56.

In sei­nem Quar­tier in Pon­tar­lier saß Gué­bri­ant am Fens­ter und las eine so­eben er­hal­te­ne In­struk­ti­on, nach wel­cher er schleu­nig dazu schrei­ten soll­te, Her­zog Bern­hard zur Über­ga­be Brei­sachs an Frank­reich zu ver­an­las­sen; im­mer­hin so, dass sei­ne Emp­find­lich­keit mög­lichst ge­schont und sei­ne An­häng­lich­keit an den Kö­nig er­hal­ten blie­be. Als der Graf ge­le­sen hat­te, schob er das Schrei­ben in ein Ta­schen­buch und seufz­te; dann zog er einen klei­nen Hand­spie­gel aus der Ta­sche, ord­ne­te sei­ne Lo­cken und zupf­te ge­dan­ken­los an dem schwar­zen Pfläs­ter­chen, das er über ei­ner vor Jah­ren emp­fan­ge­nen Wun­de auf der Wan­ge trug. Der Auf­trag war ihm au­ßer­or­dent­lich zu­wi­der; denn er wuss­te ge­wiss, dass er Bern­hard da­durch rei­zen, und ahn­te, dass er ihn nicht wür­de be­ein­flus­sen kön­nen. Hat­te Bern­hard sich auch nie deut­lich dar­über aus­ge­spro­chen, so stand es doch über je­dem Zwei­fel, dass er Brei­sach für sich selbst er­obert hat­te; so kämpf­te nie­mand um eine Braut, die er für einen an­de­ren frei­te. Gué­bri­ant dach­te an den ver­gan­ge­nen Herbst zu­rück, als an den Schan­zen ge­baut und um die Schan­zen ge­strit­ten wur­de, Bern­hard fie­ber­krank in Kol­mar lag und von dort aus das große Werk mit sei­nem lei­den­schaft­lich ge­spann­ten Geist be­herrsch­te. Wäh­rend sein Kör­per jäm­mer­lich hin­ge­streckt mit dem Tode rang, stand sein Wil­le wie ein Ad­ler über dem furcht­ba­ren Boll­werk, das er sich un­ter­wer­fen woll­te. An je­nen Ok­to­ber­tag dach­te Gué­bri­ant, als die zu ei­nem un­er­war­te­ten Über­fall ver­ei­nig­te kai­ser­li­che Macht her­an­rück­te, die vor­ders­ten Schan­zen er­ober­te und schon die große Schiff­brücke be­droh­te, mit wel­cher der Zu­gang zur Fes­tung in die Hän­de des Fein­des ge­fal­len wäre: wie er, von der Not des Au­gen­blicks er­grif­fen, in sei­ne Trup­pen drang, zur Ver­tei­di­gung der Brücke an­zu­rück­en, wie sie sich wei­ger­ten, wie er mahn­te und droh­te, sei­ne Of­fi­zie­re be­stürm­te, und wie plötz­lich Bern­hard in ih­rer Mit­te er­schi­en, al­les mit sich rei­ßend auf die Brücke spreng­te und un­er­schüt­tert zwi­schen ge­schlach­te­ten Op­fern den Sieg auf sei­ne Sei­te riss. Un­ver­ge­ss­lich stand sein Bild vor ihm, wie er ihn an je­nem Abend be­grüß­te: sein Ge­sicht war fahl, sein Auge wie von schwar­zen Flö­ren um­wun­den, das lan­ge Haar kleb­te ihm an den Schlä­fen, und die Hand, mit der er das Spit­zen­tuch an die Stirn führ­te, um sie zu trock­nen, zit­ter­te. Was er selbst Wun­der­ba­res ge­leis­tet hat­te, schi­en er kaum zu wis­sen, an­statt des­sen rühm­te er Gué­bri­ants Tap­fer­keit und die Bun­de­streue, mit der er sei­ne wi­der­stre­ben­den Völ­ker zur Schlacht ge­führt hat­te.

