Fassungslos starrte Amjan den Soldaten hinterher, die Leyo aus dem Raum zerrten. Liska schrie und tobte, doch ser hielt sie mit Nachdruck fest, bis sie schluchzend in sere Arme sank. Ser konnte sie so verdammt gut verstehen, am liebsten hätte ser der schwelenden Wut auch mit einem lauten Schrei Luft gemacht. Am schlimmsten war die Enttäuschung. Jahrelang hatte ser versucht, die Menschen von Kalubs End davon zu überzeugen, dass ALIS kein abgehobener Haufen privilegierter Lackaffen war, der sich für die Belange der Bevölkerung einen Dreck interessierte. Dass das System trotz aller Schwächen immer noch fair war. Dass es auch bei ALIS gute Leute gab. Ser hatte sich das Vertrauen der Menschen hart erarbeitet – und sere Vorgesetzten traten diese Bemühungen jetzt mit Füßen.
Ohne lange nachzudenken, griff ser an seine Schulter und riss mit einem Ruck seren ALIS-Abzeichen ab. Demonstrativ warf ser es vor der Captain auf den Boden, wandte sich um und verließ mit Liska den Raum. Zwei Soldaten eskortierten sie zu einer Kabine auf einem der anderen Decks und ließen sie dort endlich allein.
Liska schimpfte immer noch, unruhig lief sie in dem winzigen, sterilen Raum auf und ab. Er war mit einem Stockbett, in die Wand eingelassenen Schränken und einem Waschbecken hinter einer Schiebetür ausgestattet. Es roch nach Seife und Putzmittel.
»Das kann nicht deren beschissener Ernst sein!« Liska rang die Hände. »Die haben Leyo das alles doch eingebrockt, verdammt! Dafür können die ihn nicht –«
»Doch, Süße, können sie«, unterbrach Amjan sie gereizt. »Leyo hat gegen Gesetze verstoßen. Aus gutem Grund, ja, das wissen wir beide, trotzdem –«
»Das ist aber scheiße!«, brüllte Liska und trat gegen das Bett. »Ich hab’ mitgeholfen, die Ministerin zu entführen. Dann sollen sie mich auch verhaften.«
»Du hilfst Leyo nicht, wenn du dich selbst in die Schusslinie stellst. Außerdem würde er das nicht wollen.«
»Ist mir egal.« Liska ließ sich aufs Bett fallen, die Arme vor der Brust verschränkt. »Wieso bist du eigentlich so ruhig? Sei doch auch mal wütend, verdammt noch mal.«
»Bin ich, glaub mir. Aber wenn ich anfinge, die Einrichtung zu demolieren, bringt uns das nicht weiter.«
»Hör auf, so verdammt vernünftig zu sein. Ich hab’ jetzt keine Lust auf Logik.« Sie sah sen an, ihre dunklen Augen schwammen in Tränen. »Unser Zuhause ist weg, Amjan. Alles weg. Und Leyo ... und ...«
Amjan setzte sich neben sie und nahm sie in die Arme. Ser schluckte gegen den Kloß in serer Kehle an, aber so richtig gelang es sem nicht, den Schmerz zu bekämpfen. Bis jetzt hatte ser funktionieren müssen, ruhig bleiben, einen kühlen Kopf bewahren. Genau die Strategien befolgen, die sere Väter und Vorgesetzten sen mit Inbrunst gelehrt hatten: Gefühle waren Schwäche. So sehr ser diese Überzeugung heute verabscheute, sie saß immer noch tief in serem Kopf, wie eine Schranke, die ser mit Gewalt überwinden musste.
»Es ist noch nicht vorbei«, versprach ser Liska und fragte sich, woher ser die Gewissheit dafür nahm. »Wenn es zum Prozess kommt, wird die Ministerin bestimmt zu Leyos Gunsten aussagen. Vielleicht kommt er glimpflich davon.«
»Du hast gehört, was sie ihm alles vorwerfen«, erwiderte Liska. »Er kann von Glück reden, wenn er weniger als fünf Jahre bekommt.«
Amjan schluckte und schwieg. Liska hatte recht, allein der Versuch der Fahnenflucht rechtfertigte zehn Jahre oder mehr – und Leyo war kein Typ für eine »gute Führung«. Er war am Arsch. Sie alle waren das.
