Am 25. November war der zwanzigste Geburtstag der Herzogin Karoline Charlotte von Jülich. Drei Tage vorher war ihr zweites Kind, dem erstgeborenen folgend, gestorben, und so war sie wieder allein; es war ihr, als sei damit alles vorüber und sie könne nun heimgehen zu ihren Eltern nach Zweibrücken. In der Nacht, die ihrem Geburtstage voraufging, lag sie schlaflos mit offenen Augen und hörte dem Regen zu, der unaufhörlich an ihre Fenster schlug; das Geräusch blieb sich eintönig gleich, nur zuweilen wurde es hohler und stärker, wenn ein Windstoß in die Wassermassen fuhr. Wo waren ihre Lieblinge in dieser schwarzen Novembernacht? Unwillkürlich presste sie die gefalteten Hände an ihr angstvolles Herz und bewegte betend die Lippen. Sie waren bei Gott; irgendwo jenseit ihres kurzsichtigen Begreifens blühte das süße Licht, nur sie war für immer im Dunkel. Glücklich, überglücklich war sie gewesen: sowie sie in die Nähe der Wiege getreten war, hatte das Paradies sie umfangen, das wie ein schwebendes Gärtlein das geliebte Kind umkreiste. Zweimal hatte Gott sie diese Seligkeit genießen lassen, wenn auch nur flüchtig; hatte er ihr die Himmelsblumen gezeigt, damit sie nach dem Himmel verlangen lernte? Freilich, dachte sie, machte er ihr dadurch die Pflicht der Erde schwerer. Schaudernd dachte sie an die Stunde, die den trüben Tag heraufführen, und was er ihr bringen würde, an ihren Mann, der immer Aufmerksamkeit und Teilnahme für seine Person und für viele Dinge verlangte, die ihr unverständlich oder abschreckend waren, an das Elend ihrer Glaubensgenossen, das sie nicht lindern konnte. Hätte sie nur ein einziges Mal in die sorgenden Augen ihres Vaters blicken können! Hätte sie seine liebe Stimme hören können, die sagte: ›Halte fest an Gott, so mag die Erde unter dir bersten!‹
Dann schalt sie sich, dass sie immer das begehrte, was ihr entrissen oder was ihr versagt war. Trug sie nicht alle Lehren im Herzen, die ihr Vater ihr jemals gegeben hatte? Warum wollte sie seine Stimme auch mit den Sinnen fassen? Künftig, nahm sie sich vor, wollte sie teilnehmend, heiter, hilfsbereit sein, nicht nach Verlorenem trachten, sondern für empfangenes Gut danken; nur noch einmal, in dieser Nacht, wollte sie sich ausweinen. Mit einem Gefühl uneingeschränkter Erleichterung weinte sie lautlos in ihr Kissen, bis es ganz nass war und sie einschlief.
Als sie morgens am Kamine saß, in dem ein Feuer brannte, trat ihr Stiefsohn Philipp Wilhelm ein, der sie, weil sie ungefähr gleichaltrig waren, im vertrauten Verkehr Schwester zu nennen pflegte. Er wünschte ihr Glück zum Geburtstage und sagte, dass er lange nachgedacht habe, wie er ihr eine Freude bereiten könnte, und dass ihm eingefallen sei, wie sie kürzlich an Husten und Heiserkeit gelitten habe; deshalb habe er ihr ein Pelzlein um den Hals besorgt, damit sie besser vor Kälte und Zugluft geschützt sei. Sie nahm errötend den kleinen braunen Kragen und dankte, wobei sie an dem großen jungen Mann hinaufsehen musste; dann lud sie ihn ein, sich zu ihr zu setzen. Indem sie den Pelz streichelte, fiel ihr plötzlich ihr totes Kind ein, und die Tränen stiegen ihr in die Augen; aber sie drückte sie hastig hinunter, knüpfte den Pelz um den Hals und fragte, ob es nicht gar zu stattlich für sie sei? Er fange wohl an, sich in der Galanterie zu üben, fuhr sie neckend fort, da er nun bald ein Bräutlein haben werde.
Davon sei ihm nichts bewusst, sagte er abwehrend, er befinde sich ledig wohl genug.
Sein Vater aber denke daran, sagte sie, und er würde doch auch mit einer Kaiserstochter wohl versorgt sein.
Es sei noch nicht soweit, sagte Philipp Wilhelm; er wolle eine Frau, die ihn hochachte, und keine, die sich mehr als er zu sein dünke.
Die Erzherzogin sei ja seine Base, sagte Karoline Charlotte, und werde ihn schon in Ehren halten. Auch sei es gewiss ein Wunsch seiner verstorbenen Mutter, was seinen Vater bewogen habe, das Projekt zu betreiben.
Nun, sagte Philipp Wilhelm, indem er sich behaglich in den Stuhl zurücklehnte, er wolle sich’s überlegen. Jedenfalls wolle er keine Frau, die sein Schwesterchen nicht liebhätte.
Nach einer Weile trat Wolfgang Wilhelm ein, der erst am Abend vorher von einer Reise zurückgekommen war. Nun werde der Friede zustande kommen, erzählte er. Der Kurfürst von Sachsen habe das Schwert bereits eingesteckt, ohnehin nicht viel Ehre damit eingelegt; Brandenburg werde bald nachfolgen. Hätten die Fürsten es wie er gemacht und wären von Anfang an bei der Neutralität geblieben, so stände es besser ums Reich. Er habe es sich freilich auch Mühe kosten lassen, und es gehöre politischer Verstand dazu. Fürsten sollten Staatsmänner und keine Raufbolde sein.