Ein Ge­fühl der Be­frie­di­gung kam all­mäh­lich über Gué­bri­ant; er hat­te sich in der Tat so ge­gen Bern­hard be­nom­men, wie ein Edel­mann soll­te, und wenn Bern­hard war, wie er ihn ein­schätz­te, muss­te er ihm eben­so be­geg­nen. Bern­hards ver­bor­ge­ne Ab­sich­ten durch­schau­end, die den ge­rech­ten Wün­schen sei­nes Kö­nigs ent­ge­gen­ge­setzt wa­ren, hat­te er ihn doch stets mit Hin­t­an­set­zung sei­ner ei­ge­nen Be­quem­lich­keit un­ter­stützt und wie einen er­ge­be­nen An­hän­ger Frank­reichs be­han­delt. Sei­ne Feld­herrn­grö­ße hat­te er be­wun­dert, ohne Neid zu emp­fin­den oder sich durch Ei­tel­keit täu­schen zu las­sen; er hat­te ge­zeigt, dass er, von al­len zu­fäl­li­gen Um­stän­den ab­se­hend, den Men­schen schät­zen konn­te. Wenn nun der Au­gen­blick da war, wo er in der Be­schrän­kung sei­nes Am­tes auf­tre­ten und die Pf­licht ei­nes Va­sal­len des Kö­nigs aus­üben muss­te, wür­de Bern­hard so klein­lich sein, ihn des­halb we­ni­ger hoch zu ach­ten? Er rich­te­te sich ge­ra­de auf und ent­schloss sich, ohne Zö­gern fest in die Dor­nen zu grei­fen; hat­te er doch ge­wusst, als er den Rhein über­schritt, dass dies ein sty­gi­scher Fluss für ihn war, der ihn, viel­leicht für im­mer, von Frank­reich, dem Hei­mat­lan­de der Son­ne und der Freu­de, ab­schnitt.

Der Her­zog saß, als Gué­bri­ant bei ihm ein­trat, in sei­nen Man­tel gehüllt an ei­nem Tisch und schrieb. Die Son­ne sei noch gar zu win­ter­lich, sag­te er, es frös­te­le ihn durch und durch. Aber auch Gué­bri­ant sehe lei­dend aus; ob er von sei­ner Krank­heit noch nicht ganz wie­der­her­ge­stellt sei?

Da­von woll­ten sie nicht re­den, ant­wor­te­te Gué­bri­ant; er hof­fe es bald über­wun­den zu ha­ben und schä­me sich, wenn er sähe, wie un­er­müd­lich Bern­hard trotz sei­ner an­ge­grif­fe­nen Ge­sund­heit wäre. Es er­schei­ne ein Wun­der, wenn man den er­bärm­li­chen Zu­stand Brei­sachs nach der Erobe­rung ge­se­hen hät­te, wie es sich jetzt wie­der reg­te und schö­ner auf­blüh­te. Das sei die Frucht von Bern­hards ein­sich­ti­gen Mü­hen. Was da­bei stö­re und be­trü­be, sei nur der Ge­dan­ke, der auf­ge­wand­te Fleiß kön­ne am Ende noch dem Fein­de zum Vor­teil ge­rei­chen.

Was Gué­bri­ant da­mit sa­gen wol­le? frag­te Bern­hard, die Stir­ne run­zelnd. Ob er ihn nicht Manns ge­nug er­ach­te, Ero­ber­tes fest­zu­hal­ten?

O ja, das traue er ihm wohl zu, sag­te Gué­bri­ant mit ei­nem lei­sen An­flug von Spott. Aber der Mensch und zu­mal der Sol­dat ste­he in Got­tes Hand. Soll­te Bern­hard ein Un­glück zu­sto­ßen, was Gott ver­hü­ten möge, so sei kei­ne Vor­sor­ge ge­trof­fen, dass Frank­reich das El­saß schüt­zen könn­te. Ohne Fra­ge wür­de der Habs­bur­ger in sol­chem Fal­le Brei­sach so­fort wie­der an sich zu brin­gen su­chen. Wer es dann ver­tei­di­gen soll­te?

Er habe das Ver­trau­en zu Gott, sag­te Bern­hard, dass er ihn zum Woh­le Deutsch­lands und des Evan­ge­li­ums noch ei­ni­ge Zeit wer­de le­ben las­sen. Soll­te er ihn aber ab­ru­fen, so lie­ge die Pf­licht, Brei­sach zu schüt­zen, sei­nen Er­ben ob.

Nach ei­ner Pau­se, wäh­rend wel­cher Bern­hard von Gué­bri­ant ab­ge­wen­det aus dem Fens­ter sah, be­gann die­ser, er kön­ne sich dem Ein­druck nicht ver­schlie­ßen, dass Bern­hard dem Kö­ni­ge we­ni­ger er­ge­ben sei als frü­her, und es wür­de ihn au­ßer­or­dent­lich schmer­zen, wenn Bern­hard die Ban­de zu lö­sen be­ab­sich­ti­ge, die ihn an Frank­reich knüpf­ten. Ob Bern­hard ver­ges­sen habe, wie viel Diens­te der Kö­nig ihm ge­leis­tet, wie viel Op­fer ihm ge­bracht hät­te?

