Angespannt sah Leyo zu, wie die ALIS-Shuttles zur Landung ansetzten. Verdammt, der Felsen war jetzt schon so brüchig, dass er kaum das Gewicht der Anwesenden trug. Eine einzige falsche Bewegung – und das ganze Plateau brach auseinander.
»Kommt hier rüber!«, rief Leyo wild gestikulierend. »Hier ist der Felsen stabiler. Geht vom Spalt weg. Ja, genau, auf allen Vieren ist gut, verteilt das Gewicht.«
Die Shuttles landeten, Leyo hielt den Atem an. Erst geschah nichts – doch dann ertönte ein grässliches Knirschen.
»Weg da!«
Der Spalt neben ihnen klaffte auf. Leyo stieß die Umstehenden zur Seite, weg von der Kante. Eine Felsnase brach ab, Schutt und Erde rutschten hinterher und entfalteten einen mörderischen Sog.
Leyo warf einen hektischen Blick über die Schulter und sah entsetzt, wie die kleine Masani kreischend den Halt zu verlieren drohte. Er fuhr herum, packte das Mädchen um die Hüfte und warf sie wenig galant der nächstbesten Person in die Arme.
Es war nur ein Augenblick, ein Sekundenbruchteil, in dem er nicht auf seinen eigenen festen Stand geachtet hatte. Amjans warnender Schrei kam zu spät. Leyo setzte zu einem Hechtsprung an, doch da brach der Boden unter seinen Füßen weg.
Blind griff er nach vorne und bekam in letzter Sekunde die Kante zu fassen. Seine Füße baumelten kurz in der Luft, dann fand er zumindest für seine Zehenspitzen Platz auf einem Vorsprung. Seine Finger brannten und seine Muskeln ächzten. Nein, jetzt war nicht der Zeitpunkt, um sich seines Alters bewusst zu werden.
»Scheiße!« Sheftas Kopf lugte über die Kante. »Hat mehr Glück als Verstand, der Bursche.« Sie legte sich flach auf den Bauch und ergriff sen an den Schultern. »Los, mithelfen! Sheriff, halt meine Beine fest.«
Leyo spannte seine Muskeln an und wurde Stück für Stück nach oben gezerrt. Auf dem rauen Gestein schürfte er sich die Unterarme auf, doch das war ihm gerade egal. Ächzend zog er sich mit Sheftas Hilfe über die Kante.
»Danke«, keuchte er und lockerte seine verkrampften Muskeln. »Das war ein bisschen knapp.«
»Kannst du laut sagen.« Amjan kroch zu ihm und umarmte ihn innig. »Verdammt, erschreck mich nicht so.« Leyo spürte, wie heftig ser zitterte, und gab sem einen Kuss auf die schweißnasse Stirn.
»Alles gut.« Er grinste schief. »Können wir dann endlich in eines der verdammten Shuttles? Ich will hier weg.«
Amjan nickte. »Nichts lieber als das. Komm.«
Ser half Leyo auf die Beine und sie staksten vorsichtig auf das nächstgelegene Shuttle zu.
Die Naharra über ihnen drehte ab und Leyo nahm an, dass Liska auf dem ALIS-Mutterschiff auf sie warten würde, genau wie der Rest aus Kalubs End.
Ehe er in das Shuttle stieg, wagte er noch einen letzten Blick auf das, was von seinem Zuhause übrig geblieben war. Verbrannte Erde, Asche und glühendes Gestein. Er fühlte ein schmerzhaftes Ziehen in seinem Magen, einen Schmerz, der ihn noch eine Weile begleiten würde. Ein Drecksloch auf einem Drecksplaneten – aber eines, das er geliebt hatte.
Amjan legte ihm sacht eine Hand auf die Schulter. Sie wechselten kein Wort, denn ein Blick genügte, um all die Gefühle zu teilen, die gerade in ihnen wogten. Amjan zog ihn nachdrücklich in das Shuttle und Leyo ließ es geschehen. Es gab hier nichts mehr, von dem man sich verabschieden musste. Das, was Kalubs End für ihn zu einem Zuhause gemacht hatte, war nicht der Sand, nicht die Hitze, auch nicht der Gestank der Karfaune, sondern die Menschen dort. Er würde um jene trauern, die heute gestorben waren, aber gerade war er dankbar um alle, die weiter existierten und das Gefühl der Geborgenheit mit sich nahmen, an einen anderen, einen besseren Ort.
