5.

Als im Jah­re 1620 Trup­pen durch Nürn­berg zo­gen, gab ih­nen Ka­plan Man­nich das Ge­leit bis Fürth mit Be­wil­li­gung des Ra­tes; denn der­sel­be hät­te gern ge­wusst, was die Sol­da­ten ei­gent­lich vor­hat­ten und wo­hin sie woll­ten, und mein­te, der fröh­li­che Geist­li­che, der mit meh­re­ren von den Of­fi­zie­ren be­kannt war und ver­trau­lich mit je­der­mann um­zu­ge­hen wuss­te, wür­de un­ter der Hand et­was her­aus­brin­gen. Es war zehn Uhr abends und die Stadt still und dun­kel, als auf dem Markt­platz lau­tes Trom­pe­ten­schmet­tern er­scholl, das vie­le, die schon schlie­fen, auf­weck­te und ver­an­lass­te, aus dem Fens­ter zu se­hen, was es gebe. Da er­blick­ten sie Ka­plan Man­nich, der von ei­nem Trüpp­lein Sol­da­ten heim­be­glei­tet wor­den war, da­mit er in der Trun­ken­heit nicht den Weg ver­feh­le, und dem sie nun einen Ab­schieds­tusch blie­sen, was er mit Hand­win­ken und lal­len­den Wor­ten er­wi­der­te. Als er be­merk­te, dass aus ei­nem ge­gen­über­lie­gen­den Wirts­hau­se neu­gie­ri­ge Leu­te her­aus­ka­men und gaff­ten, nick­te er ih­nen jauch­zend zu, auf wel­che Er­mu­ti­gung hin sie ihn ih­rer­seits mit Ge­schrei und Ge­läch­ter be­grüß­ten.

Als dem Ka­plan am an­de­ren Mor­gen die­ser Auf­tritt wie­der in den Sinn kam, be­schloss er, um den Rat zu be­gü­ti­gen, der es etwa emp­find­lich auf­neh­men könn­te, eine Pre­digt zu sei­nem Be­lie­ben zu hal­ten; es war näm­lich Sonn­tag. Es sei hohe Zeit, be­gann er mit her­aus­for­dern­den Bli­cken, dass das Volk ein­mal Buße tue, sie steif­ten sich al­le­zeit auf die Gna­de des Herrn, die sie so lan­ge über­flüs­sig ge­nos­sen hät­ten, statt aber da­durch vor­sich­tig und de­mü­tig zu wer­den, un­ter­fin­gen sie sich un­christ­li­cher Zu­ver­sicht, sä­ßen in den Wirts­häu­sern und ver­grif­fen sich mit dem lei­di­gen Bes­ser­wis­sen und Mä­keln an ih­rer Ob­rig­keit. Da kön­ne die Stra­fe Got­tes na­tür­lich nicht aus­blei­ben, und es hät­te ja auch schon der Ko­met im letz­ten Jah­re le­ser­lich an­ge­zeigt, wes­sen man sich von Gott zu ver­se­hen habe. Die vie­len Sol­da­ten gä­ben dem Ein­sich­ti­gen, der den Welt­lauf ken­ne, auch zu den­ken; um­sonst wä­ren sie nicht auf den Bei­nen, man wis­se nicht, wo­hin das We­sen zie­le, sei­ner­zeit wer­de es schon aus­bre­chen. In­zwi­schen soll­ten sie sich bes­sern und sich still und fried­lich hal­ten, da­mit Gott in sei­ner Barm­her­zig­keit noch das Übel zum Gu­ten keh­re.

Als aus Böh­men die Nach­richt von der gänz­li­chen Nie­der­la­ge und Flucht des Pfäl­zers kam, ver­mehr­te sich die Be­sorg­nis der Stadt. Bald tra­fen vor­wurfs­vol­le und be­droh­li­che Schrei­ben des Kai­sers ein, dass Nürn­berg dem Mans­feld, der doch in der Reichs­acht schwe­be, Wer­bun­gen in sei­nem Ge­biet ge­stat­tet habe, was sich al­ler­dings so ver­hielt und was nun mit ei­ni­gen zwie­späl­ti­gen Wen­dun­gen ver­tuscht wer­den muss­te. Es ver­lau­te­te von großen Rüs­tun­gen al­ler­or­ten und dass der Kö­nig von Böh­men die Tür­ken zu Hil­fe ge­ru­fen habe, wo­durch der Rat schließ­lich be­wo­gen wur­de, wie­der einen Tür­mer auf die Burg zu set­zen, was seit Jahr­zehn­ten au­ßer Ge­brauch ge­kom­men war. Un­ter den­je­ni­gen, die sich zu dem Amte mel­de­ten, war ein Kam­ma­cher, der in­fol­ge von Trunk­sucht ein we­nig in sei­nem Ge­wer­be her­un­ter­ge­kom­men war, der sich aber durch schar­fe Au­gen und an­sehn­li­che Emp­feh­lun­gen ge­eig­net mach­te; auch mein­te man, dass er, weil auf dem Tur­me kein Wirts­haus sei, sei­nem Las­ter mehr oder we­ni­ger ent­frem­det wer­den wür­de. Sei­ner be­weg­li­chen Bit­te, man möch­te ihn in der schwind­li­gen Höhe nicht ohne Zu­spra­che und Hil­fe, auch Ab­lö­sung las­sen, will­fahr­te man, in­dem man ihm einen Draht­zie­her mit­gab, wel­che bei­den an ei­nem Sep­tem­ber­ta­ge von zwei Rats­per­so­nen in ihre Be­hau­sung ein­ge­führt wur­den.

