35.

Sei­nem drin­gen­den Wun­sche ge­mäß wur­de Fried­rich von Spee des Beicht­am­tes bei den He­xen ent­ho­ben und nach Pei­ne ge­schickt, wo ein Je­sui­ten­klos­ter ein­ge­rich­tet wer­den soll­te. Wenn er Muße hat­te, ent­warf er den Plan zu ei­nem Bu­che über die He­xen­pro­zes­se und das un­ge­rech­te und un­ge­setz­li­che Ver­fah­ren, des­sen sich die Rich­ter da­bei be­dien­ten, und was dar­an schuld sei, näm­lich teils Ver­blen­dung und Un­wis­sen­heit, teils Hab­sucht, Grau­sam­keit und an­de­re böse Trie­be. Hät­te er das Buch vollen­det, dach­te er, wür­de er auch einen Weg fin­den, es ans Licht zu brin­gen, und hoff­te, den Men­schen wür­den da­durch die Au­gen ge­öff­net und dem Übel wür­de ge­steu­ert wer­den. An ei­nem der letz­ten April­ta­ge be­gab er sich von Pei­ne nach Wol­torp, um dort zu pre­di­gen und Kran­ke zu be­su­chen; denn es herrsch­te dort der Hun­ger­ty­phus und die Pest, so­dass kürz­lich der alte To­ten­grä­ber, ob­wohl er seit fünf­und­zwan­zig Jah­ren in sei­nem Amte war, da­von­ge­lau­fen war. Er habe nun ge­nug vom Lei­chen­gra­ben und wol­le lie­ber un­ter die Sol­da­ten ge­hen, hat­te er sich ver­neh­men las­sen und war nicht mehr ge­se­hen wor­den, wor­auf die Lei­chen un­be­gra­ben in den Häu­sern lie­gen­blie­ben, bis die ver­las­se­ne Frau zu­griff, die auch vor­her schon ih­rem Man­ne ge­hol­fen hat­te. Auf ei­nem ge­mäch­lich tra­ben­den Pfer­de ritt Spee durch einen Bu­chen­wald und ließ sei­ne Bli­cke fröh­lich durch das jun­ge Ge­fie­der der neu­be­leb­ten Bäu­me spie­len, das im mil­den Son­nen­schei­ne gold­gelb leuch­te­te. Über dem vor­jäh­ri­gen Lau­be, das feucht­braun am Bo­den kleb­te, lag der Ster­nen­schlei­er der Ane­mo­nen so lose, als müs­se ein leich­ter Wind ihn weg­hau­chen kön­nen.

Sein leich­tes Herz flog wie ein Vo­gel zu je­dem Blatt und je­der Blü­te, schmieg­te sich an sie und küss­te sie und kehr­te mit duf­ten­den Schwin­gen und me­lo­disch zu ihm zu­rück.