Amjan aktivierte den Autopiloten und das Shuttle trug sie in die Höhe. Schon nach wenigen Augenblicken waren sie von Staub, Sand und Wolken umhüllt. Wehmut krampfte Leyos Magen zusammen und er drückte Amjans Hand fester. Seine Familie war bei ihm oder würde es bald sein. Es ging weiter. Irgendwie.
Sie durchstießen erst die Wolkendecke, dann die Atmosphäre und schwebten schließlich durch das All auf den riesigen ALIS-Kreuzer zu, der vor ihnen im Orbit wartete. Über den kleinen Schirm flimmerten Codes und der Autopilot navigierte sie zielsicher zu einem Dock im Inneren des Kreuzers. Das Schott schloss sich hinter ihnen und Leyos Puls beschleunigte. Die Situation kam ihm unangenehm vertraut vor. Ratte im Käfig. Nun, das hier war nur ein Kreuzer, keine Raumstation, aber am Gefühl des Eingesperrtseins änderte das wenig.
Amjan entriegelte die Tür und stieg aus, ehe Leyo etwas sagen konnte. In der Abflughalle außerhalb des Docks erwartete sie bereits eine ALIS-Patrouille und Leyo rutschte das Herz in die Hose. Ausgerechnet Ranjel führte sie an.
Amjan salutierte vor ihr. »Lieutenant Amjan Naskar. Ich –«
Ein Aufschrei unterbrach ihn. Aus einem der Gänge kam Liska gelaufen, sie ignorierte die Patrouille und warf sich Leyo in die Arme, der ihr am nächsten stand. Er drückte sie an sich, vergrub das Gesicht in ihrem weichen Haar und spürte, wie ihr ganzer Körper unter einem Weinkrampf erzitterte.
»Macht das ... nie wieder ... mit mir«, stieß sie hervor und rang Leyo einen kurzen, heftigen Kuss ab. »Nie wieder, hörst du! Ich ... ich dachte ... als ich ...«
»Hey.« Leyo küsste sie sanft auf die Stirn. »Es geht uns gut. Nicht aufregen, ja? Das ist nicht gut fürs Baby.«
Sie musste lachen und boxte ihn gegen die Rippen. »Sei still, du Arsch.«
Auch Amjan war jetzt bei ihnen und Leyo zog sie beide an sich. Eine Weile hielten sie sich stumm im Arm, bis Ranjel sich vernehmlich räusperte.
»Verzeihung? Wir waren hier noch nicht fertig.«
Missmutig lösten sie sich voneinander und Amjan trat einen Schritt auf Ranjel zu, um einen Blick auf ihr Abzeichen werfen zu können. »Tut mir leid, Commander, aber das war erst einmal wichtiger.«
Ranjel nickte knapp. »Zur Kenntnis genommen, Lieutenant. Die Captain erwartet Sie auf der Brücke für einen ausführlichen Bericht.«
»Kann meine Familie mitkommen?«, fragte Amjan. »Sie können einiges zur Sachlage beitragen.«
Leyo war sich sicher, dass Ranjels Blick einen Moment länger auf ihm ruhte als auf Liska, doch schließlich nickte sie. »Meinetwegen. Kommen Sie mit.«
Sie folgten Ranjel und ihrem Trupp durch einige Gänge des Schiffs, durch Sicherheitsschranken und Schleusen. Leyo fühlte sich erneut unangenehm an seinen letzten Besuch bei ALIS erinnert, keine Erfahrung, die er gerne wiederholen wollte.
Schließlich erreichten sie die Kommandozentrale und Ranjel führte sie in einen sterilen Besprechungsraum, in dessen Zentrum ein ovaler Tisch mit einem Holo-Gerät stand. In einem der unbequem wirkenden Kunststoffsessel saß Erim Sariz, aus einem zweiten erhob sich eine schlanke Frau mit brauner, leicht bronzener Haut, einem fein geschnittenen Gesicht mit deutlichen Lidfalten und kurzgeschorenem schwarzem Haar. Ihr Alter war schwer zu schätzen, sie war nicht mehr jung, das verrieten die Falten um ihre Mundwinkel, aber Leyo konnte nicht sagen, ob sie nun fünfzig oder eher schon sechzig war.
