47.

Es war im No­vem­ber, als ein kran­kes Mäd­chen im Hes­si­schen wun­der­ba­re Ge­sich­te hat­te. Es lag seit meh­re­ren Jah­ren ge­lähmt im Bet­te, be­trübt, dass es nicht ar­bei­ten kön­ne, viel­mehr den El­tern zur Last sei; aber die­se emp­fan­den es nicht so; denn es aß we­nig, war im­mer freund­lich und voll gu­ter Ein­fäl­le, Rat und Trost. An ei­nem trü­ben, kal­ten Abend kam die Mut­ter und brach­te dür­re Äste aus dem Wal­de heim, mit de­nen sie im Her­de Feu­er mach­te; dann leg­te sie Wa­chol­der­bee­ren auf die er­wärm­te Plat­te und sag­te, so hät­ten sie we­nigs­tens einen gu­ten Ge­ruch, wenn sie auch nichts zu es­sen hät­ten. Sie war eben be­schäf­tigt, in ei­nem Ver­schla­ge zu kra­men, ob sie nicht noch ein Stück Brot fän­de, als das lah­me Mäd­chen, das sie im fes­ten Schlaf ge­glaubt hat­te, einen lau­ten Schrei tat. Als die bei­den El­tern an das Bett lie­fen, rich­te­te es sich al­lein auf, blick­te mit weit­ge­öff­ne­ten Au­gen auf die Wand und rief: »Da ist er! Er kommt! Un­ser Ret­ter ist an­ge­kom­men!« Sie sä­hen nichts, sag­ten die er­schro­cke­nen El­tern, es träu­me ihr ge­wiss. Ohne die El­tern zu be­ach­ten, fuhr das Mäd­chen fort zu schwär­men: »Es leuch­tet wie eine Flam­me, das Dorf ist taghell. Ich sehe den Markt und den Brun­nen und den Kirch­turm, aber er ragt über al­les. Die Stun­de ist ge­kom­men, da der Herr sich sei­nes Vol­kes er­bar­men will. Er schickt sei­nen En­gel mit ei­nem Flam­menschwert, das das Haupt des Dra­chen spal­tet. Ach, wie er lä­chelt, der Hold­se­li­ge! Sei ge­grüßt, du Sieg­rei­cher, du Gna­den­brin­ger, un­ser Kai­ser! Mei­ne Hän­de bin­den dir die Kro­ne, mei­ne Füße lau­fen dir ent­ge­gen, ich bin auf­er­stan­den und alle wer­den auf­er­stehn und dir dan­ken!«

Zu­letzt sank das Mäd­chen auf sein La­ger zu­rück, und sein Spre­chen ging in ein Lal­len über; in einen Starr­krampf ver­fal­len, lag es schein­bar leb­los da. Wäh­rend die Mut­ter am Bet­te sit­zen blieb, lief der Va­ter zum Pfar­rer, um ihm das Vor­ge­fal­le­ne zu be­rich­ten und sei­nen Bei­stand zu er­bit­ten. Ob sie et­was zu es­sen hät­ten? frag­te der Pfar­rer; er habe selbst nicht viel, aber ein Stück­lein Brot kön­ne er doch miss­en, und wenn das Mägd­lein zu sich kom­me, müs­se es eine Stär­kung ha­ben. Un­ter­wegs sag­te er, er kön­ne sich nicht den­ken, was das Ge­sicht zu be­deu­ten habe; dass der böse Feind aus dem Kin­de rede, kön­ne er je­doch nicht glau­ben; er ken­ne es, seit es lebe, und habe es nie an­ders als gut und fromm ge­fun­den. Der Va­ter wisch­te sich die Au­gen und sag­te, er selbst sei ein Sün­der, das wis­se er wohl, und auch sei­ne Bu­ben, die den Sol­da­ten zu­ge­lau­fen wä­ren; aber das Kind sei wie ein Lamm, habe seit der Wie­ge nur ge­lit­ten und nie ge­klagt, Gott kön­ne es nicht ver­las­sen ha­ben. Vor dem Häu­schen, das die Leu­te be­wohn­ten und das am Ende des Dor­fes stand, blie­ben sie einen Au­gen­blick ste­hen; die Fens­ter­schei­ben wa­ren zer­bro­chen und die Lö­cher mit Lum­pen aus­ge­füllt, an der Haus­tür fehl­te die Klin­ke, und der klei­ne Vor­gar­ten war ver­wil­dert; aus Ge­strüpp und Un­kraut starr­ten braun und nass ein paar ge­knick­te Mal­ven und Bal­sa­mi­nen. Der Pfar­rer schüt­tel­te be­trübt den Kopf; vor dem Krie­ge sei dies Häu­schen das sau­bers­te im Dor­fe ge­we­sen, sag­te er. Ja, sag­te der Mann, wenn sei­ne Bu­ben ihm nicht fort­ge­lau­fen wä­ren, hät­te er sich eher wie­der her­aus­ma­chen kön­nen; nun müs­se er al­les ver­kom­men las­sen.