Durch ein Geräusch auf­ge­schreckt, sah er Män­ner und Frau­en durch das Ge­büsch nä­her­schlei­chen, au­gen­schein­lich in der Ab­sicht, ihn an­zu­bet­teln oder aus­zu­plün­dern. Als sie sa­hen, dass sie be­merkt wa­ren, tra­ten sie her­vor, fass­ten sein er­schro­cke­nes Pferd am Zü­gel und mach­ten sich dar­an, ihn aus dem Sat­tel zu rei­ßen. Er wehr­te ih­nen, in­dem er sag­te, er sei ein Geist­li­cher und be­sit­ze nichts; aber er habe et­was Geld bei sich, um die Not­lei­den­den und Kran­ken in Wol­torp zu un­ter­stüt­zen, da­von wol­le er ih­nen frei­wil­lig mit­tei­len; denn auch sie schie­nen sehr arm zu sein. Wäh­rend sie noch un­schlüs­sig stan­den, kam ein Rei­ter den Weg her ge­sprengt, zog eine Pis­to­le und schoss un­ter die Ban­de, die heu­lend aus­ein­an­der­stob und in das Ge­büsch lief. Spee wen­de­te sich dem Rei­ter zu und bat ihn, nicht wie­der zu schie­ßen, die Elen­den jam­mer­ten ihn, sie hät­ten mehr Aus­sät­zi­gen als Räu­bern ge­gli­chen. Es zö­gen sich jetzt vie­le aus den Dör­fern in die Wäl­der, die kein Dach und kein Brot und kein Vieh mehr hät­ten, um das Feld zu be­stel­len; da blie­be ih­nen nichts, als das Räu­ber­hand­werk zu trei­ben. »Ja«, sag­te der Un­be­kann­te la­chend, »wenn sie es nur bes­ser ver­stän­den! Aber es ist fei­ges Bau­ern­pack und wird ihm die­ser­ge­stalt nicht we­ni­ger auf den Na­cken ge­tre­ten als zu­vor.« Wie Spee ihn bes­ser ins Auge fass­te, fiel ihm ein, dies müs­se der Hor­ne­bos­tel sein, ein be­rüch­tig­ter Schnapp­hahn, wel­cher un­ter Mans­feld und Wal­len­stein ge­dient hat­te, dann aus­ge­ris­sen war und sich auf ei­ge­ne Hand um­her­trieb und der seit kur­z­em die Um­ge­gend von Pei­ne heim­such­te. »Seid Ihr nicht der Hor­ne­bos­tel aus Cel­le?« frag­te Spee und setz­te lä­chelnd hin­zu, so wäre er frei­lich aus dem Re­gen un­ter die Dachtrau­fe ge­kom­men. Nein, nein, ant­wor­te­te der an­de­re, Spee sol­le un­be­sorgt sein, an ei­nem gu­ten und from­men Man­ne wie Spee ver­grei­fe er sich nicht. Spee möge ihm ge­stat­ten, dass er ihm bis Wol­torp das Ge­leit gebe, da der Wald un­si­cher sei; wenn ihm sei­ne Ge­sell­schaft wi­der­wär­tig sei, wol­le er hin­ter­drein rei­ten. Spee dank­te dem Man­ne und bat ihn, an sei­ner Sei­te zu blei­ben und ihm zu er­klä­ren, warum er sich nicht ei­nem ehr­li­chen Le­ben zu­wen­de, da er doch ein groß­mü­ti­ges Herz ver­ra­te.

Frei­lich sei er kein schlech­ter Kerl, sag­te der Rei­ter, wenn er auch von Raub und Dieb­stahl leb­te. Da­mit tue er aber nichts an­de­res, als was in der Welt die meis­ten tä­ten, und am al­ler­meis­ten die­je­ni­gen, die die höchs­te Ehre ge­nös­sen. Die mar­ter­ten oft noch dazu die Ar­mut und Un­schuld aus Mut­wil­len, das sei sei­ne Art nicht, er tei­le manch­mal noch den ar­men Leu­ten mit. Ein Hei­li­ger frei­lich, der still­hal­te, wenn er ge­schla­gen wür­de, und für sei­ne Pei­ni­ger bete und der­glei­chen, ein sol­cher sei er nicht, von den ge­mei­nen Men­schen ver­lan­ge Gott das aber auch nicht, son­dern habe ih­nen kräf­ti­ge Mus­keln und Ver­stand ge­ge­ben, sich zu weh­ren und sich selbst zu hel­fen.

Sie wa­ren un­ter sol­chen Ge­sprä­chen an das Ende des Wal­des ge­kom­men und sa­hen den Ort Wol­torp mit ro­ten Dä­chern über der schwar­zen Erde flam­men, als Spee sag­te, es sei ihm selt­sam kühl um die Brust, er habe wohl eine klei­ne Wun­de emp­fan­gen und füh­le sich schwach, er fürch­te vom Pfer­de zu fal­len. Der Mann woll­te ihn ver­bin­den, er ver­ste­he sich gut dar­auf; aber Spee mein­te, das sei un­nö­tig, nur einen Schluck Wein wol­le er neh­men; denn er sehe, dass je­ner eine Fla­sche am Gurt hän­gen habe. Nach­dem er ge­trun­ken hat­te, gab er sei­nem Beglei­ter, der sich im Dor­fe nicht se­hen las­sen woll­te, die Hand und nahm Ab­schied von ihm.