Ranjel salutierte kurz beim Eintreten. »Captain, das ist Lieutenant Naskar, Distriktverwaltung von 3 – 14 auf Ranun. Ser und seren Begleitung haben Informationen über den Zwischenfall.« An Amjan gewandt fügte sie hinzu: »Lieutenant, Sie sprechen mit der Captain dieses Schiffes, Lia Noreszi, Pronomen sie/ihr.«
Amjan nickte der Captain respektvoll zu und diese deutete auf die freien Stühle. »Bitte, nehmen Sie Platz.«
Auf ein Zeichen der Captain schloss sich die Tür hinter ihnen und Leyos Brustkorb zog sich in Beklemmung zusammen. Wenn die Sache hier überstanden war, würde er jeden Kontakt zu ALIS für eine ganze Weile meiden.
Er beäugte die weißen Plastikstühle und scheiterte am Versuch, sich im Schneidersitz darauf zu setzen. Am Ende winkelte er zumindest das linke Bein an und erntete einen spöttischen Blick von Amjan.
Die Captain räusperte sich vernehmlich. »Nun, werte Anwesende, Frau Ministerin Sariz, ich danke Ihnen für Ihr Kommen. Commander, würden Sie beginnen?«
Ranjel nickte. Sie legte den Arm mit der Hightech-Prothese auf den Konferenztisch, drückte einige Knöpfe und übertrug die Daten auf den integrierten Computer. Im Zentrum baute sich das Hologramm eines Planeten auf. Ranjel zoomte mit einigen Handbewegungen und verwandelte die Kugel in eine zweidimensionale Karte. Mit flauem Gefühl im Magen erkannte Leyo Kalubs End, in einiger Entfernung Cardie, den Friedhof und ein paar andere Landmarken.
»Unsere Daten zeigen mehrere Methanexplosionen in der Nähe der stillgelegten Vicariummine.« Ranjel markierte den Punkt auf der Karte. »Die Explosionen haben tiefe Krater in die Planetenoberfläche gerissen, in einem Radius von etwa zehn Kilometern um die Mine ist nichts mehr übrig. Zum Glück handelte es sich dabei überwiegend um verdorrtes Brachland.«
Liska neben ihm gab ein widerwilliges Geräusch von sich und Leyo ergriff unter dem Tisch ihre Hand. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln, während Ranjel fortfuhr.
»Auf Ranun gab es vor Jahrtausenden zahlreiche aktive Vulkane, die durch Terraforming im Verlauf der Jahrhunderte erloschen sind. Dennoch befand sich in dieser Gegend hier«, sie ließ einen pulsierenden Ring auf der Karte erscheinen, »ein vulkanischer Hotspot. Vermutlich eine unterirdische Magmakammer sowie einige Schlote und Kanäle, die bis knapp unter die Planetenoberfläche reichten. Durch die Methanexplosionen nahe der Mine wurde Magma an die Oberfläche geschleudert und es bildete sich ein massiver Lavastrom, der sich in diese Richtung«, sie zeigte es auf der Karte, »fortbewegt hat. Es entstanden zudem mehrere Brandherde, die alle Felder und landwirtschaftlichen Nutzflächen im Umkreis verheert haben. Die Straße nach Kasdan wurde abgeschnitten, die Stadt blieb allerdings bis auf ein kleineres Beben unversehrt.«
Leyo atmete auf. Er musste sich also keine Sorgen um Marlo machen. Ein schwacher Trost, aber immerhin. Sein Wunsch nach einer Zigarette wurde zunehmend stärker und er versuchte, sich abzulenken, indem er an seinem Verband herumnestelte. Liska schlug ihm nachdrücklich auf die Finger.
»Verluste?«, fragte die Captain in einem so sachlichen Tonfall, als erkundige sie sich nach dem Wetter.
Ranjel seufzte und zog einen roten Kreis über die Karte. »In diesem Umkreis um die Mine ist alles zerstört. Es gibt mehrere tiefe Krater, die vermutlich von den Explosionen stammen. Das Feuer breitete sich in diese Richtung aus. Der Ort Cardie wurde vollständig von den Flammen vernichtet. Die Trupps suchen im Moment nach Überlebenden.«
Leyo schluckte hart. Cardie war deutlich näher am Geschehen gewesen, die Menschen dort hatten viel weniger Zeit gehabt. Die Katastrophe musste binnen ein oder zwei Stunden vollständig über sie hereingebrochen sein.