»Wir gehen nicht ohne ihn, oder?«, flüsterte Liska und Amjan schüttelte den Kopf.
»Nein, Süße. Ganz bestimmt nicht.«
Eine Weile hielten sie einander stumm fest, dann surrte die Sprechanlage neben dem Bett. Amjan drückte den Annahmeknopf. »Ja, bitte?«
»Lieutenant Naskar? Kommen Sie sofort mit Ihrer Frau ans Dock D4. Es gab einen Vorfall.«
Amjans Herz sank sem in die Hose. Scheiße – irgendetwas mit dem Schiff? Ser stand auf, sere Knie waren weich wie Butter. »Alles klar. Wir kommen.«
*
Die Zellentür fiel zu und Leyo sank ächzend auf die Pritsche. Verdammtes Déjà-vu. Der einzige Unterschied zu der letzten Zelle, in der er gesessen hatte, war die Tatsache, dass die Fischaugenkamera über ihm nicht rot leuchtete. War das gut? Oder ziemlich schlecht?
Nur einen Augenblick später öffnete sich die Tür erneut und Ranjel trat ein. Allein. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Zellenwand und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich schätze, dir ist klar, dass ich keine Wahl hatte.«
Leyo schnaubte. »Was willst du von mir? Absolution? Du hast mich doch in die Scheiße hier reingeritten.«
»Ich hab’ dich nicht aufgefordert, eine Ministerin der Föderation zu entführen.«
»Ich brauchte Colays Vertrauen. Wie hätte ich sonst an die Infos kommen sollen?«
»Du hättest wenigstens dafür sorgen können, dass dich niemand dabei bemerkt.«
Leyo gab ein widerwilliges Knurren von sich. »Ich dachte, das hätte ich.«
»Tja, falsch gedacht.« Sie atmete tief durch und Leyo war überrascht, Bedauern in ihrer Miene zu lesen. Sie war doch nicht so kalt, wie sie sich immer gab. »Tut mir leid, Leyo, mir sind die Hände gebunden. Unser Deal war klar, jetzt ist Colay weg und du hast dir den verdammten Chip rausgeschnitten. Ich kann verstehen, warum du es getan hast, aber es ändert nichts daran, dass unsere Abmachung vom Tisch ist. Und damit stehen auf deinem Zettel wieder ein paar Jahre Gefängnis.«
Leyo schüttelte monoton den Kopf. »Das kann nicht dein Ernst sein, Ranjel. Mein Zuhause ist weg, einfach abgebrannt, weil ihr und die Regierung uns jahrelang im Stich gelassen habt. Welche Wahl hatte ich denn?«
»Mein Mitgefühl zieht deinen Kopf auch nicht aus der Schlinge. Du hast gegen Gesetze verstoßen, Punkt. Alles andere liegt nicht in meiner Zuständigkeit.«
Leyo stöhnte genervt. »Was willst du dann von mir?«
»Colay. Ich will ihn kriegen. Endgültig.«
»Schön. Viel Spaß dabei.«
Ranjel stieß sich von der Wand ab und trat auf Leyo zu. Ihr Blick war kühl und gefasst, aber Leyo erkannte ein Zucken in ihren Augenwinkeln. »Ich bin keine Närrin, okay. Mir ist klar, dass du mehr über Colay und seine Kontakte weißt, vielleicht auch darüber, wo er jetzt ist.«
Leyo zuckte mit den Achseln. »Und?«
»Du deckst ein paar Leute, das kann ich verstehen. ALIS ist nicht gerade euer Freund. Aber diese Katastrophe ist Colays Schuld und ich will, dass der Kerl in einem Gefängnis verrottet, bis zum Ende seiner Tage. Ich sehe nicht ein, dass er sich mit dem erbeuteten Vicarium ein schönes Leben macht. Du etwa?«
