Die Landgräfin Amalie Elisabeth sah in den Spiegel, während ihr die Kammerfrau die Frisur herrichtete, und bemerkte, wie sie nun fast über Nacht ein weißhaariges altes Weib geworden. Vor drei Jahren, als ihr Mann gestorben sei, wäre sie noch ganz braun gewesen.
Weiße Haare wären die schönste Witwentracht, sagte die Kammerfrau.
»Die Zeit kriecht wie eine Schildkröte, wenn man jung und leichtfüßig ist«, sagte die Landgräfin, »und wird man alt und hinkt und humpelt, so läuft sie davon wie ein Hase.«
»Das ist das beste an der Zeit«, erwiderte die Kammerfrau, »dass sie uns immer schneller zu Gott trägt.«
Die Landgräfin lachte ein wenig ungehalten. »Ich dächte«, sagte sie, »wir beide hätten noch manches Geschäft auf Erden zu besorgen.«
Wenn die Landgräfin wüsste, was für gräuliche Zeichen vorgefallen wären, sagte die Kammerfrau, würde sie nicht lachen. Es könne ja doch nicht verschwiegen bleiben, so wolle sie es nur gleich erzählen, dass ihr Mann, der Küster, am Abend spät, da er noch in der Schlosskirche gesäubert hätte, es laut in der Gruft habe klopfen hören, wie wenn jemand heraus wollte. Als er sich am anderen Morgen mit einer Laterne hinuntergetraut hätte, da sei im Sarge des hochseligen Landgrafen August, des hochseligen Moritz’ Vater, ein klaffender Riss gewesen.
»Nun also denn!« rief die Landgräfin ärgerlich. Sie sähe nichts Gräuliches darin, dass altes Holz risse!
Die Kammerfrau schüttelte missbilligend den Kopf. Das sei noch gar nicht alles, fuhr sie fort. Heute früh sei die Bauersfrau aus Lohne hereingekommen, die den Honig für die Frau Landgräfin zu bringen pflegte, und sei so voll Angst und Bangen gewesen, dass sie kaum hätte sprechen können. Wie sie am letzten Samstag bei einbrechender Nacht mit anderen Frauen an den Brunnen gegangen sei, um Wasser zu holen und für den Sonntag zu scheuern, da sei vor aller Augen eine verhüllte Gestalt aus dem Brunnen gestiegen, habe die Hände über dem Haupte gerungen und sei dann ohne Laut wieder versunken. Vor Schrecken hätten sie sich kaum nach Hause getraut, weil sie gemeint hätten, der Feind stehe schon vor der Tür.
»So weit ist es noch nicht«, sagte Amalie Elisabeth. »Ich bin auch noch da!«
Ja, das habe die arme Bäuerin auch gesagt, fiel die Kammerfrau ein, wenn sie nur gewiss wüsste, dass die Frau Landgräfin da wäre, so würde sie sich eher trösten können. Aber draußen auf den Dörfern gehe die Rede, die Herrschaft sei wieder aus dem Lande geflohen wie vor vier Jahren, und nun werde der Feind kommen und alles niederbrennen und ausrauben wie dazumal.
Die gute Frau solle hereinkommen und sich überzeugen, dass sie da sei, befahl die Landgräfin; aber von klopfenden Särgen und Brunnengespenstern wolle sie nichts mehr hören; sie wären hier nicht abergläubische Heiden, sondern vernünftige Christen.
Nachdem die Bäuerin entlassen war, empfing die Landgräfin ihren Rat von Schollei, den sie aus Rücksicht auf die Ritterschaft duldete, aber ungern anhörte. Er habe es auch schon gehört, was sich mit dem Sarge des hochseligen Landgrafen August begeben habe, sagte er mit sorgenvoller Miene. Die Zeit sei freilich danach, dass die Toten aus der Erde steigen möchten.
»Besser, als dass die Lebendigen in die Erde kriechen«, erwiderte die Landgräfin. »Der Tod ist unser aller Erbteil und fällt uns früher oder später gewiss zu; ich hoffe, wir tun alle unsere Pflicht, ohne uns schrecken zu lassen.«
Ja, die Pflicht, sagte Schollei, die möchte er schon tun. Aber welches sei die Pflicht? Darüber zu wachen, dass das arme Hessenvolk nicht in Grund und Boden ruiniert würde. Nun sei das Unglück da, das er geweissagt hätte, als die Landgräfin sich von den schelmischen Franzosen wieder in den Krieg hätte hineinziehen lassen. Es könne und könne kein gutes Ende nehmen, und die Frau Landgräfin solle ihm nur das eine zugeben, dass er es vorausgesagt hätte. Nun könne nicht einmal Westfalen mehr gehalten werden; sonst sei niemand zum Löschen da, wenn ganz Hessen in Flammen stände.
Der Herzog von Lüneburg würde sie nicht verlassen, sagte die Landgräfin.