Ranjel setzte ihren Bericht unbeirrt fort und markierte eine Stelle auf dem Hologramm. »Hier liegt Kalubs End, am Rand des intergalaktischen Schrottplatzes. Lieutenant Naskar hat schnell reagiert und die Bevölkerung auf ein höher gelegenes Plateau evakuiert. Der Großteil der Menschen konnte daher gerettet werden.«
Ein Großteil. Leyos Kehle wurde eng. Evakuiert hatten sie vor allem die, die im Zentrum von Kalubs End gewohnt hatten, entlang der Hauptstraße bis zum Friedhof. Im Umland hatte es viele Dutzend Farmen gegeben, die meisten weit abgelegen. Ein paar von ihnen hatten Shefta und ihre Leute noch erreichen können, ehe sich das Feuer ausbreitete, aber bei Weitem nicht alle. Sie würden als Randnotizen in einem ALIS-Bericht enden. Er ballte unter dem Tisch die Faust. Das war verflucht noch mal nicht fair.
Die Captain tippte nachdenklich mit dem Finger gegen ihr Kinn. »Gibt es Hinweise darauf, wie es zu den Explosionen kam?«
»Dazu kann ich etwas sagen, Captain«, warf Amjan ein und erhob sich. Sere Prothese knirschte vernehmlich, als ser aufstand, und Liska verzog das Gesicht. »Es gab seit einigen Wochen Gerüchte, dass jemand die alte Vicariummine erneut in Betrieb genommen hätte. Ich habe dem zuerst wenig Bedeutung beigemessen, es erschien mir schlicht unwahrscheinlich, aber letztlich wollte ich mich selbst davon überzeugen. Ich kam allerdings nicht weit. Die Mine wurde von Söldnercorps bewacht, die auf alles schossen, was sich näherte. Ich bin gerade so mit dem Leben davon gekommen.«
»Die Mine ist seit fünfzig Jahren stillgelegt«, sagte die Captain mit gerunzelter Stirn. »Es gibt dort kein Vicarium mehr.«
»Nicht an der Oberfläche.« Das war Erim. Ihre Stimme zitterte deutlich. »In den tieferen Schichten durchaus.«
Die Captain sah sie überrascht an. »Diese Bohrungen sind behördlich verboten, in der ganzen Föderation. Die Risiken sind –«
»Das müssen Sie mir nicht erzählen, Captain«, erwiderte Erim spitz, »ich kenne die Gefahren sehr gut. Tiefenbohrungen erhöhen das Risiko von Methanexplosionen. Kommt Ihnen das bekannt vor?«
Die Captain runzelte die Stirn. »Aber wer –?«
»Tar Colay«, fiel Leyo ihr ins Wort. »Ein Verbrecher und Schrottmagnat. Er hat die Mine in Betrieb genommen, das Vicarium aus dem Boden gerissen und sich dann verpisst, um es teuer zu verkaufen.«
Die Captain maß ihn eindringlich mit ihrem Blick. »Woher wissen Sie das?«
Leyo druckste. Scheiße, wie viel konnte er verraten? Er durfte Arifa unter keinen Umständen ans Messer liefern. Wenn ALIS erfuhr, dass sie Colays Tochter war, würden sie ihr die Daumenschrauben anlegen. Er sah zu Ranjel und die deutete mit verkniffener Miene ein Kopfschütteln an. Er nahm das als Zeichen dafür, dass die Captain nichts von ihrem Arrangement wusste und er besser die Klappe halten sollte.