Leyo blinzelte. »Und das erzählst du mir, weil ...?«
»Meine Güte, bist du schwer von Begriff. Ich will, dass du ihn für mich findest. Du hast bessere Chancen als ALIS. Du kennst Colay und seine Kontakte. Ich bin nicht das Miststück, für das du mich hältst, Leyo. Ich mache einfach nur meinen Job. Und wenn ich die Wahl habe – du oder Colay –, dann will ich ihn.«
Ein Grinsen huschte über Leyos Gesicht. »Klingt fair. Krieg ich noch einmal so einen hübschen Chip?«
»Nein, das Schott ist dicht. Du kriegst eine Stunde und ich ziehe die Sicherheitsleute an dem Dock ab, an dem eure Naharra liegt. Und danach werde ich dich jagen, quer durch die Galaxis, wenn ich muss. Entweder findest du Colay vor mir oder ich finde dich.«
Leyos Grinsen wurde breiter. Er wusste, er sollte Panik schieben und sich unter gar keinen Umständen auf diesen beschissenen Deal einlassen, der ihm schlimmstenfalls noch mehr Gefängnis einbringen würde, aber verdammt, das war genau seine Kragenweite. Und Ranjel war die perfekte Gegnerin für dieses Spiel. Seine Fingerspitzen kribbelten. »Eine Stunde, hm?«
»Keine Minute länger. Und glaub bloß nicht, dass du noch einmal Almosen von mir bekommst. Das nächste Mal landest du hinter Gittern und ich werde dafür sorgen, dass du bis dahin keinen Augenblick Ruhe hast.«
Leyo salutierte spöttisch. »Aye, Commander.«
»Grins nicht so selbstgefällig.« Sie griff an ihren Gürtel und zog eine Elektroschockpistole heraus. »Hier. Soll ja echt aussehen. Meine Sicherheitskarte steckt in der rechten Brusttasche. Deine Partnerperson und deine Frau sind auf dem Weg zum Dock, wissen aber nicht, warum.«
Leyo nahm die Pistole an sich. »Danke, Ranjel.«
»Ich tu das nicht für dich, glaub mir. Du bist einfach nur ein nützliches Werkzeug.«
»Charmant.« Er ließ die Pistole sinken. »Eine Antwort schuldest du mir noch. Das war alles ein abgekartetes Spiel, nicht wahr? Der Fremde in der Bar, die Hoverbikes, die Drogen ...«
Ranjel grinste. »Zugegeben, ich war überrascht, wie leicht es war, dich reinzulegen.«
Beleidigt rümpfte Leyo die Nase. »Ihr habt mich in einem schwachen Moment erwischt, das ist alles.«
»Schon klar. Jetzt beeil dich. Deine Stunde läuft.«
Leyo seufzte, hob die Pistole und zielte auf Ranjels Brustkorb. Sie zuckte einige Male, doch binnen weniger Augenblicke brach sie reglos zusammen. Hastig zog Leyo ihr die Uniformjacke aus und war froh, dass Ranjel ein derart breites Kreuz besaß. So sah er nicht vollständig lächerlich darin aus. Die Stiefel waren ihm zu eng, doch es musste vorerst genügen.
Er tätschelte Ranjel sacht die Schulter, dann huschte er nach draußen.
*
Das Dock war menschenleer. Irritiert warf Amjan einen Blick in die Wachstube, die sie passierten, doch auch dort war niemand zu sehen. Wer verdammt noch mal hatte sie angefunkt? Was war mit ihrem Schiff? Sie bogen um die nächste Ecke und wären um ein Haar in einen Soldaten hinein gelaufen. Erst auf den zweiten Blick begriff Amjan, wen ser da vor sich hatte.
