Eine Woche später
Applaus riss Erim aus ihrer Trance. Die Senatsmitglieder ringsum klatschten höflich, während die Rednerin, eine Staatssekretärin für Energiesteuerfragen, auf ihren Platz zurückkehrte. Ihr Bild verschwand von der Leinwand und Erim richtete sich angespannt in ihrem Sitz auf. Es war so weit. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und ihre Handflächen waren feucht und schwitzig.
Sie aktivierte ihre Augmented-Reality-Linse und entdeckte eine Nachricht von Trish. Es war kein Text, nur ein animiertes Bild mit einer Gruppe Fans, die ein Schild hochhielten, auf dem »Du schaffst das« stand.
Sie musste lächeln und schickte ihr ein Herzchen zurück. Gemeinsam hatten sie vor einigen Tagen das längst überfällige Gespräch mit ihren Eltern geführt und es war besser gelaufen, als sie beide erwartet hatten. Trish würde die Schule wechseln und künftig eine Akademie besuchen, die viel Wert auf Praxisnähe und Ingenieurwissenschaften legte – ohnehin ihre besten Fächer.
Ihre Mutter war immer noch skeptisch und nicht unbedingt begeistert davon, dass ihre Tochter ölbeschmiert an Motoren herumschrauben würde, aber sie hatte begriffen, wie wichtig diese Sache für Trish war. Erim hoffte, dass der Enthusiasmus ihrer kleinen Schwester noch eine Weile anhielt. Sie hatte wirklich das Zeug zu einer kompetenten Ingenieurin.
Eine Stimme quäkte über das Headset in ihr Ohr. »Es spricht nun zu Ihnen Frau Erim Sariz, Umweltministerin der Föderation, zum Ranun-Vorfall.«
Erim verdrehte die Augen und stand auf. Vorfall. Eine beschissene Katastrophe war es gewesen, nichts anderes. Sie trat auf das automatische Förderband, das an den Sitzreihen entlanglief, und ließ sich davon Richtung Pult tragen. Beim Gedanken daran, was vor ihr lag, drehte sich ihr der Magen um.
Unwillkürlich erinnerte sie sich an das, was sie vor rund zwei Wochen zu Trish gesagt hatte: Du hast Scheiße gebaut. Also steh auch dazu. Es wurde Zeit, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Erim hob das Kinn an und strich ihr Kostüm glatt. In den letzten Tagen hatte sie alle guten Vorsätze, ihren Ernährungsplan betreffend, mehrfach in den Wind geschossen und war überzeugt, dass man die zusätzlichen Kilos in dem schmal geschnittenen Stiftrock sehen würde. Egal, verdammt. Darauf kam es jetzt wirklich nicht an.
Ein Android kalibrierte das Pult und verkabelte sie mit dem automatischen Streamingmodul, das ihre Rede an alle AR-Bildschirme und Headsets der Senatsmitglieder sandte.
Erim räusperte sich. Ihre Stimme klang kratzig, gewann aber langsam an Kraft. »Sehr geehrte Mitglieder des Senats. Ich trete heute vor Sie, um über den Vorfall auf Ranun zu sprechen. Den Vorfall, der in Wirklichkeit eine grässliche Katastrophe war. Nach aktuellem Stand haben über dreihundert Menschen ihr Leben verloren, mindestens ebenso viele sind obdachlos geworden. Dass zumindest ein paar hundert Überlebende gerettet und evakuiert werden konnten, verdanken wir dem mutigen Einsatz der Distriktverwaltung von Kalubs End und der Solidarität unter den Menschen dort.«
Sie atmete tief durch, ihre Finger umklammerten das Pult. »Ich stehe heute vor Ihnen, um Ihnen etwas zu gestehen. Sie haben sicher davon gehört, dass ich im Zuge dieses Vorfalls Opfer einer Entführung wurde. Das ist korrekt. Allerdings kennen Sie noch nicht die ganze Geschichte.«
Der Senatssaal war so riesig, dass Erim nur wenige Gesichter in der Menge klar erkennen konnte, und dennoch war ihr bewusst, dass alle Anwesenden an ihren Lippen hingen. Sie erzählte von Colay, den Dokumenten, ihrer Entscheidung, seinen schmutzigen Deal anzunehmen, und der Wahrheit hinter seinem unmoralischen Angebot. Mit jedem Wort wich mehr Druck von ihren Lungen und sie konnte freier atmen. Es tat gut, all das auszusprechen und den Ballast abzustreifen.