»Ich kann Ihnen das erklären.« Erim sah auf, sie hatte ihren Blick zuvor starr auf die Tischplatte gerichtet und wirkte unschlüssig und nervös. Auch hinter Leyos Schläfen pochte es. Würde sie ihn hinhängen? Sie hatte jedes Recht dazu. Nur seinetwegen waren Erim und ihre Schwester überhaupt in Gefahr geraten. »Ich bin vor einigen Tagen von Paraphan aus Richtung Irah aufgebrochen, zusammen mit meiner Schwester Trishia, um dort eine neue Vicariummine einzuweihen. Dabei wurden wir Opfer einer Entführung, die Tar Colay befohlen hatte.«
Die Captain sog scharf die Luft ein. »Der Verdacht lag nahe, als Sie nicht auf Irah eintrafen. Einer unserer Stützpunkte hatte ein Notsignal empfangen, das wir zu Ihrem Schiff zurückverfolgen konnten.« Leyo fluchte stumm. Das beschissene Notsignal – er war also doch nicht schnell genug gewesen, um es zu kappen. »ALIS hat daher die höchste Alarmstufe ausgerufen und ein Fahndungsbild des potenziellen Entführers erstellt.« Sie nickte Ranjel zu. Die Karte von Ranun verschwand und stattdessen manifestierte sich ein holografischer Kopf in der Mitte des Tisches. Leyo sank ein Stück in seinen Sitz. Die Gesichtszüge waren nicht akkurat getroffen, aber die Ähnlichkeit deutlich genug. Verdammt. Wo hatten sie ihn erwischt? Wahrscheinlich irgendeine Kamera am Raumhaufen in Paraphan, die er übersehen hatte. Gut, immerhin nur er und nicht Liska.
Alle Blicke wandten sich ihm zu. »Ich ... ähm ... kann das erklären.«
»Dazu bekommen Sie noch früh genug Gelegenheit«, erwiderte die Captain streng. »Frau Ministerin, möchten Sie fortfahren?«
Erim seufzte. »Danke. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle hinzufügen, dass Leyo mir nichts angetan hat. Wir sind unversehrt auf Ranun angekommen und er hat dafür gesorgt, dass meine Schwester nicht in Colays Hände gefallen ist.«
Die Captain schürzte die Lippen. »Gut. Wie ging es weiter?«
»Colay wollte mich sprechen. Er bot mir ... einen Deal an.«
»Einen Deal?«
Erim nickte, den Blick starr auf den Tisch vor ihr gerichtet. Sie tat Leyo leid, das Ganze schien ihr schwerzufallen, aber niemand machte Anstalten, ihr wenigstens etwas Zuspruch zu schenken. Sie griff in die Tasche ihres Blazers und hielt Ranjel die offene Handfläche entgegen. »Würden Sie die Daten bitte öffnen? Ich möchte, dass alle das sehen.«
Ranjel zögerte, wechselte einen Blick mit ihrer Vorgesetzten und diese nickte. Mit einem Griff an ihre Schläfe aktivierte Ranjel eine Funkverbindung. »IT, hier Commander Laveki. Besprechungsraum 3B-1 A bitte vom Intranet trennen und Firewall hochfahren. Nicht identifizierter Datenchip aus unklarer Quelle wird eingelesen.«
Leyos Hologramm verschwand, stattdessen tanzten rote Zahlen und Codes über die glatte Oberfläche des Tisches. Schlussendlich steckte Ranjel den Chip in ein integriertes Lesegerät und öffnete den Inhalt. Es waren verschiedene Dokumente, die Leyo auf die Schnelle nicht einordnen konnte. Aber er erkannte das Wasserzeichen: SMC, Sanwa Mining Corporation.