»Leyo? Was zum –?«
»Keine Zeit für Erklärungen«, fiel der sem ins Wort. »Ich habe einen Deal mit Ranjel. Sie lässt mich entkommen, dafür finde ich Colay.«
»Oh verdammt Leyo, du –«
»Ich gehe nicht in den Knast«, unterbrach er Amjan bestimmt. »Egal, was du sagst, dort verrecke ich. Buchstäblich.« Er ergriff Liskas und Amjans Hand und drückte sie. »Es tut mir leid, dass das jetzt so schnell passiert, aber ... na ja. Ich konnte nicht wählerisch sein. Ihr könnt bleiben oder mitkommen. Eure Entscheidung.«
Liska schnaubte. »Du kriegst das Schiff allein nicht einmal aus dem Dock raus, mein Schatz. Natürlich komme ich mit. Und auch sonst, was ist das überhaupt für eine Frage? Wir sind eine Familie.«
»Genau.« Amjan lächelte dünn und zupfte an den losen Stofffäden serer Jacke, wo zuvor das ALIS-Abzeichen befestigt gewesen war. »Tja, vom Lieutenant zum Outlaw – das ging schnell.«
Leyo senkte zerknirscht den Kopf. »Es tut mir leid. Ehrlich. Ich –«
Amjan unterbrach ihn mit einem Kuss und lachte. »Nicht nötig. Ab ins Schiff.«
»Warte, ich ... es gibt da noch eine Sache.«
Amjan runzelte die Stirn. »So?«
»Wir brauchen Arifa. Sie weiß mehr über Colay als wir alle zusammen und ich wette, Baref wird schon bald Kontakt zu ihr aufnehmen. Vielleicht können wir Infos aus ihm rauskitzeln.«
»Und wie soll ich –?«
Leyo fiel sem erneut ins Wort: »Wir treffen uns in einer Woche im Dock 111 in Kasdan, am Raumhafen, dann haben Liska und ich genügend Zeit, um ALIS abzuhängen, unsere Codes zu maskieren und dafür zu sorgen, dass uns niemand folgt. Dass wir uns ausgerechnet auf Ranun treffen, davon gehen die garantiert nicht aus.« Er griff in seine Tasche, zog einen Chip heraus und zwinkerte Amjan zu. »Ein Glück, dass die mich nicht besser durchsucht haben. Da sind eintausend Credits drauf. Schmutziges Geld von Colay, aber ich würde sagen, das haben wir uns verdient.«
Amjan wog den Chip in der Hand und steckte ihn schließlich ein. Im Moment waren sie vollständig abgebrannt, sie würden das Geld brauchen. »Denkst du nicht, dass ALIS sich wundern wird, warum ich nicht bei euch bin?«
»Iwo.« Liska grinste. »Du musst denen nur weismachen, dass du keine Lust auf ein Vagabundenleben hattest. Und Arifa kann bestimmt ein bisschen Trost benötigen.«
»Haha. Ranjel wird mir das nie glauben.«
»Dann müssen wir wohl nachhelfen.« Leyo seufzte. Er nahm Amjans Gesicht zwischen die Hände und küsste sen lange. »Wie in alten Zeiten.«
»Ach, scheiße.«
»Ich liebe dich.«
»Ich weiß. Mach schon.«
Ein kurzes, heftiges Brennen, dann versagten Amjans Muskeln ihren Dienst. Ser brach zusammen, zuckte noch einige Male und schließlich wurde sem schwarz vor Augen.
*
Als Amjan wieder zu sich kam, roch es scharf nach Desinfektionsmitteln. Ser blinzelte und fand sich auf einer Liege in einem sterilen Untersuchungszimmer des Lazaretts wieder. Ein Namisa mit grün-blauen Schuppen und einem schmalen Gesicht in der Uniform eines Wissenschaftsoffiziers begrüßte ihn lächelnd. Der Name auf seiner Plakette verschwamm vor Amjans Augen.