Mit ernstem Blick sah sie sich unter den Anwesenden um. Sie entdeckte Senator Sarastos, die Arme vor der Brust verschränkt mit einem zynischen Lächeln auf den Lippen. Nicht einmal das konnte sie jetzt noch ärgern.
»Tar Colay«, fuhr sie fort, »trägt Schuld an dem Desaster auf Ranun. Aber wir alle sind dafür verantwortlich. Wir haben zugelassen, dass die Menschen dort ihren Glauben und ihr Vertrauen in die Regierung verloren haben. Wir haben zugelassen, dass Konzerne wie die Sanwa Mining Corporation auf Kosten der Umwelt Milliardengewinne erzielten, ohne die Bevölkerung zu beteiligen. Wir haben zugelassen, dass der Raubbau auf Ranun den Bewohnern ihren Lebensunterhalt entzogen hat. Wir haben zugelassen, dass Männer wie Tar Colay leichtes Spiel hatten, weil wir weggesehen haben. Weil wir Ranun und die Menschen dort ihrem Schicksal überließen.«
Sie schwieg und ließ ihre Worte einige Augenblicke lang wirken. »Diese Katastrophe, werter Senat, haben wir alle zu verantworten. Sie war vorhersehbar und sie war vermeidbar. Sie ist die Konsequenz unserer Gier nach schnellen, billigen Energiequellen. Tar Colay muss mit aller Härte unseres Gesetzes gejagt und bestraft werden. Aber wenn wir ehrlich sind, ist er nur ein Symptom. Der Vicariumabbau und seine Folgen sind die eigentliche Krankheit.«
Sie krümmte und streckte ihre Finger, bereit, das Unvermeidliche in Kauf zu nehmen. »Dieser Vorfall hat mir klar gemacht, wie weit ich gehen würde, um meine Ziele zu erreichen. Was ich bereit wäre, zu tun, um die Regierung zu einem Umdenken zu motivieren. Ich musste eine Grenze überschreiten, um meinen Prinzipien treu zu bleiben. Das ist ein fatales Signal. An den Senat und alle Menschen und Parahumanoiden in unserer Föderation. Deswegen«, sie holte tief Luft, »trete ich hier und heute als Umweltministerin zurück. Ich hoffe, wer auch immer mir in dieses Amt nachfolgt, wird mit weniger Barrieren zu kämpfen haben. Wie Sie sicherlich wissen, läuft derzeit ein Ermittlungsverfahren gegen die Sanwa Mining Corporation wegen Missachtung von Sicherheitsstandards und Verletzung von Umweltauflagen. Ich werde gerne im Rahmen dieses Verfahrens aussagen, sofern ich zur Wahrheitsfindung beitragen kann. Das jedoch erfordert eine gewisse Distanz von der Föderation und ihren Organen. Ich lege daher mein Amt als Ministerin und als Senatorin mit sofortiger Wirkung nieder.«
Ein Raunen ging durch den Senatssaal. Kameradrohnen umschwirrten Erim, blendeten sie mit ihren Blitzen. Sie scheuchte eine davon weg, die besonders aufdringlich um ihren Kopf kreiste. »Meine Beraterin wird eine offizielle Pressemeldung herausgeben, aus der Sie alle wichtigen Informationen entnehmen können. Ich persönlich stehe nicht für Interviews zur Verfügung. Ich möchte Ihnen für das Vertrauen danken, das Sie in mich gesetzt haben. Es war eine lehrreiche Zeit und ich bin froh darüber, dass mir die Chance gewährt wurde, mich für die Föderation einzusetzen. Ich verlasse diesen Posten mit Betrübnis und dem Gefühl, ihm nicht gerecht geworden zu sein. Aber zugleich hege ich Hoffnung, dass es besser wird. Dass meine Amtszeit einen Grundstein gelegt haben könnte für kommende Generationen. Ich danke Ihnen.«
Der Applaus war herzlicher, als Erim erwartet hatte. Kein verhaltenes Klatschen, sondern ehrliche Anerkennung. Sie las es auch in den Gesichtern ringsum. Nicht einmal Sarastos ließ sich seine Selbstgefälligkeit anmerken. Immerhin, ein schwacher Trost.
