34.

Kö­nig Fer­di­nand von Un­garn woll­te von stren­ger Be­stra­fung der Städ­te Re­gens­burg und Nörd­lin­gen nichts wis­sen, nach alt­kai­ser­li­chem Grund­satze die Städ­te im Reich als sei­ne Stüt­ze scho­nend und schir­mend; der olym­pi­schen Na­tur des Kai­sers, sag­te er, ste­he die Ra­che nicht an, was zu ihm ge­hö­re, tre­te so­fort in den Licht­kreis der Gna­de. Hin­ge­gen soll­te sein Blitz das feind­li­che Heer tref­fen, das nach der un­glück­li­chen Schlacht auf­ge­löst, des einen sei­ner Feld­her­ren, näm­lich des ge­fan­ge­nen Horn, be­raubt, durch stram­me Ver­fol­gung leicht hät­te gänz­lich ver­nich­tet wer­den kön­nen. Al­lein der Kar­di­na­lin­fant von Spa­ni­en glaub­te die ver­wandt­schaft­li­che Pf­licht da­mit er­füllt zu ha­ben, dass er durch sein Er­schei­nen dem ös­ter­rei­chi­schen Vet­ter zum Sieg ver­hol­fen hat­te. In ei­ner Hin­sicht war es Fer­di­nand zu­frie­den, sei­ne Lor­bee­ren nicht län­ger mit dem Kar­di­na­lin­fan­ten tei­len zu müs­sen, und er be­gnüg­te sich, das feind­li­che Ge­biet nach al­len Sei­ten mit sei­nen Trup­pen zu über­schwem­men. Zu­nächst wur­de Schwa­ben be­trof­fen, des­sen jun­ger Her­zog Eber­hard nach Straß­burg ent­floh und sich un­ter fran­zö­si­schen Schutz stell­te.

Von den Sol­da­ten, die Tü­bin­gen ein­nah­men, fiel ein klei­ner Trupp in das Haus des Pro­fes­sors Schickard ein, wo sich zur­zeit nur sei­ne Mut­ter, sei­ne Schwes­ter und sein klei­ner Sohn be­fan­den, wäh­rend er selbst mit meh­re­ren Kol­le­gen in der Uni­ver­si­tät war, um Schutz­wa­chen für die­sel­be wie für den gan­zen Lehr­kör­per zu er­wir­ken. Die Toch­ter hat­te der Mut­ter vor­ge­schla­gen, als der Lärm in die Stra­ße drang, sie woll­ten sich ir­gend­wo, im Kel­ler oder un­ter dem Da­che, ver­ber­gen; al­lein die alte Frau er­wi­der­te, sie habe kei­ne Furcht, da sie in Got­tes Hand ste­he, und ge­traue sich, mit den Män­nern fer­tig zu wer­den; es wür­den ja kei­ne Teu­fel sein. Das ers­te war, dass die Leu­te Wein ver­lang­ten, den die Mut­ter ih­rer Toch­ter aus dem Kel­ler zu ho­len be­fahl; al­lein jene ris­sen ihr die Schlüs­sel aus der Hand, zapf­ten ihn selbst und tran­ken. Ein we­nig be­rauscht, be­gan­nen sie Tru­hen und Käs­ten zu öff­nen, Klei­der und Kost­bar­kei­ten her­aus­zu­rei­ßen und in Bün­del zu pa­cken, end­lich dran­gen sie in das Ar­beits­zim­mer des Pro­fes­sors und wühl­ten un­ter sei­nen Bü­chern. Die Frau, die bis da­hin, die Toch­ter an der einen, den En­kel an der an­de­ren Hand hal­tend, ru­hig zu­ge­se­hen hat­te, trat jetzt auf die Sol­da­ten zu mit den Wor­ten, das wä­ren die Bü­cher ih­res Soh­nes, des Pro­fes­sors, die dürf­ten sie nicht an­rüh­ren. Ei­ner der Sol­da­ten herrsch­te sie an, sie sol­le schwei­gen, sie könn­ten ihr auch das Dach über dem Kop­fe an­zün­den. »Was hät­tet ihr da­von?« sag­te die Frau, »und was habt ihr da­von, die­se Bü­cher zu zer­rei­ßen? Für euch sind sie wert­los; aber mein Sohn be­darf ih­rer zur Ar­beit.« Die Sol­da­ten wa­ren im Be­griff, ihr nach­zu­ge­ben, als ei­ner rief, es wä­ren ket­ze­ri­sche Bü­cher und ver­dien­ten ver­brannt zu wer­den; wo­bei er meh­re­re er­griff, aus­ein­an­der­riss, zu Bo­den warf und mit Fü­ßen trat.

