butter. »Okay. Ich geb’ Bescheid, wenn ich drin bin.« Sie verließ das Cockpit, ging an den Kabinen vorbei bis zu den Rettungskapseln. Eine fehlte, aber die Zweite war noch intakt. Erim öffnete die Kapsel, kletterte hinein und schloss das Schott. Mit etwas Not fanden hier drei Leute Platz – es würde verdammt lange dauern, alle zu evakuieren. Mit zitternden Fingern griff sie nach dem Helm und setzte ihn auf, danach starrte sie unschlüssig auf die Armaturen. Für eine einfache Rettungskapsel ohne eigenes Steuerungssystem hatte das Ding überraschend viele Schalter und Hebel. Es dauerte, bis sie den Knopf fand, der eine Funkverbindung zum Cockpit herstellte. »Liska, hörst du mich? Ich bin drin.«
»Okay«, kam es aus den Lautsprechern. »Die Kapsel hat einen Autopiloten, ich programmiere ihn von hier aus, du kannst einfach drin sitzen und warten. Mit dem Steuerstick kannst du koordinieren, wo du genau runterkommst, das geht mit den Koordinaten nicht perfekt. Für den Rückflug musst du nur die R-Routine aktivieren. Siehst du das irgendwo?«
Erim starrte auf das Display. »Ah, ja. Hier. R-Routine.«
»Sehr gut. Du klickst es an, bestätigst und die Kapsel navigiert zum Schiff zurück, sofern es in Funk-Reichweite ist und ich die Freigabe erteile.«
»Alles klar. Werde ich schon schaffen.« Sie atmete tief durch. »Wir sehen uns dann. Klink mich aus.«
»Auf drei. Eins, zwei, drei.«
Die Kapsel löste sich mit einem Ruck aus der Verankerung und trudelte dem Boden entgegen. Kurz überkam Erim Panik, doch dann zündeten die Triebwerke und der Autopilot steuerte sie zielgerichtet auf das Plateau zu. Wie von Liska angewiesen, justierte sie den Landeplatz mithilfe des Steuersticks und sorgte dafür, dass sie nicht direkt neben dem dicken Riss landete, der sich quer durch den Felsen zog. Sie öffnete das Schott und sofort füllte heiße, nach Schwefel, Rauch und Methan stinkende Luft Erims Lungen. Sie hustete heftig und blinzelte die Tränen aus ihren Augen, ehe sie sich umblickte. Die Menschen ringsum sahen allesamt mitgenommen und entkräftet aus, ihre Kleider waren von Staub oder Asche bedeckt und viele hatten sichtbare Verletzungen.
Ein Mensch mit breitem Kreuz, dichtem, schwarzem Vollbart, einseitig ausrasiertem Haar und mehreren ALIS-Abzeichen auf der schmutzigen Jacke löste sich aus dem Pulk und kam auf Erim zu.
Er musterte sie einen Moment und reichte ihr dann die Hand. »Lieutenant Amjan Naskar, Pronomen ser/sem, ich bin die hiesige Distriktaufsicht.«
Das war also Liskas und Leyos Partnerperson. »Es freut mich, Sie kennen zu lernen. Ich bin Erim Sariz, Umweltministerin der Föderation. Ihre Frau wartet oben im Schiff, sie kann hier nicht landen, aber mit der Kapsel können wir ein paar Leute auf die Naharra bringen. Ein Aufklärungsschiff von ALIS ist auch hier, sie schicken Verstärkung.«
Amjan atmete tief durch und ein erleichtertes Lächeln erhellte sere Züge. »Ich bin wirklich froh, Sie zu sehen. Wie viele Leute passen in die Kapsel?«
»Drei, mit Kindern vielleicht mehr. Sie müssen nur auf den Knopf mit dem grünen R drücken, dann navigiert die Kapsel zum Schiff zurück.« Sie schluckte und beobachtete die Umstehenden. »Sagen Sie, ich ... Wo ist meine Schwester?«
»Sie sitzt da hinten, es geht ihr gut. Nun, den Umständen entsprechend, sie hat sich den Knöchel verstaucht. Wenn Sie zu ihr wollen, seien Sie vorsichtig. Der Fels ist verdammt bröcklig.« Ser hob die Stimme und wandte sich an die Umstehenden. »Okay, Leute, wir beginnen mit der Evakuierung. Verletzte und Kinder zuerst. Bleibt ruhig und behaltet die Nerven, ja, wir kommen alle hier weg. Bewegt euch nicht mehr als nötig, wir müssen das Gewicht sinnvoll verteilen, damit der Felsen nicht weiter bricht.«
Erim machte sicherheitshalber einen Schritt zur Seite. Sie erwartete Gedränge, wüste Flüche, lautstarke Streits darüber, wer zuerst gehen durfte – doch nichts dergleichen geschah. Die Leute diskutierten untereinander, bildeten Reihen, machten Eltern mit Kleinkindern und Babys Platz und brachten Verletzte nach vorne.