»Wie fühlen Sie sich, Lieutenant?«
»Scheiße«, brummte Amjan wahrheitsgemäß. Seren Kopf dröhnte, doch ser erinnerte sich noch sehr gut an ihren Plan. Schauspielerei war nicht unbedingt sere Stärke, aber ser musste es versuchen. »Wo ist der verdammte Bastard?«
»Verzeihung?«
»Mein ach so geliebter Gatte, der mich niedergeschossen hat. Wer sonst?«
»Tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich rufe Commander Laveki, wenn Sie wollen. Sie hat Sie bewusstlos im Dock gefunden.«
Amjan nickte und fluchte leise vor sich hin. Insgeheim hoffte ser jedoch, dass Ranjel ihr Wort gehalten hatte und dass Leyo und Liska bereits in den Weiten des Weltalls verschwunden waren.
Nur wenig später öffnete sich die Tür zum Lazarett und Ranjel trat ein, gefolgt von einem weiteren Offizier. Sie wirkte sichtlich aufgewühlt. »Ah, Lieutenant. Sie sind wach.«
»Mehr oder weniger.«
»Was ist passiert?«
»Er ist abgehauen, die feige Drecksau. Aber das wissen Sie ja bestimmt schon.«
Ranjel blinzelte. »Sie sprechen von Leyo?«
»Von wem denn sonst?«
»Hat er Sie ...?«
»So viel zum Thema Loyalität und Familie, was?«
Ranjel schwieg und Amjan sah ihr an, dass sie sere Mimik sehr genau studierte. Sie wollte wissen, ob ser log. »Sie haben recht, er und seine ... Ihre Frau haben die Naharra gestohlen und sind abgehauen. Hatten unsere Jäger ziemlich schnell abgehängt.« Sie strich sich ihr silberweißes Haar zur Seite und musterte Amjan kritisch. »Warum sind Sie nicht mit ihnen gegangen?«
»Wieso sollte ich? Leyo hat Scheiße gebaut, er soll dazu stehen, verdammt noch mal, und nicht jedes Mal abhauen, wenn es ernst wird. Ich hab’ ihn vor die Wahl gestellt – und er hat sie getroffen, wie Sie sehen.«
»Und Ihre Frau?«
Amjan versuchte sich, so gut es ging, in die Emotionen hineinzuversetzen, die ser gerade fühlen sollte. Sorge, aber vor allem Wut und Enttäuschung darüber, dass sere Familie sen im Stich gelassen hatte. Ser gab sich also alle Mühe, hundeelend dreinzuschauen. »Müssen wir das diskutieren, Commander?«
»Nein, verzeihen Sie. Haben Sie eine Idee, welches Ziel sie ansteuern könnten?«
Amjan schüttelte zuerst den Kopf, dann stutzte ser. »Warten Sie – doch. Leyo hat Kontakte nach Tajandor. Er hat immer gesagt, wenn er mal untertauchen muss, schulden ihm dort noch ein paar Leute einen Gefallen.«
Ranjel verzog das Gesicht. »Tajandor, ausgerechnet. Mieses Loch.«
Amjan nickte und knackte demonstrativ mit den Fingerknöcheln. Das Geräusch klang zuverlässig laut und bedrohlich. »Wenn er Liska und das Baby dorthin bringt, brech ich ihm alle Knochen.«
»Nicht nötig, Lieutenant, wir kümmern uns darum. Ruhen Sie sich ein wenig aus.« Auf dem Weg zur Tür wandte sie sich noch einmal um und deutete auf sere Schulter. »Haben Sie das ernst gemeint? Die dramatische Kündigung, meine ich?«
Amjan nickte. »Ich muss den Kopf freikriegen, irgendwas anderes machen. Ich bin durch mit ALIS.«
»Wie Sie wollen. Wir steuern als nächstes Kasdan an, dort können Sie von Bord gehen.«
»Ja, das werde ich wohl. Danke.«
Amjan wartete, bis Ranjel gegangen war, ließ sich vom Militärarzt eine Rolle Schmerztabletten mitgeben und humpelte schließlich aus dem Lazarett. Ser musste möglichst schnell mit Arifa sprechen – besser, ser ließ Leyo und Liska nicht zu lange allein.