Erim kehrte nicht auf ihren Platz zurück, obgleich die Sitzung noch weiter andauerte. Sie verließ den Saal und atmete erst einmal tief durch. Überstanden. Es war überstanden.
Nur wenige Augenblicke später ertönte ein Klingeln in ihrem Ohr. Erim aktivierte die Linse und nahm den Anruf an. »Du warst gut«, jubilierte Ria. »Ehrlich, du hast sogar mich beeindruckt.«
»Ach was«, brummte Erim. »Ich hab’ nur versucht, das Beste aus einer beschissenen Situation zu machen.«
»Und das ist dir gelungen. Es gibt schon erste Analysen, die sozialen Medien sind voll auf deiner Seite. Du hast sogar einen eigenen Hashtag: #WirsindRanun. Allein in den letzten zehn Minuten mehrere tausend Nachrichten!«
Erim lächelte dünn. »Klingt gut. Aber ich will jetzt erstmal nichts davon hören, okay?«
»Schon klar, dafür hast du ja mich. Ich hab’ die Pressemitteilung eben rausgeschickt.« Sie seufzte theatralisch. »O Mann, ich werde den Job hier vermissen.«
»Du bekommst das beste Zeugnis, das ich dir ausstellen kann«, versprach Erim. »Ich bin mir sicher, andere werden sich um dich reißen.«
»Zu viel der Ehre, Boss. Ich warte in deinem Büro auf dich, mit Schnaps und Eiscreme, wenn du willst.«
Erim musste lachen. »Ja. Das klingt gut. Bis gleich.«
*
So richtig konnte Erim nicht fassen, wie schnell sich ihre Rede in den Weiten der Galaxis verbreitete. Binnen einer Woche hatte das Video über Hundertmillionen Klicks erzielt und der Hashtag #WirsindRanun war annähernd ebenso oft geteilt worden, zusammen mit Fotos aus dem Katastrophengebiet, wissenschaftlichen Analysen und der Berichterstattung über das kommende Verfahren gegen SMC. Es schlug Wellen. Das war gut. Der Ozean war in Aufruhr, der Sturm entfacht.
In einer Regierungserklärung hatten sich die Ministerialen für schnelle, unbürokratische Entschädigungszahlungen für die Bevölkerung von Ranun ausgesprochen und Erim hoffte, dass die Betroffenen zumindest einen Hauch von Gerechtigkeit erfahren würden. Ganz überzeugt war sie noch nicht davon, aber immerhin waren binnen weniger Stunden mehrere Millionen Credits an Soforthilfen ausgeschüttet worden, ganz zu schweigen von großen Spendenaktionen.
Ihr Büro glich mittlerweile dem sterilen Ausstellungsraum in einem Möbelhaus. Die Regale waren leer geräumt, ihr Schreibtisch ebenso und sie packte gerade die letzten persönlichen Gegenstände in einen Umzugskarton. Seufzend nahm sie das Foto zur Hand, das immer auf ihrem Tisch gestanden hatte. Sie als Wonneproppen von drei oder vier Jahren auf dem Arm ihres Vaters, der seine Paradeuniform trug und sie stolz und glücklich anlächelte.
Es tut mir leid, Paps, dachte sie betrübt und fuhr mit dem Finger über das Foto. Ich hätte so gerne mehr erreicht.
Ein Klopfen ließ sie zusammenfahren, in dem leeren Raum hallte es laut und drängend wider. Sie wandte sich zur Tür und blieb wie angewurzelt stehen.