Ach, sagte Karoline Charlotte, wenn der Frieden käme, das sollte ihr das allerliebste Geburtstagsgeschenk sein.
Nach dem Siege bei Nördlingen, sagte Wolfgang Wilhelm, könne der Kaiser den Frieden vorschreiben, wie er wolle. Es bleibe den Evangelischen nichts übrig, als sich zu unterwerfen, und das geschehe ihnen recht, weil sie ungeschickt und vorwitzig gewesen wären.
Karoline Charlotte und Philipp Wilhelm schwiegen beide. Er wolle nun erwarten, fuhr Wolfgang Wilhelm fort, ob der Kaiser sich seines Sieges vernünftig bedienen werde. Er, Wolfgang Wilhelm, habe sich bisher keiner Billigkeit von ihm zu erfreuen gehabt, obwohl der Kaiser, ganz abgesehen von der Verwandtschaft, Ursache gehabt hätte, ihn besonders zu berücksichtigen. Er wolle es aber dem Kaiser nicht nachtragen, inkliniere vielmehr zu einem engeren Verständnis, zu dessen Beförderung er nach Wien zu reisen gedenke, und es könne sein, dass seine Abwesenheit sich über mehrere Monate erstrecken werde. Karoline solle aber deswegen nicht desperat sein, er werde für alles Vorsorge treffen und ließe auch Philipp Wilhelm zurück, damit er ihr eine Stütze wäre.
Er dürfe auf sie keine Rücksicht nehmen, wenn es das Wohl des Landes gelte, sagte Karoline; sie werde sich Mühe geben, den Pflichten ihrer Stellung zu genügen.
Davon sei er überzeugt, sagte Wolfgang Wilhelm, dass sie sich bemühen werde und dass, wenn sie es irgendwie am Guten ermangeln lasse, weniger Eigensinn und Eigenwille als missleitete Einsicht daran schuld sei. Es habe ihm billigerweise großen Schmerz verursacht, dass er seine Kinder beide so bald habe müssen dahinsterben sehen und dass die Nachfolge in einem so bedeutenden Lande, wie das seinige sei, einzig auf den beiden Augen seines Sohnes erster Ehe stehe. Er habe ihr schon nach dem Tode des ersten Kindes gesagt, dass Gott ihr damit einen Fingerzeig geben und sie zur Kirche locken wolle; sie habe sich aber angestellt, als verstehe sie ihn nicht, habe sogar trotz seiner Andeutungen die evangelische Kinderfrau behalten. Nun habe sie die Folgen ihres Ungehorsams erlebt, die auch ihn hart träfen. Hätte sie sich gefügt, wie er gehofft habe, so würde diese Strafe sie nicht getroffen haben.
Sie könne nicht glauben, dass es sich so verhalte, entgegnete Karoline Charlotte leise. Es stürben auch Kinder katholischer Mütter. Erst kürzlich habe die Frau Oberstmarschallin zwei Kinder nacheinander verloren.
Das sei etwas anderes, sagte Wolfgang Wilhelm, damals habe die Pest geherrscht. Er wisse es übrigens nicht anders, als dass sie, die schuldige Bescheidenheit der Ehefrau hintansetzend, immer Widerworte gegen ihn habe.
So habe sie es nicht gemeint, entschuldigte sich Karoline Charlotte; sie habe nur sagen wollen, dass es für die Menschen schwer wäre, Gottes heiligen Willen zu deuten.
Philipp Wilhelms Blicke ruhten mitleidig auf der blassen, fröstelnden Gestalt im schwarzen Kleide, wie sie die schmalen Hände fest gegeneinander presste und die klugen dunklen Augen ernst bittend auf den scheltenden Herzog richtete. Als sie fortgegangen war, um einigen Standesdamen Audienz zu erteilen, die sie beglückwünschen wollten, sagte er missvergnügt zu seinem Vater, es falle ihm schwer, anzuhören, wie er die arme leidtragende Frau umsonst peinige.
So? sagte Wolfgang Wilhelm scharf, es nehme ihn wunder, das zu hören. Philipp Wilhelm habe doch des öfteren geäußert, er möchte lieber kinderlos bleiben als eine unkatholische Frau nehmen.
Ja, antwortete Philipp Wilhelm, das sei auch seine Meinung, und sein Vater hätte besser getan, nach demselben Grundsatz zu handeln.
Es sei seine Absicht gewesen, sie der Kirche zuzuführen, sagte Wolfgang Wilhelm, eine gute, heilige Absicht, die den Beifall seines Beichtvaters gehabt hätte.
Er habe sich eben zu viel zugetraut, sagte Philipp Wilhelm; die Herzogin sei kein Rohr, das man nach Belieben biegen könnte.
»Wer hätte gedacht«, sagte Wolfgang Wilhelm sinnend, »dass auf dem zarten Mädchenleib ein so heroisches Köpflein säße? Es ist ihr mit keiner Waffe beizukommen.«
So solle er es doch aufgeben, sagte Philipp Wilhelm, umso mehr, als er ihr feierlich gelobt hätte, sie ungekränkt bei ihrem Glauben zu lassen. Es sei unfürstlich, sein Wort nicht zu halten.
Das zu beurteilen sei Philipp Wilhelm noch zu jung, sagte der Herzog verweisend. Im Widerstreit der Pflichten müsse oft die geringere der vornehmeren weichen.