»Colay gab mir diese Aufzeichnungen«, erklärte Erim. »Es sind Unterlagen von SMC, die dokumentieren, dass beim Betrieb der Mine Sicherheitsvorkehrungen bewusst missachtet wurden, um mehr Profit herauszuschlagen. Auch mit Kenntnis der Regierung.«
Die Captain scrollte durch die Dokumente und ihre Miene wurde zunehmend finsterer. »Commander, gab es nicht vor einer Weile einen Cyberangriff auf SMC?«
»Ja, Captain. Die Hacker haben kaum verwertbare Spuren hinterlassen, aber unsere Cybercrime-Einheit ist dran. Eine Verbindung zum organisierten Verbrechen war nicht auszuschließen.«
»Warum hat Colay Ihnen das gegeben?«, fragte nun Amjan. »Was wollte er von Ihnen?«
Erim atmete tief durch. »Er wollte, dass ich die Unterlagen im Senat offenlege, damit die Verfehlungen der SMC und der damaligen Regierung ans Licht kommen. Deswegen gehe ich stark davon aus, dass sie echt sind. Colay behauptete, er wolle Genugtuung, Rache an der SMC und der Regierung für den Raubbau an seinem Planeten.«
Amjan zog die Augenbrauen hoch. »Und Sie haben sich dafür einspannen lassen?«
»Was hätten Sie denn getan?« Erim beugte sich über den Tisch, ihre Unterlippe zitterte. »Ich saß allein einem verdammten Verbrecherboss gegenüber. Und abgesehen davon: Was, wenn es stimmt? Wenn diese Unterlagen echt sind? Ja, die Quelle war fragwürdig, aber die Dokumente bestätigen alles, was ich seit Ewigkeiten predige: Sicherheitsverstöße, Klimaveränderungen, Temperaturanstieg – alles! Die SMC und die Regierung haben all das gewusst und sie haben trotzdem weitergemacht!«
Ein bitteres Lächeln zog an den Mundwinkeln der Captain. »Ein Garant für Ihre Wiederwahl.«
Erim senkte betroffen den Blick. »Ja. Auch das. Tatsache ist: Ich habe angenommen und Colay hat befohlen, mich sicher nach Irah zu bringen. Aber auf dem Weg kamen mir Zweifel. Liska hat mir von den Aktivitäten an der Mine erzählt, von den Befürchtungen, jemand könne sie illegal ausschlachten. Und in dem Kontext ergab Colays Angebot plötzlich ein ganz neues Bild.«
Während Leyo die Ministerin noch fragend anblickte, schien die Captain den Zusammenhang bereits zu erahnen. »Sie glauben, Colay selbst hat die verheerenden Folgen in Kauf genommen, um sie der SMC und der Regierung in die Schuhe zu schieben.«
Erim nickte. »Nach der Katastrophe wären alle Spuren vor Ort beseitigt gewesen. Diese Dokumente legen nahe, dass die SMC und die Regierung bewusst den schleichenden Verfall Ranuns in Gang gesetzt und damit die Katastrophe herbeigeführt haben. Dafür gibt es zwar keine Beweise, aber für die Medien wäre das ein gefundenes Fressen gewesen. Die SMC-Aktien stürzen in den Keller, der Vicariumpreis explodiert, Minen werden geschlossen –«
»– und Colay verpisst sich mit Tonnen von Vicarium, die jetzt ein Vermögen wert sind«, ergänzte Leyo, bei dem nun der Groschen gefallen war. »Ja, das passt zu ihm. Nur ist die Mine schneller hochgegangen, als er geahnt hatte. Eine Woche später und niemand hätte mehr Verdacht geschöpft.«
»Genau das«, bestätigte Erim. »Ohne den mutigen Einsatz von Lieutenant Naskar und seiner Familie wäre sein Plan vermutlich aufgegangen und es wären noch wesentlich mehr Menschen gestorben.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Und ich hätte diesem Verbrecher aus reiner Naivität in die Hände gespielt.«
Die Captain grübelte eine Weile, schließlich fragte sie: »Warum haben Sie uns nicht sofort informiert, Lieutenant? Wir hätten Verstärkung schicken können.«
»Ich konnte nicht«, antwortete Amjan. »Colays Leute haben meine Funkeinheit in Kalubs End lahmgelegt. Ich habe eine Nachricht nach Kasdan geschickt, aber ich fürchte, die kam nicht mehr rechtzeitig an. Und bei allem nötigen Respekt, Captain, ALIS hat sich noch nie um Ranun oder gar um Kalubs End geschert. Ich war nicht besonders optimistisch, wirklich Gehör zu finden. Zumal es keine Beweise für meine Vermutung gab, dass jemand die Mine ausschlachtet. Es hätte auch eine paramilitärische Einheit sein können oder Schrotthändlerbanden, irgendwas Harmloses.«
Die Captain schmunzelte. »Es spricht Bände, dass Sie eine bewaffnete Einheit als etwas Harmloses empfinden, Lieutenant.«
»Im Vergleich zu einer Naturkatastrophe dieses Ausmaßes? Ja.«
Einen Moment scrollte die Captain durch die Unterlagen, dann fragte sie: »Wissen Sie etwas über Tar Colays Verbleib?«
»Er ist weg«, antwortete Leyo und änderte genervt seine Sitzposition. »Hab’ ihn mit seinem Schiff und ein paar Handlangern abhauen sehen.«
Die Captain fluchte stumm. »Wir geben sofort eine Fahndung nach ihm raus. Jeder Kontrollpunkt, jedes Schiff, jede Raumstation soll informiert werden. Ich spreche nachher mit General Tuscar über die Details.« Sie sah sich in der Runde um. »Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit Frau Ministerin, Lieutenant Naskar. Wir werden diesen Vorfall lückenlos aufklären.«
»Was passiert mit den Geflüchteten?«, platzte es aus Liska heraus. »Die evakuierten Menschen aus Kalubs End und Cardie. Was wird aus denen?«
»Meine Leute sind bereits mit dem Katastrophenschutz in Kontakt«, erwiderte die Captain. »Wir werden die Geflüchteten zunächst nach Kasdan bringen, dort werden sie in einem Auffanglager versorgt. Für null dreihundert ist eine Krisensitzung geplant, in der über das weitere Vorgehen entschieden wird.«
Leyo rümpfte die Nase. Auffanglager – er konnte sich vorstellen, wie das aussehen würde. Dagegen war Kalubs End vermutlich ein Luxus-Ressort.
