36.

Am 25. No­vem­ber war der zwan­zigs­te Ge­burts­tag der Her­zo­gin Ka­ro­li­ne Char­lot­te von Jü­lich. Drei Tage vor­her war ihr zwei­tes Kind, dem erst­ge­bo­re­nen fol­gend, ge­stor­ben, und so war sie wie­der al­lein; es war ihr, als sei da­mit al­les vor­über und sie kön­ne nun heim­ge­hen zu ih­ren El­tern nach Zwei­brücken. In der Nacht, die ih­rem Ge­burts­ta­ge vor­auf­ging, lag sie schlaf­los mit of­fe­nen Au­gen und hör­te dem Re­gen zu, der un­auf­hör­lich an ihre Fens­ter schlug; das Geräusch blieb sich ein­tö­nig gleich, nur zu­wei­len wur­de es hoh­ler und stär­ker, wenn ein Wind­stoß in die Was­ser­mas­sen fuhr. Wo wa­ren ihre Lieb­lin­ge in die­ser schwar­zen No­vem­ber­nacht? Un­will­kür­lich press­te sie die ge­fal­te­ten Hän­de an ihr angst­vol­les Herz und be­weg­te be­tend die Lip­pen. Sie wa­ren bei Gott; ir­gend­wo jen­seit ih­res kurz­sich­ti­gen Be­grei­fens blüh­te das süße Licht, nur sie war für im­mer im Dun­kel. Glück­lich, über­glück­lich war sie ge­we­sen: so­wie sie in die Nähe der Wie­ge ge­tre­ten war, hat­te das Pa­ra­dies sie um­fan­gen, das wie ein schwe­ben­des Gärt­lein das ge­lieb­te Kind um­kreis­te. Zwei­mal hat­te Gott sie die­se Se­lig­keit ge­nie­ßen las­sen, wenn auch nur flüch­tig; hat­te er ihr die Him­mels­blu­men ge­zeigt, da­mit sie nach dem Him­mel ver­lan­gen lern­te? Frei­lich, dach­te sie, mach­te er ihr da­durch die Pf­licht der Erde schwe­rer. Schau­dernd dach­te sie an die Stun­de, die den trü­ben Tag her­auf­füh­ren, und was er ihr brin­gen wür­de, an ih­ren Mann, der im­mer Auf­merk­sam­keit und Teil­nah­me für sei­ne Per­son und für vie­le Din­ge ver­lang­te, die ihr un­ver­ständ­lich oder ab­schre­ckend wa­ren, an das Elend ih­rer Glau­bens­ge­nos­sen, das sie nicht lin­dern konn­te. Hät­te sie nur ein ein­zi­ges Mal in die sor­gen­den Au­gen ih­res Va­ters bli­cken kön­nen! Hät­te sie sei­ne lie­be Stim­me hö­ren kön­nen, die sag­te: ›Hal­te fest an Gott, so mag die Erde un­ter dir bers­ten!‹

Dann schalt sie sich, dass sie im­mer das be­gehr­te, was ihr ent­ris­sen oder was ihr ver­sagt war. Trug sie nicht alle Leh­ren im Her­zen, die ihr Va­ter ihr je­mals ge­ge­ben hat­te? Wa­rum woll­te sie sei­ne Stim­me auch mit den Sin­nen fas­sen? Künf­tig, nahm sie sich vor, woll­te sie teil­neh­mend, hei­ter, hilfs­be­reit sein, nicht nach Ver­lo­re­nem trach­ten, son­dern für emp­fan­ge­nes Gut dan­ken; nur noch ein­mal, in die­ser Nacht, woll­te sie sich aus­wei­nen. Mit ei­nem Ge­fühl un­ein­ge­schränk­ter Er­leich­te­rung wein­te sie laut­los in ihr Kis­sen, bis es ganz nass war und sie ein­sch­lief.

Als sie mor­gens am Ka­mi­ne saß, in dem ein Feu­er brann­te, trat ihr Stief­sohn Phil­ipp Wil­helm ein, der sie, weil sie un­ge­fähr gleich­alt­rig wa­ren, im ver­trau­ten Ver­kehr Schwes­ter zu nen­nen pfleg­te. Er wünsch­te ihr Glück zum Ge­burts­ta­ge und sag­te, dass er lan­ge nach­ge­dacht habe, wie er ihr eine Freu­de be­rei­ten könn­te, und dass ihm ein­ge­fal­len sei, wie sie kürz­lich an Hus­ten und Hei­ser­keit ge­lit­ten habe; des­halb habe er ihr ein Pelz­lein um den Hals be­sorgt, da­mit sie bes­ser vor Käl­te und Zug­luft ge­schützt sei. Sie nahm er­rö­tend den klei­nen brau­nen Kra­gen und dank­te, wo­bei sie an dem großen jun­gen Mann hin­auf­se­hen muss­te; dann lud sie ihn ein, sich zu ihr zu set­zen. In­dem sie den Pelz strei­chel­te, fiel ihr plötz­lich ihr to­tes Kind ein, und die Trä­nen stie­gen ihr in die Au­gen; aber sie drück­te sie has­tig hin­un­ter, knüpf­te den Pelz um den Hals und frag­te, ob es nicht gar zu statt­lich für sie sei? Er fan­ge wohl an, sich in der Galan­te­rie zu üben, fuhr sie ne­ckend fort, da er nun bald ein Bräut­lein ha­ben wer­de.