Der! rief von Schollei. Der merkte auch schon, dass der Boden heiß würde, und träte den Krebsgang an. Das Unglück sei da, man brauche kein anderes Zeichen mehr, wenn schon der hochselige Kurfürst August selbst aus dem Sarge stiege, um es anzuzeigen.
»Das Winseln und Wehklagen mag ich nicht einmal an einem Weibe leiden«, sagte Amalie Elisabeth. »Je größer das Unglück, desto schneller muss man die Hände rühren, nicht das Maul.« Es müsse augenblicklich ein Eilbote an Melander und Banér abgehen, Melander müsse jetzt alles andere hintansetzen, um die hessische Grenze zu schirmen.
Der Bote war noch nicht abgefertigt, als die Ankunft Melanders in Kassel gemeldet wurde. Er lasse fragen, so hieß es, ob er der Frau Landgräfin in dringenden Geschäften seine Aufwartung machen dürfte?
Der Landgräfin schoss das Blut ins Gesicht, und sie musste sich anstrengen, um den Ärger und Schreck, der sie durchfuhr, zu verbergen. Ohne Erlaubnis hatte der eigenwillige Mann seinen Posten verlassen! Hätte er sich dessen erdreistet, wenn ihr Mann noch lebte? Laut sagte sie, das treffe sich gut, so könne sie mündlich mit ihrem General Rücksprache nehmen. Dann schickte sie Schollei fort und ließ ihren alten Rat Sixtinus rufen, mit dem sie in besserem Einvernehmen war als mit jenem.
Sie empfing Melander, den seine Gemahlin begleitete, mit ausgesuchter Freundlichkeit und sagte scheinbar unbefangen, es müsse etwas Außerordentliches sein, das ihn veranlasse, in dieser bösen Zeit in die Stadt zu kommen. Oder ob er ihr seine Gemahlin habe bringen wollen, damit sein lieber Schatz in sicherer Obhut sei?
Melanders Gemahlin, eine geborene Freifrau von Effern, die viel gestikulierte, um die Perlen und Edelsteine in Bewegung zu setzen, mit denen sie an Kopf, Hals, Brust, Armen und Händen beladen war, ergriff rasch das Wort und sagte, das Lager sei jetzt allerdings kein Aufenthalt mehr für eine Dame. Der Tisch könne nicht einmal ordentlich beschickt werden, so mangle es an allem. Davon wolle sie jedoch gar nicht reden. Aber Banér! Nein, sie wolle lieber mit einem Kuhmelker verkehren! Und wenn der schwedische Adel schon so sei, was könne man dann von den gemeinen Leuten erwarten? Sie liebe gewiss das Einfache, ihr Mann habe ja auch eine raue Art und sie eben dadurch gewonnen; die Landgräfin könne also schließen, wie arg es sein müsste, wenn sie die Nase rümpfte.
Melander warf einen ungeduldigen Blick auf seine Frau und unterbrach sie mit den Worten, er sei gekommen, weil jetzt ein Entschluss gefasst werden müsse. Sie wären am Rande des Abgrundes. Er könne nicht leiden, dass die Geschicke eines Landes, für das er so lange gekämpft hätte, an einen Tollkopf wie Banér geknüpft würden. Der habe nur noch seine neue Liebschaft im Sinne, gehe nicht dem Feinde, sondern der Braut nach. Anstatt die Länder der Verbündeten zu schützen, verlange er immer mehr Verstärkungen und habe sich unterstanden, ihn wie einen Stallknecht herunterzuschimpfen, weil er seine Truppen auf Eschwege gezogen hätte, was zur Rettung Hessens notwendig gewesen sei.
Übergriffe dürfe Banér sich nicht gestatten, sagte die Landgräfin, darüber wolle sie ihn zur Rede stellen.
Ebenso gut könne sie einen wütenden Stier zur Rede stellen, sagte Melander. Er habe es satt. Vielleicht werde er noch einmal gegen die Schweden kämpfen, aber mit ihnen nimmermehr!
Das sei ein rasches Wort, sagte die Landgräfin gemessen, und Melander wohl nur im Zorn entfahren. Banér sei ja nicht Schweden und Schweden nicht die evangelische Kirche und deutsche Libertät. Er könne sie doch nicht jetzt in der Not verlassen, nachdem er ihrem verstorbenen Gemahl so lange ein treuer Diener und Mitkämpfer gewesen wäre.
Er habe schon damals manches wider seinen Willen aus Liebe und Verehrung für den Verstorbenen getan, sagte Melander.
Nun, so werde er auch nicht vergessen haben, fiel Amalie Elisabeth ein, dass ihr Gatte ihm im Sterben seine Kinder wie einem Freunde und Vater empfohlen habe. Er hielte sein Wort schlecht, wenn er sie jetzt verließe.