»Was ist mit Entschädigungen?«, fragte Liska. »Die Leute haben alles verloren. Ihr Zuhause, ihren Job, Familienangehörige ...«
»Ich bin mir sicher, es wird einen Ausschuss zu diesem Thema geben«, antwortete die Captain. »Das liegt nicht in unserer Zuständigkeit.«
»Aber in meiner«, flüsterte Erim. Sie fixierte Liska eindringlich mit ihrem Blick. »Ich kümmere mich darum, versprochen.«
Leyo unterdrückte ein Seufzen. Er glaubte Erim, aber er kannte den Regierungsapparat und wie langsam seine bürokratischen Mühlen malten. Selbst wenn den Menschen auf Ranun Entschädigungszahlungen zustünden, sie würden eine Ewigkeit darauf warten müssen. Und bis dahin ... nun ja.
Die Captain erhob sich und lächelte unverbindlich in die Runde, während Ranjel den Datenchip entfernte und Erim zurückgab. »Ich danke Ihnen allen für Ihr Kommen und für Ihren Bericht. Lieutenant, es tut mir sehr leid, was geschehen ist. Ich denke, es spricht nichts dagegen, wenn Sie sich etwas Zeit nehmen, ehe über Ihre Versetzung entschieden wird.«
Amjan nickte stumm. Daran hatte Leyo noch gar nicht gedacht – was wurde jetzt aus Amjan? Sein Distrikt war zerstört, seine Position dahin. Das hieß, ALIS hatte freie Bahn, für welchen undankbaren Job sie ihn als Nächstes einsetzten.
»Frau Ministerin, Sie sind selbstverständlich so lange Sie wollen hier auf dem Schiff willkommen. Ich lasse Ihnen eine der Offizierskabinen herrichten. Das gilt natürlich auch für Ihre Schwester und Ihre«, sie warf Liska einen fragenden Blick zu, »Pilotin?«
Erim nickte und Leyo fühlte einen Anflug von Erleichterung. Dass Liska eine Rolle bei Erims Entführung gespielt hatte, war den Anwesenden sicherlich klar, aber die Captain hatte offenbar kein gesteigertes Interesse daran. Außerdem wusste sie nicht, dass die Naharra zu Colay und nicht zu einem transgalaktischen Transportunternehmen gehörte.
Die Naharra. Leyos Augen wurden schlagartig groß und er senkte den Blick, damit es niemand merkte. Colay würde sich das Schiff garantiert nicht zurückholen, jetzt, wo ihn die halbe Galaxis suchte. Gut, im Moment war das Ding heiße Ware, aber mit etwas Zeit konnte er die alten Codes überschreiben und neue Signaturen einspeisen, dann war das Baby locker ein paar Millionen wert. Auf dem Schwarzmarkt noch mehr. Seine Finger kribbelten vor Aufregung. Was sie mit der Kohle alles anstellen könnten!