Nein, sag­te Bern­hard, noch auch die­je­ni­gen, die er ge­bracht hät­te.

Ob er glau­be, fuhr Gué­bri­ant fort, ins­künf­tig der Hil­fe des Kö­nigs ent­ra­ten zu kön­nen?

Nein, er glau­be es nicht, sag­te Bern­hard ein­len­kend, und habe auch nicht im Sinn, sich von dem Kö­ni­ge zu tren­nen, hof­fe viel­mehr, dass die er­foch­te­nen Sie­ge die be­ste­hen­de Ver­bin­dung be­fes­ti­gen wür­den. Dem Kö­ni­ge sol­le sein Kampf um die Frei­graf­schaft zu­gu­te kom­men. Gäbe er die­se in die Hand des Kö­nigs, so rech­ne er dar­auf, dass der Kö­nig da­ge­gen ihm das El­saß, auf das er An­spruch hät­te, nicht an­tas­te­te.

Der Kö­nig den­ke nicht dar­an, Bern­hards Rech­te ver­kür­zen zu wol­len, sag­te Gué­bri­ant, und nach dem Ver­tra­ge sei sein Recht auf die Ein­künf­te aus dem El­saß un­zwei­fel­haft. An­ders ver­hal­te es sich, wie er be­rich­tet sei, mit den Ho­heits­rech­ten und mit der Fes­tung Brei­sach, die nicht im El­saß be­grif­fen sei.

Wäre das Recht des Ver­tra­ges zwei­fel­haft, warf Bern­hard rasch ein, so hät­te er doch das Recht der Erobe­rung. Was er mit sei­nem Heer er­ober­te, wol­le er mit sei­nem Heer fest­hal­ten.

Gué­bri­ants hüb­sches, fein­ge­form­tes Ge­sicht er­rö­te­te. »Das Heer ist des­sen, der es be­zahlt«, sag­te er in höf­li­chem Tone.

Bern­hard fuhr zor­nig in die Höhe. Nicht auf das Heer kom­me es an, son­dern auf des Hee­res Herrn, und der sei frei, ein Fürst des Reichs, der von nie­man­dem, nicht ein­mal vom Kai­ser, Be­feh­le an­näh­me.

Ein Aus­druck ab­leh­nen­der Miss­bil­li­gung glitt über Gué­bri­ants Ge­sicht, aber sei­ne Hal­tung und Rede blie­ben un­ver­än­dert ver­bind­lich. Nie­mand er­ken­ne freu­di­ger an, was für ein Held Bern­hard sei, als der Kö­nig, sag­te er. Der Kö­nig be­kla­ge es leb­haft, dass Bern­hard nicht nach Pa­ris ge­kom­men sei, denn er hät­te ihm sei­ne Freund­schaft zu be­wei­sen ge­wünscht. Dem Kö­nig lie­ge es am Her­zen, Bern­hards Wohl zu be­för­dern. Er kön­ne nicht be­grei­fen, warum Bern­hard, der Erbe der al­ten säch­si­schen Kur­fürs­ten, sich mit Lor­beer­krän­zen be­gnü­gen woll­te, da er doch das äl­tes­te, das hei­ligs­te Dia­dem der Chris­ten­heit auf sein Haupt set­zen könn­te.

Bern­hard leg­te sein blas­ses Ge­sicht in die Hän­de. »Sie ver­ges­sen«, sag­te er, »dass ich evan­ge­lisch bin.«

Ach nein, sag­te Gué­bri­ant, er müs­se oft dar­an den­ken. Der Kö­nig habe mit Schmerz er­fah­ren, wie hart Bern­hard ge­gen die Ka­tho­li­ken in Brei­sach ver­fah­ren sei. Vie­le Bür­ger, die schuld­los ih­rer Äm­ter ent­setzt wä­ren, hät­ten sich mit bit­te­rer Kla­ge an den Kö­nig als an ih­ren na­tür­li­chen Be­schüt­zer ge­wen­det. Schon um der Re­li­gi­on wil­len, zu de­ren Schutz der Kö­nig nach ur­al­tem Her­kom­men ver­pflich­tet sei, müs­se er eine Ob­hut über Brei­sach und das El­saß be­an­spru­chen. Wäre der Dank zu groß da­für, dass der Kö­nig Bern­hard den Weg zur er­ha­bens­ten Höhe im Reich zu eb­nen ge­neigt sei?