Ser fand Arifa gemeinsam mit ihren Kindern auf dem Zwischendeck, auf dem ALIS die Geflüchteten aus Ranun untergebracht hatte. Man hatte ihnen Decken und Kissen gegeben, ein paar Notfallrationen gereicht und die Verletzten versorgt, aber besonders gemütlich war es hier auf nacktem Boden zwischen Kisten und Containern nicht. Wenigstens gab es hier keine ALIS-Leute, die sie belauscht hätten, während Amjan die ganze Geschichte in knappen Worten zusammenfasste. Kera saß auf dem Schoß ihrer Mutter, Sami etwas abseits und hörte neugierig zu.
»Leyo ist einfach unglaublich.« Arifa schüttelte fassungslos den Kopf. »Und er hat offenbar mehr Glück als Verstand.«
»Ich weiß.« Amjan lächelte, dann fixierte ser Arifa eindringlich. »Hör zu, ich kann verstehen, wenn du das alles nicht willst. Ihr habt eine Menge durchgemacht, ihr habt euer Zuhause verloren und dein Mann ist abgehauen. Colay ist gefährlich und niemand verlangt von dir, deine Familie diesem Risiko auszusetzen.«
Arifa stieß ein bitteres Lachen aus. Sie hob ihre Tochter hoch und schnupperte an ihr. »Puh, ich glaube, Keras Windel ist voll. Sami, Schatz, kannst du mit ihr aufs Klo gehen zum Wechseln?«
Sami verzog das Gesicht, protestierte aber nicht, sondern hob seine Schwester auf den Arm. »Wo muss ich da hin?«
»Keine Ahnung. Versuch’s rauszukriegen, okay?«
Er rollte mit den Augen. »Wenn’s sein muss. Bis gleich.«
Arifa wartete, bis Sami außer Hörweite war. Mit gedämpfter Stimme fragte sie: »Leyo hat es dir nie erzählt?«
Amjan schüttelte irritiert den Kopf. »Was meinst du?«
»Erstaunlich – im Ernstfall kann er wirklich schweigen wie ein Grab.« Sie ergriff Amjan am Handgelenk. »Das bleibt unter uns, ja? Versprich es mir.«
»Ehrenwort.«
Sie schluckte, die Worte schienen sich schwer für sie anzufühlen. »Tar Colay ist ... mein Vater.«
Amjan klappte der Mund auf. »Wie bitte?«
»Er wollte nicht, dass ich Ärger bekomme, und ich wollte nicht mit seinen Machenschaften in Berührung kommen. Also sind wir getrennte Wege gegangen.«
»Und Leyo wusste davon?«
»Natürlich.« Sie lachte. »Mein Vater konnte ihn noch nie leiden. Baref dagegen war sein Traumschwiegersohn. Kein Wunder, er hat ja auch an seinen Lippen und seinem Rockzipfel gehangen. Verdammtes Arschloch.«
Amjan holte tief Luft, während er versuchte, die Neuigkeit irgendwie zu verdauen. »Das erklärt, warum Leyo denkt, du könntest uns zu Colay führen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich euch dabei helfen kann. Aber in jedem Fall will ich, dass mein Vater seine gerechte Strafe bekommt, für alles, was er getan hat. Er hätte mich und seine Enkelkinder einfach zum Sterben zurückgelassen, verflucht.« Sie presste die Fäuste auf ihre Oberschenkel und atmete hastig ein und aus. »Sorry, das alles ... die ganze Situation ...«
»Ich versteh das, keine Sorge. Das heißt, du kommst mit nach Kasdan?«
»Ja, wir kommen mit. Ich denke, Sami wird es guttun, bei seinem Vater zu sein. Wenigstens ein bisschen Stabilität ...«
Amjan lächelte mild und legte sere Hand auf ihre. »Du bist bei uns mit deinen Kindern immer willkommen, das weißt du. In jeder Hinsicht.«
Arifa gluckste. »Verlockend. Ich denke drüber nach. Aber erst einmal müssen wir meinen Vater finden und Baref und Leyos Kopf aus der Schlinge ziehen. Nicht wahr?«
