45.

In ei­nem ab­seits lie­gen­den Hau­se in Zwei­brücken stand eine Frau an ei­ner Büt­te und wusch, wäh­rend zwei Kin­der, ein Mäd­chen und ein Kna­be, auf ei­ner Bank hin­ter dem Ofen la­gen und schlie­fen. Durch Re­gen und Wind hör­te die Frau plötz­lich ein Klop­fen an der Fens­ter­schei­be und tas­te­te sich durch das dunkle Zim­mer, um zu se­hen, wer da sei. Sie sol­le nicht er­schre­cken, rief eine leich­te Kin­der­stim­me, es sei nur die klei­ne Lise da, des Be­sen­bin­ders En­kel­kind; sie habe im Wal­de Rei­sig und Buch­e­ckern für den Groß­va­ter ge­sucht und sei nun so müde, dass sie nicht mehr von der Stel­le kön­ne; ob sie sich ein Vier­tel­stünd­chen aus­ru­hen dürf­te? Die Frau ließ das Mäd­chen ein­tre­ten und bück­te sich dicht über sie, um sie zu be­trach­ten. Ja, sie sol­le nur da­blei­ben, sag­te sie dann, in der Kam­mer ste­he ihr Bett, da dür­fe sie schla­fen. Das Mäd­chen dank­te er­schro­cken, es sei ja ge­nug, wenn sie in ei­nem Win­kel ein we­nig ras­ten dürf­te; aber die Frau be­ru­hig­te sie: sie selbst müs­se noch wa­schen, und die Kin­der lä­gen hin­ter dem Ofen, sie, die klei­ne Lise, zit­te­re ja vor Näs­se und Käl­te am gan­zen Lei­be, sie sol­le ins Bett. Da­bei fass­te sie das Mäd­chen am Arm, um sie in die an­sto­ßen­de Kam­mer zu zie­hen. Der Klei­nen wur­de es plötz­lich ban­ge. Ob sie nicht bei den Kin­dern hin­ter dem Ofen lie­gen dür­fe? frag­te sie. Ach nein, sag­te die Frau, da sei kein Platz mehr für sie. Sie sol­le ins Bett krie­chen, es sei auch noch ein klei­nes Stück Brot da, das wol­le sie ihr ge­ben, weil sie so durch­nässt und er­fro­ren sei, Gott wür­de es ihr loh­nen.

Als die Frau zu­rück­kam und hin­ter den Ofen blick­te, hat­te sich das klei­ne Mäd­chen halb auf­ge­rich­tet und starr­te die Mut­ter mit großen Au­gen an. Wa­rum sie das frem­de Mäd­chen in die Kam­mer ge­bracht hät­te? frag­te sie. Sie sol­le schla­fen, ent­geg­ne­te die Frau, was sie das an­ge­he?

Und warum die Mut­ter dem frem­den Mäd­chen ihr letz­tes Stück­lein Brot ge­ge­ben hät­te? frag­te das Kind wei­ter; sie hät­ten doch selbst so großen Hun­ger.

Sie wür­de es schon wie­der ein­brin­gen, sag­te die Frau mit ei­nem lei­sen La­chen. Wie sie das mei­ne? frag­te das Kind, die Frau am Rock fas­send. Und warum sie vor­hin, als sie aus der Kam­mer ge­kom­men wäre, ge­mur­melt hät­te: das Mäd­chen habe ihr der Herr­gott ins Haus ge­schickt?

Die Frau zog ih­ren Rock aus der Hand des Kin­des und be­fahl ihr flüs­ternd, in­dem sie dro­hend die Faust er­hob, ru­hig zu sein, da­mit der Bru­der nicht auf­wa­che. Das Kind zog sich in sei­nen Win­kel zu­rück und ver­folg­te mit den Au­gen in der Dun­kel­heit die Mut­ter, wie sie erst an einen Kas­ten ging, dann sich vor eine Tru­he knie­te und einen star­ken Strick her­aus­zog, des­sen Län­ge sie prüf­te, dann an die Kam­mer­tür ging und horch­te. Es konn­te sich nicht mehr zu­rück­hal­ten, lief zur Mut­ter hin und frag­te, was sie vor­ha­be? Sie wol­le ja dem frem­den Mäd­chen et­was zu­lei­de tun. Die Frau be­fahl dem Kin­de Schwei­gen. Es sei jetzt ein Lamm im Stall, flüs­ter­te sie, das wol­le sie schlach­ten, da­mit sie mor­gen einen Bra­ten hät­ten.

Nein, nein, schluchz­te das Kind, es wol­le kei­nen Bra­ten es­sen. Die Mut­ter hät­te dem Mäd­chen das Brot nicht ge­ben sol­len.

So? sag­te die Frau. Aber das Häs­lein habe ih­nen doch ge­schmeckt, das sie letzthin ge­bra­ten habe?

Ja, das Häs­lein, sag­te das Kind. Die Mut­ter sol­le wie­der ein Häs­lein im Wal­de fan­gen. Das Häs­lein sei auf zwei Bei­nen ge­lau­fen, sag­te die Frau, und sei der Bub ge­we­sen, mit dem sie da­mals in den Wald ge­gan­gen sei. Wenn sie jetzt still­schwie­ge, be­käme sie mor­gen et­was zu es­sen. Oder ob sie alle zu­sam­men ver­hun­gern woll­ten?

Die Klei­ne kroch wie­der hin­ter den Ofen und klam­mer­te sich an ih­ren schla­fen­den Bru­der. Ihr Herz klopf­te stark, und sie zog die De­cke über ihr Ge­sicht, wäh­rend sie zu­gleich horch­te. Als sie ein Wim­mern aus der Kam­mer ver­nahm, fing sie zu wei­nen an und stopf­te sich die De­cke fes­ter in die Ohren. Noch eine lan­ge Wei­le lag sie vor Angst zit­ternd wach, dann über­wan­den sie Mü­dig­keit und Schwä­che, dass sie ein­sch­lief.