»Hey.« Raqan lächelte verlegen. »Tut mir leid, dass ich einfach so hereinplatze. Aber ich war gerade in der Nähe und dachte ... Nun ja, ich dachte, ich schau mal nach, ob du noch hier bist.«
Erim brachte keinen Ton heraus. Erstens war sie überwältigt davon, wie gut Raqan aussah. Er trug eine Kombination aus halblanger, grauer Tunika mit auffälligen Knöpfen, die seine Taille betonte, und darunter weite weiße Hosen. Alles harmonierte perfekt mit seiner nachtblauen Haut. Und zweitens war sie nicht weniger überwältigt davon, dass er hier war und mit ihr sprach.
Er schien ihr Schweigen als Ablehnung zu deuten und machte unschlüssig einen Schritt zurück. »Entschuldige, das war falsch von mir. Ich hätte anrufen sollen. Du hast sicher zu tun und –«
»Nein«, erwiderte Erim hastig. »Ich hab’ ... gar nichts zu tun. Ich hab’ nur ... ich bin ...« Sie schüttelte den Kopf.
Verdammt, Erim, reiß dich zusammen!
»Es ist schön, dich zu sehen.«
Jetzt huschte ein Lächeln über Raqans Züge. Dezent, wie immer, aber herzlich. »Finde ich auch. Es tut mir leid, dass ich nach der Sache im Ausschuss einfach untergetaucht bin. Ich hab’ gehört, was dir zugestoßen ist, und ich schäme mich, dass ich mich nicht früher gemeldet habe.« Er schloss die Tür hinter sich und sah Erim mit ernster Miene an. »Ich hab’ mir Sorgen um dich gemacht.«
Erims Brustkorb füllte sich mit Watte, sie hatte das Gefühl, so leicht zu werden, dass sie einfach davonschwebte. »Mir geht’s gut. Ehrlich. Na ja, abgesehen davon, dass ich jetzt arbeitslos bin, versteht sich.«
»Hm.« Raqan trat einen Schritt auf sie zu und berührte sacht ihre Hand. »Weißt du, möglicherweise ... bin ich nicht ausschließlich privat hier. Ich habe mit dem Management bei Solargy gesprochen, nach deiner Rede im Senat, und wie der Zufall will, ist gerade ein Posten frei geworden. Eine Leitungsaufgabe im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.«
Erim blinzelte, sie konnte nicht glauben, was sie hörte. »Du bietest mir ... eine Stelle an?«
Raqan zuckte mit den Schultern. »Ich habe gehört, der Wechsel aus der Politik in die freie Wirtschaft sei ausgesprochen üblich. Und ehe dich jemand anderes abwirbt ... nun ja.«
Erim sagte noch immer nichts, sie starrte Raqan unverwandt an.
»Es ist nur ein Angebot«, warf er ein. »Der Job wäre auf Kintor, also ein gutes Stück weg von Paraphan. Ich weiß, dort ist es ein paar Grad wärmer als hier, aber wir haben ein hervorragendes künstliches Klimasystem für andere Spezies, ein innerbetriebliches Gesundheitsmanagement, solide Altersvorsorge, eine gute Kantine und ...« Er senkte verlegen den Kopf. »Ganz nebenbei könnten wir mehr Zeit miteinander verbringen.«
Erim konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Sie wartete auf einen Haken, auf eine relevante Einschränkung, doch die blieb aus. Ein Jobangebot. Ein wirklich gutes Jobangebot. Solargy war ein solides Unternehmen mit einer positiven Firmenpolitik – und verdammt, das Angebot kam von Raqan. Das war besser, als sie es sich in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte.
Er beobachtete sie unschlüssig und legte den Kopf schief. »Wir könnten bei einem Abendessen darüber sprechen, wenn du willst. Ich hab’ heute noch nichts vor, und dieses kleine Lokal, in dem wir letztes Mal waren, ist wirklich schön. Diesmal können wir uns auch die Heimlichtuerei sparen.«
Erim hob die Augenbrauen, sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ist das ein Vorstellungsgespräch oder ein Date?«
»Ich weiß nicht ... Beides?«
Erim lächelte und ihre Finger strichen sacht über seinen Handrücken. »Deal.«