Die Captain wandte sich indes an Amjan. »Lieutenant, ich fürchte, wir haben keine Offizierskabinen mehr frei, wären Sie mit einer gewöhnlichen Besatzungskabine einverstanden?«
»Sicher, kein Problem. Wir nehmen auch eine zu dritt.«
Ranjel räusperte sich. »Ich fürchte, Lieutenant, das wird nicht möglich sein.« Die Tür zum Besprechungsraum glitt auf und zwei Soldaten traten ein. Ranjel nickte ihnen zu und deutete auf Leyo. »Festnehmen.«
Leyo war so überrumpelt, dass er gar nicht reagierte. Binnen Sekundenbruchteilen hatten ihn die Soldaten eingekesselt, aus seinem Stuhl gezerrt und ihm grob die Arme auf den Rücken gedreht, bis er vor Schmerz aufstöhnte.
»Nein!«, brüllte Liska. Sie wollte sich dazwischen werfen, doch Amjan hielt sie in letzter Sekunde fest. »Lasst ihn los! Was soll die verfakkte Scheiße?«
Ranjel ignorierte sie, ihre kühlen Augen fixierten Leyo. »Verdacht auf Schmuggelei, Verstoß gegen Zollbestimmungen, Entführung eines Regierungsmitglieds, Fälschung von Schiffscodes und versuchte Fahnenflucht.«
Leyo fluchte und wand sich verzweifelt im Griff der beiden Soldaten. »Scheiße, Ranjel, ich dachte, wir sterben! Wir brauchten dringend Hilfe, nur deswegen hab’ ich den beschissenen Chip rausgeschnitten. Daraus kannst du mir jetzt keinen Strick drehen, verdammt!«
»Doch, das kann ich«, erwiderte Ranjel spitz. »Du hattest deine Chance und du hast sie versaut.«
»Das kann nicht dein verschissener Ernst sein!« Leyo spuckte vor Wut. »Das war die verdammte Apokalypse da unten. Ich dachte, wir gehen alle drauf. Da waren Kinder, Ranjel! Hätte ich Däumchen drehen und abwarten sollen, ob ihr euch dazu bequemt, uns zu retten?«
»Ich diskutiere das nicht mit dir«, entgegnete Ranjel. »Du hast später Gelegenheit, dich zu äußern. Abführen.«
»Warten Sie, Commander.« Amjan trat vor und streckte abwehrend die Hände aus. Ser wirkte gefasst, doch wer sen so gut kannte wie Leyo, entdeckte den verkniffenen Zug um sere Mundwinkel. »Ich bürge für diesen Mann. Wir bleiben auf Ihrem Schiff, bis die Angelegenheit geklärt ist, das steht außer Frage. Es gibt keinen Grund für eine Festnahme.«
Ranjel schnaubte. »Sie werden verzeihen, Lieutenant, dass ich Ihre Bürgschaft nicht ernstnehmen kann.«
»Wir sind hier auf einem ALIS Kreuzer«, konterte Amjan. »Wo sollten wir denn hin? Uns in Luft auflösen?«
»Vielleicht verschwinden Sie ja einfach mit dem Hochgeschwindigkeitsschiff, das Ihre Freundin praktischerweise mitgebracht hat und mit dem, nach unseren Informationen, Frau Ministerin Sariz entführt wurde?«
»Liska ist meine Frau, nicht meine Freundin.«
»Wie auch immer.« Ranjel winkte ab. »Sie können von Glück sagen, Lieutenant, dass ich nicht beide umgehend festnehmen lasse. Aber die Beteiligung Ihrer Frau ist im Moment noch unklar und Frau Sariz hat sich für sie verbürgt. Das akzeptiere ich. Sonst säßen beide in einer Zelle, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind.«
Amjan knurrte erbost, doch Erim kam sem zuvor. »Commander, Leyo hat meiner Schwester das Leben gerettet. Ohne ihn wäre sie im Flammeninferno auf Ranun gestorben. Ja, er hat mich entführt, aber er hat mir kein Haar gekrümmt und ich weiß, dass er seine Gründe hatte. Ich fühle mich persönlich für all das hier verantwortlich und ich werde Konsequenzen daraus ziehen, das verspreche ich. Also können wir diese Sache einfach vergessen?«
Ranjel blickte irritiert von Erim zu Leyo und schüttelte dann den Kopf. »Tut mir leid, Frau Ministerin, aber wir haben unsere Anweisungen. Sie werden Gelegenheit bekommen, mit dem General darüber zu sprechen. Abführen.«