Beim Ein­tritt der Män­ner er­wach­te das Mäd­chen, sah mit freund­lich stau­nen­den Bli­cken um sich und er­rö­te­te vor Freu­de, als sie den Pfar­rer er­kann­te, der sie von Zeit zu Zeit zu be­su­chen pfleg­te. Von dem, was es ge­se­hen und ge­sagt hat­te, wuss­te es nichts mehr, lausch­te aber mit glän­zen­den Au­gen der Er­zäh­lung ih­rer El­tern. Es wa­ren in­zwi­schen auch ein paar Nach­barn her­an­ge­kom­men, und alle be­spra­chen das selt­sa­me Ge­sicht und sei­ne ver­mut­li­che Be­deu­tung.

Kürz­lich, sag­te der Krä­mer, habe ein Hau­sie­rer aus dem Mag­de­bur­gi­schen die Neu­ig­keit mit­ge­bracht, dass der Schwe­den­kö­nig mit vie­len Schif­fen übers Meer ge­kom­men sei und schrift­lich habe aus­ge­ben las­sen, er wol­le dem be­dräng­ten Vol­ke den Frie­den brin­gen und den frü­he­ren Glücks­stand wie­der her­stel­len. Es wür­den aber große, blu­ti­ge Kämp­fe vor­her­gehn, ehe die gute Zeit an­brä­che. »Ja«, sag­te der Pfar­rer, »wer weiß, ob wir sie er­le­ben. Wenn sie nur un­sern Kin­dern zu­gu­te kommt.« Das Kind habe aber vom Kai­ser ge­spro­chen, sag­te ei­ner, ob da­mit der Schwe­den­kö­nig ge­meint sein kön­ne? Der Kai­ser sei päpst­lich, sag­te der Krä­mer, und sei der Evan­ge­li­schen Feind. Er habe ih­nen die Sol­da­ten auf den Hals ge­schickt, um sie mit Ge­walt vom Evan­ge­li­um zu brin­gen und päpst­lich zu ma­chen. Das Kind frag­te schüch­tern, ob es nicht ein En­gel mit schnee­wei­ßen Flü­geln ge­we­sen sei, den es ge­se­hen habe. Nein, ant­wor­te­te die Mut­ter, von Flü­geln habe es nichts ge­sagt; der Held sei mit ei­ner Rüs­tung be­klei­det ge­we­sen und habe ein Schwert ge­führt. Er sei voll Huld und Gna­de ge­we­sen, habe die Ar­men und Be­la­de­nen auf­stehn hei­ßen, der Macht des Teu­fels ein Ende ge­macht und ein neu­es Reich des Frie­dens und des Glückes ver­kün­digt.