Die Rats­her­ren hiel­ten ih­nen vor, wel­ches ihre Pf­lich­ten und wie groß ihre Verant­wor­tung sei, und prüf­ten sie gründ­lich, ob sie mit den Him­mels­ge­gen­den, Stra­ßen, um­lie­gen­den Dör­fern und an­gren­zen­den Län­dern Be­scheid wuss­ten.

Es war weit und breit nichts zu se­hen als Wa­gen voll bräun­li­chen Korns, die schwer un­ter Nuss­bäu­men und Lin­den hin­schwank­ten, Frau­en und Mäd­chen, die hier und da die ab­ge­streif­ten Ähren auf­la­sen, und spie­len­de Bu­ben, die, über die Stop­pel­fel­der lau­fend, ihre pa­pie­re­nen Dra­chen an lan­gen Fä­den nach sich durch den himm­li­schen Ozean zo­gen.

Ein be­son­ders flei­ßi­ges Auf­mer­ken von sei­ten des Ra­tes ver­lang­ten die vie­len ös­ter­rei­chi­schen und böh­mi­schen Flücht­lin­ge, die ein­tra­fen und die Er­laub­nis, sich nie­der­zu­las­sen, be­gehr­ten, von de­nen zwar vie­le ade­lig und be­gü­tert wa­ren und den Flor der Stadt meh­ren zu sol­len schie­nen, die aber, wenn auch from­me und red­li­che Leu­te, oft hoch­fah­rend und un­ru­hig wa­ren, mit den Fein­den des Kai­sers in Ver­bin­dung stan­den oder mit den Ein­hei­mi­schen an­ein­an­der­ge­rie­ten, was dann teils ver­hü­tet, teils ge­schlich­tet wer­den muss­te.

Ei­nes Ta­ges kam ein jun­ger Mensch in ei­nem bunt­sche­cki­gen, et­was fa­den­schei­ni­gen An­zu­ge auf das Rat­haus und mel­de­te, in­dem er sich statt­lich ge­bär­de­te, er sei ein Knap­pe des Don Matt­hi­as d’Austria, Soh­nes der hoch­se­li­gen Ma­je­stät des Kai­sers Ru­dolf, wel­cher zum Be­huf sei­ner Ver­mäh­lung mit ei­ner ita­lie­ni­schen Dame in das Wel­sch­land zu zie­hen im Be­griff sei und in der Stadt Nürn­berg in der Gol­de­nen Gans zu näch­ti­gen ge­den­ke. In Erin­ne­rung an die Treue, mit der die be­rühm­te Stadt Nürn­berg sei­nem hoch­se­li­gen Va­ter an­ge­han­gen habe, und an die Huld, die der­sel­be ihr zu­ge­wen­det habe, wol­le er die Stadt um drei­hun­dert Ta­ler Rei­se­geld an­ge­hen, da­mit er sein Ziel umso för­der­li­cher er­rei­chen möge. So­wie der Knap­pe sich wie­der ent­fernt hat­te, be­schie­den die Her­ren den Wirt zur Gol­de­nen Gans auf das Rat­haus, einen etwa sech­zig­jäh­ri­gen, be­leib­ten, treu­her­zi­gen Mann, der bei Reichs-, Kur­fürs­ten- und Fürs­ten­ta­gen al­ler Art so vie­le re­gie­ren­de Her­ren be­her­bergt hat­te, dass er sich vor­treff­lich mit ih­nen aus­kann­te. Die­sen frag­ten sie, wie es mit dem frem­den An­kömm­ling be­stellt sei, ob er wohl wirk­lich der na­tür­li­che Sohn des Kai­sers, Don Matt­hi­as d’Austria, sei oder ein Gau­ner und Aben­teu­rer, der dem Rat Geld ab­lis­ten woll­te, wie man der­glei­chen lei­der nur zu oft er­le­be. Der Wirt gab an, ein et­was selt­sa­mes An­sehn habe die Sa­che frei­lich, doch sehe der Frem­de dem hoch­se­li­gen Kai­ser Ru­dolf gleich, be­son­ders die Un­ter­lip­pe sei nicht un­ver­fäng­lich, hange her­ab, wie wenn ei­ner schlot­te­ri­gen Jung­fer das Bän­del auf­ge­gan­gen sei; auch tre­te er wie ein großer Herr auf, rede Spa­nisch und Ita­lie­nisch durch­ein­an­der und schi­cke sich über­haupt im gan­zen wohl zur habs­bur­gi­schen Fa­mi­lie. Gleich nach sei­ner An­kunft habe er vom Apo­the­ker Ma­gen-Mor­sel­len, Ro­sen­zu­cker und der­glei­chen ho­len las­sen, sit­ze jetzt im Arm­stuhl und knab­be­re dar­an, habe auch ein paar Mäg­de von der Be­die­nung zu sich ge­ru­fen und schwat­ze mit ih­nen, wo­bei er sich bes­tens zu un­ter­hal­ten schei­ne.