Da­von sei ihm nichts be­wusst, sag­te er ab­weh­rend, er be­fin­de sich le­dig wohl ge­nug.

Sein Va­ter aber den­ke dar­an, sag­te sie, und er wür­de doch auch mit ei­ner Kai­ser­s­toch­ter wohl ver­sorgt sein.

Es sei noch nicht so­weit, sag­te Phil­ipp Wil­helm; er wol­le eine Frau, die ihn hoch­ach­te, und kei­ne, die sich mehr als er zu sein dün­ke.

Die Erz­her­zo­gin sei ja sei­ne Base, sag­te Ka­ro­li­ne Char­lot­te, und wer­de ihn schon in Ehren hal­ten. Auch sei es ge­wiss ein Wunsch sei­ner ver­stor­be­nen Mut­ter, was sei­nen Va­ter be­wo­gen habe, das Pro­jekt zu be­trei­ben.

Nun, sag­te Phil­ipp Wil­helm, in­dem er sich be­hag­lich in den Stuhl zu­rück­lehn­te, er wol­le sich’s über­le­gen. Je­den­falls wol­le er kei­ne Frau, die sein Schwes­ter­chen nicht lieb­hät­te.

Nach ei­ner Wei­le trat Wolf­gang Wil­helm ein, der erst am Abend vor­her von ei­ner Rei­se zu­rück­ge­kom­men war. Nun wer­de der Frie­de zu­stan­de kom­men, er­zähl­te er. Der Kur­fürst von Sach­sen habe das Schwert be­reits ein­ge­steckt, oh­ne­hin nicht viel Ehre da­mit ein­ge­legt; Bran­den­burg wer­de bald nach­fol­gen. Hät­ten die Fürs­ten es wie er ge­macht und wä­ren von An­fang an bei der Neu­tra­li­tät ge­blie­ben, so stän­de es bes­ser ums Reich. Er habe es sich frei­lich auch Mühe kos­ten las­sen, und es ge­hö­re po­li­ti­scher Ver­stand dazu. Fürs­ten soll­ten Staats­män­ner und kei­ne Rauf­bol­de sein.

Ach, sag­te Ka­ro­li­ne Char­lot­te, wenn der Frie­den käme, das soll­te ihr das al­ler­liebs­te Ge­burts­tags­ge­schenk sein.

Nach dem Sie­ge bei Nörd­lin­gen, sag­te Wolf­gang Wil­helm, kön­ne der Kai­ser den Frie­den vor­schrei­ben, wie er wol­le. Es blei­be den Evan­ge­li­schen nichts üb­rig, als sich zu un­ter­wer­fen, und das ge­sch­ehe ih­nen recht, weil sie un­ge­schickt und vor­wit­zig ge­we­sen wä­ren.

Ka­ro­li­ne Char­lot­te und Phil­ipp Wil­helm schwie­gen bei­de. Er wol­le nun er­war­ten, fuhr Wolf­gang Wil­helm fort, ob der Kai­ser sich sei­nes Sie­ges ver­nünf­tig be­die­nen wer­de. Er, Wolf­gang Wil­helm, habe sich bis­her kei­ner Bil­lig­keit von ihm zu er­freu­en ge­habt, ob­wohl der Kai­ser, ganz ab­ge­se­hen von der Ver­wandt­schaft, Ur­sa­che ge­habt hät­te, ihn be­son­ders zu be­rück­sich­ti­gen. Er wol­le es aber dem Kai­ser nicht nach­tra­gen, in­kli­nie­re viel­mehr zu ei­nem en­ge­ren Ver­ständ­nis, zu des­sen Be­för­de­rung er nach Wien zu rei­sen ge­den­ke, und es kön­ne sein, dass sei­ne Ab­we­sen­heit sich über meh­re­re Mo­na­te er­stre­cken wer­de. Ka­ro­li­ne sol­le aber des­we­gen nicht de­spe­rat sein, er wer­de für al­les Vor­sor­ge tref­fen und lie­ße auch Phil­ipp Wil­helm zu­rück, da­mit er ihr eine Stüt­ze wäre.

Er dür­fe auf sie kei­ne Rück­sicht neh­men, wenn es das Wohl des Lan­des gel­te, sag­te Ka­ro­li­ne; sie wer­de sich Mühe ge­ben, den Pf­lich­ten ih­rer Stel­lung zu ge­nü­gen.