Ein Gott­ge­sand­ter sei es si­cher­lich ge­we­sen, den das Kind ge­se­hen habe, sag­te der Pfar­rer, sie woll­ten be­ten und hof­fen, in­zwi­schen aber wach­sam und vor­sich­tig sein, denn der Ver­rä­ter gebe es in die­ser bö­sen Zeit vie­le. Das glau­be er fest, dass Gott ih­nen mit­tels ei­ner un­schul­di­gen Jung­frau Ver­trös­tung habe schi­cken wol­len und dass er ih­nen die Ret­tung vor­be­rei­te. Die Prü­fung sei schwer ge­we­sen, und sie wä­ren wohl fast dar­un­ter zu­sam­men­ge­bro­chen. Sie wüss­ten ja alle, dass er sei­ne Frau und alle sei­ne Kin­der an der Pest ver­lo­ren hät­te, die von den Sol­da­ten ein­ge­schleppt wor­den wäre; zu­erst hät­te er ge­seufzt und ge­klagt, aber nach­dem die Teue­rung ge­kom­men wäre, hät­te er ein­ge­se­hen, wie gut es Gott ge­meint habe. Ach, wenn er sei­ne Kind­lein vor Hun­ger wei­nen hät­te hö­ren müs­sen! An­statt des­sen wä­ren sie alle mit­ein­an­der in der er­wünsch­ten Se­lig­keit, sorg­los zwit­schernd und lob­sin­gend wie die lie­ben Vö­gel. Wenn ihm nur die Sol­da­ten nicht sei­nen schö­nen schwar­zen Tuch­man­tel ge­nom­men hät­ten, den er von dem se­li­gen Va­ter sei­ner Frau, sei­nem Vor­gän­ger im Amt, er­erbt ge­habt habe. Er dan­ke Gott, dass sei­ne Frau das nicht habe er­le­ben müs­sen. Wie oft habe sie den Man­tel ge­flickt und aus­ge­bes­sert, das wür­de ihr das Herz ge­bro­chen ha­ben.

Ja, sag­te das kran­ke Kind, wenn der Herr Pfar­rer in dem lan­gen schwar­zen Man­tel da­her­ge­kom­men sei, dann sei ihr im­mer ganz fei­er­lich zu­mu­te ge­wor­den.

Zu­mal er sie auch, füg­te die Mut­ter hin­zu, an den se­li­gen al­ten Pfarr­herrn er­in­nert hät­te und an sei­nen schnee­wei­ßen Bart, der dar­über hin­ab­ge­wallt sei. Da hät­te man ge­meint, der lie­be Gott sel­ber kom­me ein­her­ge­gan­gen.

Der Pfar­rer wisch­te sich die Trä­nen aus den Au­gen und sag­te, sie hät­ten wohl al­les op­fern müs­sen; aber es wäre doch nur zeit­li­ches Gut, Gott kön­ne es ih­nen zehn­fach wie­der­ge­ben, wenn er woll­te.

Wenn sie nur noch ein ein­zi­ges Mal ih­rem Kin­de satt zu es­sen ge­ben könn­te, sag­te die Mut­ter zag­haft; wor­auf ein Nach­bar sag­te, es ste­he ge­schrie­ben: ›Se­lig sind, die da hun­gern und dürs­ten, denn sie wer­den das Him­mel­reich se­hen.‹ »Es ist so«, sag­te der Pfar­rer; »so­lan­ge wir Got­tes Wort ha­ben, soll­ten wir nicht mur­ren.« In Böh­men und Schle­si­en, er­zähl­te er, hät­ten die evan­ge­li­schen Pfar­rer am Sta­be ins Elend wan­dern müs­sen, und alle die, wel­che da­ge­blie­ben wä­ren, hät­ten ih­ren Gott ver­leug­nen müs­sen. Wenn man sich dar­in spie­gle, sähe man doch, wie gut man es hät­te.

Gott möge ihr die Sün­de ver­zei­hen, sag­te die Mut­ter er­schro­cken, um ih­res un­schul­di­gen Kin­des wil­len möge er sie ver­zei­hen.

Der Pfar­rer zog nun das Stück Brot her­vor, das er mit­ge­bracht und bis­her ver­ges­sen hat­te, und zeig­te ihr, wie Gott ihr das schi­cke, ge­ra­de als sie hät­te ver­za­gen wol­len. Die Frau nick­te und dank­te und mach­te sich dar­an, das Brot im Was­ser zu ei­ner Sup­pe zu ko­chen, wäh­rend der Pfar­rer und die Nach­barn wie­der in die dunkle, feuch­te, ah­nungs­vol­le Nacht hin­aus­gin­gen.