Nach die­ser Aus­kunft schi­en es dem Rat ge­bo­ten, dem Prin­zen die Ehre der Be­grü­ßung nach al­tem Brauch zu er­wei­sen, in­dem sie ihm eine Kan­ne Mal­va­sier zum Will­komm über­reich­ten. Das Geld be­tref­fend, lie­ßen sie es bei zwei­hun­dert Ta­lern be­wen­den, in­dem sie sich mit den schwie­ri­gen Zeit­läuf­ten ent­schul­dig­ten.

Zu den Gäs­ten der Gol­de­nen Gans ge­hör­te um die­se Zeit ein ös­ter­rei­chi­scher Mu­si­ker na­mens For­tu­na­tus Ried, der um der Re­li­gi­on wil­len die Hei­mat hat­te ver­las­sen müs­sen, mit sei­ner Frau und sechs Kin­dern, von de­nen je­des sein In­stru­ment spiel­te, ei­nes die Or­gel, ei­nes die Bass­gei­ge, ei­nes die Lau­te, und auch das jüngs­te, vier­jäh­ri­ge hat­te ein klei­nes Sai­ten­spiel, wor­an es mit Ver­stand und Ge­schick ein we­nig zup­fen konn­te. Der Wirt, der Mu­sik und Kin­der lieb­te, pries das lieb­li­che Kon­zer­tie­ren der from­men ös­ter­rei­chi­schen Fa­mi­lie al­lent­hal­ben so an, dass sie, als sie sich im Gast­haus hö­ren lie­ßen, einen großen Zu­lauf hat­ten. Da nun je­der­mann sie hö­ren woll­te, gab ih­nen der Rat die Er­laub­nis, in der Lo­renz­kir­che zu sin­gen, wo denn die zar­ten Stim­men der Kin­der, die tie­fe, glo­cken­haf­te der Mut­ter und die wei­che des Va­ters wie ein Vo­gel­chor em­por­stie­gen und das hei­li­ge Stein­ge­wöl­be ju­bi­lie­rend be­leb­ten.

Der Wirt hat­te die Ge­wohn­heit, wenn ihm je­mand für eine emp­fan­ge­ne Gut­tat dan­ken woll­te, den Dank mit den Wor­ten ab­zu­weh­ren: »Dan­ke mir nicht, ei­nem ar­men Sün­der und Kin­de des To­des, soli Deo glo­ria!«, was auch die Ös­ter­rei­cher oft von ihm ver­nom­men hat­ten; denn er woll­te kei­ner­lei Ent­gelt von ih­nen an­neh­men. Um sich ihm nun er­kennt­lich zu zei­gen, setz­te For­tu­na­tus die Wor­te des gu­ten Man­nes künst­lich in Mu­sik, so­dass die ers­te Rede als ein Re­zi­ta­tiv fast ernst und trau­rig vor­ge­tra­gen wur­de, wor­auf der Chor mit dem ›So­li Deo glo­ria‹ an­hub, und zwar so, dass eine Stim­me nach der an­de­ren ein­fiel, bis alle mit­ein­an­der laut und fröh­lich durch­ein­an­der­wir­bel­ten und ein rech­tes Tri­umph­ge­schrei ent­stand. Als der Wirt sein Sprüch­lein er­kann­te und so himm­lisch aus­ge­schmückt auf sich nie­der­schal­len hör­te, auch die Bli­cke der An­we­sen­den, de­nen sei­ne Re­dens­art ver­traut war, sich zu ihm hin­wen­de­ten, gin­gen ihm die Au­gen über, und er pfleg­te nach­her oft zu er­zäh­len, dass alle gnä­di­gen Wor­te und Ge­schen­ke großer Her­ren, die ihm viel zu­teil ge­wor­den, ihm nicht so viel wert wä­ren wie das ›So­li Deo glo­ria‹ der from­men Aus­wan­de­rer.