Ein Kloß steckte in Erims Kehle. An diesem Ort, so weit entfernt vom Zentrum der Föderation, abgehängt von der Regierung, hatte sich eine kleine, solidarische Gemeinschaft gebildet. Eine Gruppe Menschen, die einander beistand, statt sich in Profit- und Machtgier gegenseitig zu zerfleischen – zumindest dann, wenn es wirklich darauf ankam. Und genau diese Utopie hatten Gierhälse wie Colay und die Sanwa Mining Corporation für immer zerstört.
Schwermütig hielt sie Ausschau nach Trish und entdeckte sie schließlich. Ein Teenager mit schwarzen Locken stützte sie auf einer Seite, damit sie ihren verletzten Fuß nicht belasten musste. Als sie Erim erblickte, löste sie sich von ihrem Begleiter, humpelte vorsichtig einige Schritte vorwärts über den rissigen Boden und fiel ihrer Schwester schluchzend in den Arm.
Erim hielt sie fest und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Es tut mir leid, Kleines«, flüsterte sie. »Ich hatte keine Ahnung ... ich ...« Ihre Stimme brach. Trish schluchzte leise, fasste sich aber schnell und sah Erim aus geröteten Augen an.
»Ich bin so froh, dass du da bist. Ich ... ich dachte ...«
»He, Trish.« Die Stimme kam Erim bekannt vor. Sie wandte sich um und erblickte Leyo, der ihnen zuwinkte. »Komm, für dich ist noch ein Platz in der Kapsel.«
»Schon okay«, widersprach Trish. »Ich kann warten.«
»Wie du m–«
Ein ohrenbetäubender Knall zerriss Erim fast das Trommelfell. Trish in ihrem Arm keuchte auf, Schreie wurden laut.
Erim wurde zur Seite gestoßen. Fassungslos sah sie zu, wie die Risse, die den Boden wie Adern durchzogen, regelrecht aufplatzten und Meter um Meter des Felsens verschlangen.
»In die Kapsel!«, hörte sie Amjan brüllen. »Los, rein mit euch!«
Erims Herz donnerte in ihrer Kehle und sie presste ihre Schwester panisch an sich.
»Frau Ministerin!« Leyo gestikulierte zu ihr herüber, während die Kapsel zur Naharra emporstieg. »Los, kommen Sie rüber. Aber langsam.«
Erim schob Trish sacht in seine Richtung. »Geh. Ich komm nach.«
»Aber du –«
»Geh schon.« Um nichts in der Welt hätte Erim zugelassen, dass man sie von hier fortbrachte, solange noch Leute auf Rettung warteten. Das alles hier war ihre Schuld. Die Schuld der Regierung, die Schuld derer, die über Jahrzehnte weggesehen und den Zerfall Ranuns geduldet hatten ... Sie würde erst gehen, wenn alle anderen in Sicherheit waren.
Minuten verstrichen. Das Beben hatte aufgehört, die Leute ringsum hielten den Atem an. Niemand wagte, auch nur einen unnötigen Schritt nach vorne zu machen aus Angst, der Felsen könnte endgültig zerbrechen.
Langsam schwebte die Kapsel wieder zu ihnen herunter.
Eine verwahrlost aussehende Frau mit Filzlocken und einem Kind an der Hand nahm darin Platz, gefolgt von Trish und dem schwarzhaarigen Teenager, der sie stützte. Ihnen folgte eine Frau mit Braids und einem Kleinkind auf dem Arm. Sie alle pferchten sich in der Kapsel zusammen wie Sardinen in einer Dose – und es warteten immer noch so viele ...
Heißer, nach Schwefel stinkender Wind zerzauste Erim das Haar, sie ließ nervös den Blick schweifen – und erstarrte.
Eine rotglühende Welle walzte sich langsam, aber unaufhörlich in ihre Richtung. Sie zermalmte Häuser, Felder und Steppe unter sich und schien mit jedem Meter zu wachsen.
Erims Knie wurden weich. Sie würden es nicht schaffen. Der Lavastrom würde auf das Plateau aufprallen und dann waren sie alle dem Tod geweiht.
Die Kapsel mit Trish an Bord zündete, wieder verbreiterte sich der Riss ein kleines Stück und Erim hoffte, dass der Fels beim nächsten Start nicht endgültig zerbarst.
Vor Anspannung grub sie die Zähne in ihre Unterlippe und horchte plötzlich auf. Was war das? Ein Dröhnen, irgendwo aus der Ferne. Ein weiteres Erdbeben? Oder ...
Noch ehe Erim ihren Gedanken zu Ende geführt hatte, manifestierte sich über ihnen ein riesiger Schatten, der die Wolke aus Staub und Sand auseinanderriss. Ein ALIS-Aufklärungsschiff – flankiert von zahlreichen Shuttles. Erim atmete auf. Endlich! Es war vorbei!