»So sieht es aus.« Amjan sah sich um und fragte dann: »Was ist mit Trish passiert?«
»Sie ist im Lazarett. Ihre Schwester wird morgen mit einem Schiff nach Paraphan gebracht und Trish wird sie begleiten.«
»Das ist gut. Die Kleine hat wirklich genug durchgemacht.«
Arifa legte den Kopf schief. »Irgendwann musst du mir noch erzählen, was ihr mit der Umweltministerin der Föderation und ihrer Schwester zu schaffen hattet.«
»Lange Geschichte.« Amjan seufzte. »Die Offiziersriege meinte, sie würden Kasdan ansteuern und alle Geflüchteten dort in einem Auffanglager unterbringen. Ich schätze, da können wir uns dann unbemerkt abseilen.«
Arifa nickte und seufzte betrübt. »Ich setze keinen Fuß mehr nach Kalubs End, aber für eine Ausrede wird es genügen. Sag Bescheid, sobald wir aufbrechen. Du weißt ja, wo du mich findest.«
*
Erim schlief wie ein Stein und erwachte erst Stunden später von ihrem hungrig knurrenden Magen. Als sie sich aufrappelte und ihre Glieder streckte, rekelte sich Trish neben ihr. Das medizinische Personal hatte sich um ihren verstauchten Knöchel und die anderen Blessuren gekümmert, ihr sogar ein leichtes Schlafmittel gegeben, damit sie sich entspannte.
»Morgen«, brummte Trish und schielte auf die digitale Uhr neben dem Bett. »Wobei, eigentlich ist schon fast Abend. Diese Schmerzmittel hauen echt rein.«
»Wie fühlst du dich?«, fragte Erim und ließ sich nebenan einen Becher Wasser ein. Die Kabine war gut ausgestattet, karg, aber mit allem nötigen Komfort. Sie besaß ein kleines Schlafzimmer mit einem breiten Bett, einen Aufenthaltsraum mit einem Zweisitzer und einem Multimediabildschirm, eine kleine Küchenzeile und ein Bad.
»Ganz okay«, brummte Trish. »Mein Fuß tut weh. Muss ich noch eine Weile schonen, denke ich.«
Erim füllte ein weiteres Glas mit Wasser und reichte es ihrer Schwester. »Und sonst? Willst du ... über irgendwas reden? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das war, da unten zu sein in diesem ganzen Inferno, und ... schon der Gedanke daran lässt mich schaudern.«
Trish zuckte mit den Achseln. »Ich krieg das hin. Irgendwie.« Sie schielte zu Erim und rieb sich die Nase. »Was erzählen wir jetzt unseren Eltern?«
»ALIS weiß mittlerweile von der Entführung«, antwortete Erim. »Wir werden also die Wahrheit sagen. Nach dieser Geschichte ist dein Schulausschluss auch keine große Sache mehr.«
»Stimmt wohl.« Trish gluckste, wurde aber unverwandt ernst und sah ihre Schwester an. »Was wird jetzt aus Liska und Sami und den anderen? Sie haben kein Zuhause mehr.«
Erim seufzte. »Ich weiß es nicht genau. Aber ich verspreche, ich tue alles, was ich kann, damit sich die Menschen etwas Neues aufbauen können.«
»Ich wünschte, ich könnte sie irgendwann mal besuchen. In den Ferien oder so.«
»Das heißt, du ... willst wieder in die Schule gehen?«
Trish nestelte an der Bettdecke, ohne Erim anzusehen, und schließlich nickte sie. »Liska hatte recht – und du auch. Ich hab’ keinen Bock auf die Schule, aber ich will später was Cooles machen. Raumschiffe bauen oder so. Dann muss ich das eben aushalten.«
Zögerlich legte Erim ihrer Schwester den Arm um die Schultern. »Wir finden sicher einen Kompromiss. Ich lass dich damit nicht allein, okay? Nicht noch einmal.«