Wenn die Landgräfin, sagte Melander scharf, ihn als einen Treubrüchigen hinstellen wolle, so weise er das zurück. Auch von seiner Fürstin könne er sich das nicht sagen lassen. Er habe ihr nach Kräften gedient, indem er ihr zum Frieden mit dem Kaiser geraten habe. Er sei von Anfang an gegen das Bündnis mit Schweden und Frankreich gewesen; denn die Deutschen gingen nicht zusammen mit den Schweden, und mit den Franzosen auch nicht. Jetzt liege es vor jedermanns Augen offen, wohin das Bündnis geführt hätte: Hessenland werde von Feind und Freund zugleich überschwemmt und aufgezehrt. Es gehe wider sein Gewissen, sich dazu gebrauchen zu lassen.
Was auf ihr Gewissen gehe, das könne seines sich auch gefallen lassen, sagte die Landgräfin streng.
Ja, solange er ihr General sei, fuhr Melander auf; aber von dieser Stunde an sei er es nicht mehr. Er habe sich’s geschworen, nicht länger gemeine Sache mit landfremden Räubern zu machen.
Die geborene von Effern legte eine ihrer klirrenden Hände auf Melanders Mund, die andere auf den Arm der Landgräfin und beschwor beide mit hoher Stimme, sich zu beruhigen. Sie liebe und bewundere die raue Art ihres Mannes, sagte sie; aber trotz dieser närrischen Vorliebe sehe sie doch ein, dass sie nicht immer, namentlich der Gemahlin und der fürstlichen Herrin gegenüber, am Platze sei. Er habe ja recht, tausendmal recht im Kerne der Sache; aber General oder nicht, er bleibe doch stets Kavalier oder sollte es bleiben. – Wie nun gleichzeitig auch Melander, seine Frau und Sixtinus ihrer Meinung Gehör zu verschaffen suchten, raffte sich die Landgräfin auf und gebot Stille. Wenn Melander seinen Abschied verlange, sagte sie, so solle er ihn haben. Er möge es redlich meinen, sie tue es auch. Sie kämpfe um einen guten, gerechten Frieden; davon lasse sie sich auch von ihrem wertesten Diener nicht abbringen.
Als das Melandersche Ehepaar sich entfernt hatte, lehnte sich die Landgräfin, ohne auf Sixtinus’ Anwesenheit Rücksicht zu nehmen, in ihren Sessel zurück und weinte.
Es sei doch ein rechtes Glück, begann Sixtinus nach einer Weile in großer Verlegenheit und voll Mitleiden, dass sie den Melander los sei. Nun könne der Krieg mit ganz anderem Nachdruck geführt werden. Melander habe kein hessisches Herz, sei im Grunde immer kaiserlich gewesen. Vielleicht sei es auch an dem, was man sich zuflüstere, dass er insgeheim papistisch geworden sei.
Da die Landgräfin schwieg und die Tränen fließen ließ, als hätte sie Lust, sich selbst darin aufzulösen, sagte Sixtinus, es gehe ihm ganz unerträglich zu Herzen, eine solche Fürstin und Heldin, die ganz Europa bewundere, weinen zu sehen.
Amalie Elisabeth sah mit ihren geröteten Augen an ihm vorüber und sagte: »Eine Fürstin soll die Mutter ihres Volkes sein; meine Kinder schreien nach Brot, und ich reiße ihnen den letzten Bissen vom Munde.«
»Ultra posse nemo obligatur«, sagte Sixtinus. Kein Mensch sei über Vermögen verbunden, und das gelte auch für die Fürsten. Das gemeine Volk verlange vornehmlich das Brot, welches den Bauch fülle, es sei aber von Fürsten auch dasjenige, mit dem der Geist sich ernähre, in Betracht zu ziehen. Die Nachkommen würden es ihr einmal danken, dass sie das lautere Wort Gottes gerettet und mit mancherlei gegenwärtigem Unglück erkauft hätte.
»Ja, unglücklich bin ich gewiss gewesen«, sagte die Landgräfin.
Sixtinus horchte ein wenig betroffen. Das könne eine so hochgepriesene und auch siegreiche Fürstin doch nicht ernstlich meinen, sagte er.
»Es wird der seligste Augenblick in meinem Leben sein«, sagte Amalie Elisabeth, »wenn ich mich in meinem Sarge ausstrecken und ruhen kann, weil die Arbeit getan ist!«
Zunächst wurde beschlossen, im engen Einverständnis mit Herzog Georg von Lüneburg zu bleiben, damit man auf einen Bundesgenossen sicher zählen könne. Die Schweden betreffend, wünschte die Landgräfin eine gewisse Unabhängigkeit von ihnen zu gewinnen, umso mehr, als auch Herzog Georg sich hatte verlauten lassen, er wolle sich der Tyrannei Banérs nicht länger unterwerfen. Indessen war die Nähe der Kaiserlichen so drohend, dass beide Verbündete der Schweden doch nicht ganz entraten zu können glaubten und nach allerlei Misshelligkeiten und gegenseitigen Bedrohungen wieder einlenkten. Herzog Georg öffnete dem Feldmarschall den verlangten Pass in sein Land, wo das schwedische Heer bis auf weiteres die Winterquartiere genießen sollte, freilich ungern und lauernd, wie er den unwillkommenen Besuch wieder loswerden könnte.