Das wäre ein trau­ri­ger Kai­ser, sag­te Bern­hard bit­ter, der da­mit an­fin­ge, das Reich zu ver­han­deln.

Es sei nie­mals un­ziem­lich, ent­geg­ne­te Gué­bri­ant, Ver­trä­ge ein­zu­hal­ten und Freund­schaft mit Freund­schaft zu er­wi­dern.

In Bern­hards Ge­sicht zuck­te es, und sei­ne Fin­ger spiel­ten krampf­haft mit sei­ner Fe­der. »Es gibt kei­nen Ver­trag und kei­ne Freund­schaft«, stieß er her­vor, »in de­ren Na­men ein Fürst sei­ne Ehre op­fern müss­te.«

Gué­bri­ant trat einen Schritt zu­rück, und sei­ne Na­sen­flü­gel wei­te­ten sich in ver­hal­te­nem Be­frem­den, das an Ver­ach­tung streif­te. Auf sei­ner Zun­ge lag die Fra­ge, ob denn das fürst­li­che Ehre sei, Geld an­zu­neh­men und die be­dun­ge­ne Ware nicht zu lie­fern? Al­lein er schwieg, in­dem er er­wog, dass er sei­nem Kö­ni­ge einen schlech­ten Dienst leis­ten wür­de, wenn er ihm Bern­hard ganz ent­frem­de­te, und dass er des­halb jetzt nicht wei­ter in ihn drin­gen dür­fe. Nach sei­nem Da­für­hal­ten war es nicht aus­ge­schlos­sen, dass Bern­hard, lie­ber als dass er das El­saß an Frank­reich aus­lie­fer­te, sich den Schwe­den in die Arme wür­fe oder gar mit dem Kai­ser aus­söhn­te. Es ent­ging ihm nicht, wie vie­le Ver­bin­dun­gen Bern­hard heim­lich un­ter­hielt: er stand mit der Land­grä­fin von Hes­sen, mit de­ren Ge­ne­ral Me­lan­der, mit der pfäl­zi­schen Fa­mi­lie, mit Ar­nim in Brief­wech­sel und plan­te mit ih­nen neue Kom­bi­na­tio­nen. Ja, es war zu mer­ken, dass er nicht mehr der ge­schla­ge­ne, flüch­ti­ge, arme Sol­da­ten­füh­rer, son­dern dass er mit fran­zö­si­schem Gel­de ein glück­li­cher Ero­be­rer ge­wor­den war. Auch Gu­stav Adolf hat­te ein­mal ei­nem fran­zö­si­schen Ge­sand­ten plump ins Ge­sicht ge­sagt, er sol­le sei­nen Herrn dar­an er­in­nern, dass er Kö­nig und dass er sieg­reich sei; und die da­mals ge­mach­ten Er­fah­run­gen wie­der­hol­ten sich nun mit dem Her­zog von Wei­mar: das fran­zö­si­sche Gold lock­te die Bar­ba­ren und mach­te sie ge­schmei­dig, so­lan­ge sie sei­ner be­durf­ten; wa­ren sie da­durch mäch­tig ge­wor­den, so kehr­ten sie sich zäh­ne­flet­schend ge­gen den läs­ti­gen Gläu­bi­ger.

Den­noch konn­te Gué­bri­ant dem Her­zo­ge nicht zür­nen. Wie zwei hei­mat­los ir­ren­de Geis­ter, die un­end­li­chen Gram emp­fin­den und ein­flö­ßen, hat­ten ihn die aus sei­nem kran­ken Ge­sicht her­aus­bren­nen­den Au­gen an­ge­se­hen. Der Un­glück­li­che hat­te sich ver­strickt, und die Ban­de würg­ten ihn, je mehr er dar­an zerr­te. Wie konn­te er ihn da­hin brin­gen, ein­zu­se­hen, dass ihn nicht nur die wah­re Pf­licht, son­dern auch der wah­re Vor­teil mit Frank­reich ein­ten? Wa­rum zö­ger­te er, sich dem Kö­ni­ge ganz hin­zu­ge­ben, dem mäch­tigs­ten und er­lauch­tes­ten Mon­ar­chen der Erde? Wa­rum be­griff er nicht, dass es rühm­li­cher für ihn wäre, die­ses Mon­ar­chen Die­ner zu sein als der un­ge­bun­dens­te Fürst die­ses wüs­ten, ver­sof­fe­nen, ver­schlemm­ten Rei­ches?