Da­von sei er über­zeugt, sag­te Wolf­gang Wil­helm, dass sie sich be­mü­hen wer­de und dass, wenn sie es ir­gend­wie am Gu­ten er­man­geln las­se, we­ni­ger Ei­gen­sinn und Ei­gen­wil­le als miss­lei­te­te Ein­sicht dar­an schuld sei. Es habe ihm bil­li­ger­wei­se großen Schmerz ver­ur­sacht, dass er sei­ne Kin­der bei­de so bald habe müs­sen da­hinster­ben se­hen und dass die Nach­fol­ge in ei­nem so be­deu­ten­den Lan­de, wie das sei­ni­ge sei, ein­zig auf den bei­den Au­gen sei­nes Soh­nes ers­ter Ehe ste­he. Er habe ihr schon nach dem Tode des ers­ten Kin­des ge­sagt, dass Gott ihr da­mit einen Fin­ger­zeig ge­ben und sie zur Kir­che lo­cken wol­le; sie habe sich aber an­ge­stellt, als ver­ste­he sie ihn nicht, habe so­gar trotz sei­ner An­deu­tun­gen die evan­ge­li­sche Kin­der­frau be­hal­ten. Nun habe sie die Fol­gen ih­res Un­ge­hor­sams er­lebt, die auch ihn hart trä­fen. Hät­te sie sich ge­fügt, wie er ge­hofft habe, so wür­de die­se Stra­fe sie nicht ge­trof­fen ha­ben.

Sie kön­ne nicht glau­ben, dass es sich so ver­hal­te, ent­geg­ne­te Ka­ro­li­ne Char­lot­te lei­se. Es stür­ben auch Kin­der ka­tho­li­scher Müt­ter. Erst kürz­lich habe die Frau Oberst­mar­schal­lin zwei Kin­der nach­ein­an­der ver­lo­ren.

Das sei et­was an­de­res, sag­te Wolf­gang Wil­helm, da­mals habe die Pest ge­herrscht. Er wis­se es üb­ri­gens nicht an­ders, als dass sie, die schul­di­ge Be­schei­den­heit der Ehe­frau hint­an­set­zend, im­mer Wi­der­wor­te ge­gen ihn habe.

So habe sie es nicht ge­meint, ent­schul­dig­te sich Ka­ro­li­ne Char­lot­te; sie habe nur sa­gen wol­len, dass es für die Men­schen schwer wäre, Got­tes hei­li­gen Wil­len zu deu­ten.

Phil­ipp Wil­helms Bli­cke ruh­ten mit­lei­dig auf der blas­sen, frös­teln­den Ge­stalt im schwar­zen Klei­de, wie sie die schma­len Hän­de fest ge­gen­ein­an­der press­te und die klu­gen dunklen Au­gen ernst bit­tend auf den schel­ten­den Her­zog rich­te­te. Als sie fort­ge­gan­gen war, um ei­ni­gen Stan­des­da­men Au­di­enz zu er­tei­len, die sie be­glück­wün­schen woll­ten, sag­te er miss­ver­gnügt zu sei­nem Va­ter, es fal­le ihm schwer, an­zu­hö­ren, wie er die arme leid­tra­gen­de Frau um­sonst pei­ni­ge.

So? sag­te Wolf­gang Wil­helm scharf, es neh­me ihn wun­der, das zu hö­ren. Phil­ipp Wil­helm habe doch des öf­te­ren ge­äu­ßert, er möch­te lie­ber kin­der­los blei­ben als eine un­ka­tho­li­sche Frau neh­men.

Ja, ant­wor­te­te Phil­ipp Wil­helm, das sei auch sei­ne Mei­nung, und sein Va­ter hät­te bes­ser ge­tan, nach dem­sel­ben Grund­satz zu han­deln.

Es sei sei­ne Ab­sicht ge­we­sen, sie der Kir­che zu­zu­füh­ren, sag­te Wolf­gang Wil­helm, eine gute, hei­li­ge Ab­sicht, die den Bei­fall sei­nes Beicht­va­ters ge­habt hät­te.

Er habe sich eben zu viel zu­ge­traut, sag­te Phil­ipp Wil­helm; die Her­zo­gin sei kein Rohr, das man nach Be­lie­ben bie­gen könn­te.

»Wer hät­te ge­dacht«, sag­te Wolf­gang Wil­helm sin­nend, »dass auf dem zar­ten Mäd­chen­leib ein so he­ro­i­sches Köpf­lein säße? Es ist ihr mit kei­ner Waf­fe bei­zu­kom­men.«

So sol­le er es doch auf­ge­ben, sag­te Phil­ipp Wil­helm, umso mehr, als er ihr fei­er­lich ge­lobt hät­te, sie un­ge­kränkt bei ih­rem Glau­ben zu las­sen. Es sei un­fürst­lich, sein Wort nicht zu hal­ten.

Das zu be­ur­tei­len sei Phil­ipp Wil­helm noch zu jung, sag­te der Her­zog ver­wei­send. Im Wi­der­streit der Pf­lich­ten müs­se oft die ge­rin­ge­re der vor­neh­me­ren wei­chen.