»Pfui!« rief die Alte, »den Wein mögt ihr ver­schüt­ten und die Klei­der zer­rei­ßen; aber wenn ihr das edle Geis­tes­wort schän­det, seid ihr Hei­den und Ma­me­lu­cken ver­gleich­bar.«

Die­se An­re­de er­reg­te die Wut der Sol­da­ten, und sie pack­ten sie an, um sie von den Bü­cher­re­ga­len, vor die sie sich wie zum Schutz ge­stellt hat­te, weg­zu­rei­ßen. Da­bei wur­de sie ver­wun­det, dass das Blut über ihre Hän­de lief, wor­über der Klei­ne, der an ih­rem Ro­cke hing, in ein Jam­mer­ge­schrei aus­brach. Sie bück­te sich zu ihm her­ab und flüs­ter­te ihm zu, er sol­le sich im Dach­bo­den ver­ste­cken, da­ge­gen such­ten er und ihre Toch­ter sie fort­zu­zie­hen. Mitt­ler­wei­le schal­ten die Sol­da­ten auf sie los, sie sei eine ver­fluch­te ket­ze­ri­sche Hexe, glau­be nicht an Gott und müs­se hin wer­den. »Wenn ich nicht an Gott glaub­te«, ver­tei­dig­te sie sich, »so wäre ich vor euch da­von­ge­lau­fen; aber ich fürch­te mich nicht, weil ich weiß, dass Gott über euch und über mir ist.« Ei­ner zog ein Mut­ter­got­tes­bild aus der Ta­sche und hielt es ihr hin: wenn sie ihr Le­ben er­hal­ten wol­le, so sol­le sie das Bild an­be­ten. Sie schüt­tel­te den Kopf und sag­te, nein, das kön­ne sie nicht; sie ver­eh­re die Mut­ter des Herrn, aber sie bete nur Gott an. Nun fie­len die Sol­da­ten, mit Ge­wehr­kol­ben schla­gend und mit Mes­sern ste­chend, über sie her; auch ihre Toch­ter, die sich da­zwi­schen­wer­fen woll­te, wur­de ver­letzt, in­des der Klei­ne, um den Va­ter zur Hil­fe zu ho­len, da­von­lief. Er traf ihn auf der Stra­ße, sich einen Weg durch das Ge­tüm­mel bah­nend, und trieb ihn zu ver­dop­pel­ter Eile an; im Hau­se, das die Plün­de­rer in­zwi­schen ver­las­sen hat­ten, fan­den sie die bei­den Frau­en an­schei­nend leb­los zwi­schen den Bü­chern am Bo­den lie­gen.

Es zeig­te sich, dass die Wun­den, die Schickards Schwes­ter emp­fan­gen hat­te, nicht töd­lich wa­ren; aber für die alte Frau war kei­ne Hoff­nung. Wenn sie zu­wei­len zum Be­wusst­sein kam und ih­ren Sohn an ih­rem Bet­te sit­zen sah, den kum­mer­vol­len Blick auf sie ge­rich­tet, such­te sie ihn mit lei­ser Stim­me zu trös­ten und er­mahn­te ihn, sich als ein Christ in den Wil­len Got­tes zu er­ge­ben. »Zu ster­ben bin ich be­reit«, ent­geg­ne­te er, »aber kann ein Baum grü­nen ohne Erde für sei­ne Wur­zeln? Mei­ne Mut­ter war mei­ne Erde, mein Luft und Licht, mein Tau und Re­gen.«

Drei­ßig Jah­re lang, sag­te die alte Frau träu­me­risch, sei sie nun Wit­we und habe täg­lich ihr Herz stark ge­macht, um ih­ren Kin­dern Va­ter und Mut­ter zu sein; nun dür­fe sie ru­hen. Nun sei es an ih­ren Kin­dern, fest­zu­ste­hen und wei­ter­zu­kämp­fen, bis Gott auch sie ab­rie­fe. Sie soll­ten sei­nen klei­nen mut­ter­lo­sen Sohn zu ei­nem from­men, tap­fe­ren, red­li­chen Mann er­zie­hen, da­mit sie einst alle in Gott ver­ei­nigt wür­den.

»Es wird kein Glück und Stern bei mir sein ohne mei­ne Mut­ter«, sag­te Schickard trau­rig.

Nach­dem die Ord­nung in der er­ober­ten Stadt ein we­nig wie­der her­ge­stellt war, ka­men die Freun­de der Fa­mi­lie und be­rich­te­ten ein je­der von sei­nem Jam­mer. Was die Pro­fes­so­ren be­son­ders be­weg­te, war das Ver­hal­ten ih­res Kol­le­gen, des be­rühm­ten Rechts­ge­lehr­ten Be­sold, der sich dem Sie­ger zur Ver­fü­gung ge­stellt hat­te mit der Er­klä­rung, dass er be­reits vor fünf Jah­ren heim­lich zur ka­tho­li­schen Kir­che über­ge­tre­ten sei. Jah­re­lang hat­te der Ab­trün­ni­ge sie mit der Mie­ne des Freun­des be­tro­gen, hat­te jah­re­lang schel­misch die Früch­te sei­nes durch Lug und Trug be­wahr­ten Am­tes ein­ge­heimst. Ein Spi­on und Wolf im Schafs­pelz war der scharf­sin­ni­ge, ge­sel­li­ge und sanf­te Mann ge­wor­den und frohlock­te wohl nun mit den blu­ti­gen Ero­be­rern über den Fall sei­nes Va­ter­lan­des.