Da er schon Leu­te vor der Kir­che war­ten sah, ging er so­fort hin­ein, um die Pre­digt zu hal­ten; nach dem Wein fühl­te er sich heiß und kräf­tig, und er glaub­te, er wer­de be­son­ders gut spre­chen kön­nen. Der Text des Sonn­tags war vom gu­ten Hir­ten, und er hat­te sich vor­ge­nom­men ge­habt, vom We­sen des Op­fers zu han­deln; aber er war jetzt von an­de­ren Din­gen er­füllt und be­gann, wie Gott mit je­dem Früh­ling die un­be­fleck­te Schön­heit des Pa­ra­die­ses wie­der auf­tue und har­re und win­ke, dass die Men­schen den Weg zu­rück fän­den, und dann mal­te er den der­eins­ti­gen Tag aus, wo sie alle kom­men und nach lan­ger schwe­rer Irr­fahrt in die Hei­mat ein­zie­hen wür­den, Lie­ben­de und Uns­terb­li­che.

Wäh­rend des Spre­chens fühl­te Spee, wie es kühl aus der Wun­de an ihm hin­un­ter­lief, und es war ihm auf ein­mal, als flie­ße sein Blut auf den stei­ner­nen Bo­den der Kir­che und fär­be ihn rot. Mit­ten zwi­schen den ge­bück­ten Men­schen sah er aus der dunklen La­che einen un­ge­heu­ren Holz­stamm stei­gen, der wuchs und zwei Äste aus­brei­te­te und bis an die De­cke stieg; es war das Kreuz, an dem Got­tes Sohn hing. Ein zer­fleisch­ter, blut­über­ron­ne­ner Leib krümm­te sich an dem Mart­er­hol­ze, und durch die zu­cken­de Mas­se ei­nes ver­tre­te­nen Ge­sich­tes starr­te der Ab­grund zwei­er ent­setz­li­cher Au­gen. Es war nicht ein ein­zel­nes Au­gen­paar, es wa­ren vie­le, un­end­lich vie­le al­ler de­rer, die je­mals ge­lit­ten hat­ten, der Zahl­lo­sen, die er selbst hat­te lei­den und ster­ben se­hen. In­des­sen das Kreuz wuchs und schwoll, be­gan­nen die Fens­ter zu bren­nen wie dun­kel­ro­te Nel­ken, die De­cke zer­barst, und über die schau­dern­de Erde reck­te sich wie eine ge­ra­de Fa­ckel der blu­ten­de Baum des Lei­dens. Spee woll­te schrei­en: ›Helft, helft dem Er­lö­ser!‹, aber sein Mund war ge­lähmt, Feu­er schwamm vor sei­nen Au­gen, und er griff mit bei­den Hän­den nach der Brüs­tung der Kan­zel, um nicht dar­über hin­ab­zu­fal­len.

Nach­dem er meh­re­re Tage am Wund­fie­ber krank ge­le­gen hat­te, er­laub­te ihm der Or­den, sich zur Er­ho­lung auf ei­nem west­fä­li­schen Gute auf­zu­hal­ten, wo er das Buch über die He­xen­pro­zes­se schrieb, wel­ches im Jah­re 1631 un­ter dem Ti­tel ›Cau­tio cri­mi­na­lis seu de pro­ces­si­bus con­tra sa­gas li­ber‹, das ist: ›Vor­sicht in kri­mi­nel­len Din­gen oder Buch über die He­xen­pro­zes­se‹ ohne den Na­men des Ver­fas­sers er­schi­en.