Im Kamp­fe mit dem Teu­fel, sag­te Schickards Mut­ter schwach aus ih­ren Kis­sen her­vor, kom­me es dar­auf an, dass man ihm von An­fang an das Ohr ver­schlie­ße. Las­se man sich sei­ne sü­ßen Schmei­chel­re­den ein­mal ein­ge­hen, so sei da­mit eine Sch­lin­ge um­ge­wor­fen, mit der man bald fest­ge­bun­den sei; dann sei man Skla­ve und müs­se dem Ty­ran­nen in die Höl­le fol­gen. Tag und Nacht müs­se man ge­rüs­tet sein und, wenn man den buh­le­ri­schen Atem des Ver­füh­rers spü­re, sich rit­ter­lich weh­ren. Dazu sei der un­glück­li­che Be­sold wohl zu weich­lich und schwach ge­we­sen.

Gera­de die fei­nen und ge­lehr­ten Geis­ter, sag­te Pro­fes­sor Lan­si­us, wür­den oft­mals durch die So­phis­men und je­sui­ti­sche Schein­weis­heit des Teu­fels be­tört, weil ih­rem im Tüf­teln ge­üb­ten Geist sol­che Kost schmeck­te. Nur wenn ein­fäl­ti­ge Treue und Wahr­heit da­beib­lie­be, sei Gott die Ge­lehr­sam­keit wohl­ge­fäl­lig.

»Ja«, sag­te die Alte, »wäre Eva nicht ein Lecker­maul ge­we­sen, so hät­te sie nicht in das Äpf­lein der Schlan­ge ge­bis­sen, des­glei­chen Adam.«

In das Ge­spräch hin­ein scholl plötz­lich Glo­cken­ge­läut wie die schau­rig ah­nungs­vol­le Stim­me des ge­wit­ter­schwü­len Som­mer­nach­mit­tags. Es wür­den alle die­je­ni­gen be­gra­ben, er­klär­te Lan­si­us der kran­ken Frau, die an dem un­heil­vol­len Tage von den Sol­da­ten um­ge­bracht oder sonst ver­un­glückt wä­ren. We­gen der großen An­zahl der To­ten und weil der Weg zum Fried­hof vor dem Tore ge­fähr­lich wäre, wür­den sie ohne geist­li­chen Bei­stand in eine ge­mein­sa­me Gru­be ge­legt.

Die Alte fal­te­te ihre zit­tern­den Hän­de und dank­te Gott, dass er sie ein Weil­chen län­ger le­ben las­se; so wür­de sie doch viel­leicht ein Ru­he­bett­lein für sich und ein Ge­bet er­hal­ten.

Die­se Hoff­nung ver­wirk­lich­te sich; denn als sie Ende Sep­tem­ber starb, konn­te man wa­gen, zum ers­ten Male wie­der eine Be­er­di­gung in der her­kömm­li­chen Wei­se vor­zu­neh­men. Schickard, ihr Sohn, wur­de da­durch nicht ge­trös­tet, kaum ver­moch­te ihn das Zu­re­den der Schwes­ter, sich ein we­nig zu­sam­men­zu­neh­men. Ob­wohl selbst noch krank an ih­ren Wun­den, stand sie auf, um sich des Haus­we­sens an­zu­neh­men, und er­mahn­te ihn, sie hät­ten von der Mut­ter ge­lernt, dass es un­christ­lich sei, sich der Verzweif­lung hin­zu­ge­ben, er sol­le auf den Klei­nen se­hen, der still mit ge­fal­te­ten Hän­den im Win­kel auf dem Bänk­lein sit­ze, die Au­gen voll Trä­nen, je­doch ohne zu kla­gen. Es sei eben heu­te der Tag, an dem sie vor drei­ßig Jah­ren den Va­ter ver­lo­ren und den sie von je­her mit Ge­dan­ken an Gott und Got­tes wun­der­ba­re Ratschlä­ge ge­fei­ert hät­ten. Sie woll­ten es jetzt eben­so ma­chen und ein­ge­denk sein, dass ihre Mut­ter, ob­wohl un­sicht­bar, in ih­rer Mit­te wei­le.

Schickard nahm sich die Wor­te der Schwes­ter zu Her­zen; aber nach we­ni­gen Wo­chen er­klär­te er, das Elend nicht län­ger er­tra­gen und den Über­mut der pa­pis­ti­schen Söld­ner nicht län­ger an­se­hen zu kön­nen, und ver­ließ mit sei­nem Soh­ne Tü­bin­gen.