66.

Die Son­ne schi­en hell in das klei­ne Zim­mer in Hei­li­gen­stadt, wo Graf Gué­bri­ant über­nach­tet hat­te, und weck­te ihn, der sich mit ei­nem Seuf­zer auf die Ob­lie­gen­hei­ten des Ta­ges be­sann. Am liebs­ten hät­te er ge­läu­tet und die Fens­ter ver­hän­gen las­sen, da­mit er weiter­schla­fen könn­te; aber er un­ter­drück­te die­se Re­gung und schloss nur die Au­gen, um sich zu sam­meln, ehe er auf­stän­de. Der Prinz von Lon­gue­ville, im Grun­de ge­sün­der als er, lag zu die­ser Zeit in Kas­sel bei gu­ter Pfle­ge, sorg­fäl­tig er­nährt, frei von al­len Wi­der­wär­tig­kei­ten, in­des er, Gué­bri­ant, das Knäu­el der von je­nem be­gan­ge­nen Feh­ler ent­wirr­te. Als Banér mit sei­nem ers­ten Vor­schla­ge an sie her­an­ge­tre­ten war, hat­te Gué­bri­ant vor den Fol­gen ge­warnt, die es für sie ha­ben muss­te, wenn sie sich zu weit in Deutsch­land hin­ein­zie­hen lie­ßen: sie wür­den mit­ten in ei­nem un­be­kann­ten, feind­lich ge­sinn­ten, rau­en Lan­de, ab­ge­schnit­ten von hei­mi­scher Hil­fe sein; wenn der un­bän­di­ge Banér sie für sei­ne Zwe­cke aus­nüt­zen woll­te, wenn die trot­zi­gen Di­rek­to­ren des wei­mar­schen Hee­res an­ma­ßend und un­bot­mä­ßig wä­ren, im Fall ei­ner Nie­der­la­ge oder ei­nes Ver­lus­tes wür­den sie ret­tungs­los preis­ge­ge­ben sein. Dies al­les hat­te Lon­gue­ville ein­ge­se­hen; als aber die Land­grä­fin von Hes­sen-Kas­sel eine Wei­le auf ihn ein­ge­re­det hat­te, ver­flo­gen die ver­nünf­ti­gen Be­den­ken, und die ge­wag­te, für Frank­reich nutz­lo­se Ver­bin­dung mit Schwe­den wur­de voll­zo­gen. Was hat­te Gué­bri­ant seit­dem aus­ge­stan­den: stets hat­te er ver­mit­teln, ein­len­ken, vor­beu­gen, wie­der gut­ma­chen müs­sen. Lon­gue­ville hat­te die wei­mar­schen Di­rek­to­ren zu ei­ner Zeit ge­reizt, wo man die Mit­tel nicht hat­te, sie mit Ge­walt zum Ge­hor­sam zu brin­gen, und als die Ver­wi­cke­lung ge­fähr­lich zu wer­den droh­te, hat­te er sich ihr ent­zo­gen und ihm, Gué­bri­ant, die Lö­sung über­tra­gen. Den­noch wür­de der Ruhm je­der ge­leis­te­ten Tat Lon­gue­ville als dem Hee­res­obers­ten zu­ge­schrie­ben wer­den, nur der Vor­wurf des Nich­ter­reich­ten ihn tref­fen. Wa­rum un­ter­zog er sich denn die­sen Quä­le­rei­en? Wa­rum ver­wi­ckel­te er sich im­mer tiefer in die An­ge­le­gen­hei­ten die­ses Krie­ges, von dem er ahn­te, dass er ihm ir­gend­wie zum Ver­häng­nis wer­den wür­de? Er er­in­ner­te sich des Ta­ges, als er zu­erst die un­lie­bens­wür­di­gen Lau­te der deut­schen Spra­che ver­nom­men, die­sen ru­he­lo­sen Him­mel, die za­cki­gen Städ­te und Wäl­der, die trau­ri­gen Hei­den ge­se­hen hat­te: ein Schau­er hat­te ihn über­lau­fen, wie wenn der Tod an ihm vor­über­ge­gan­gen wäre.

Wa­rum war er doch hier, da doch sein Le­ben und sei­nes Le­bens Gü­ter alle in Frank­reich wa­ren?

In­dem er sich die­se Fra­ge vor­leg­te und sich die Ant­wort gab, fühl­te er, wie ei­tel sol­che Be­trach­tun­gen wa­ren: er diente dem Kö­nig und muss­te ge­hor­chen, und als ei­nem Edel­man­ne ziem­te ihm, es wil­lig und mit äu­ßers­ter Kraft zu tun. Wenn er sich nie be­klagt ha­ben wür­de, dass er in ei­ner Schlacht töd­li­chen Waf­fen ent­ge­gen­rei­ten muss­te, wie tö­richt und un­zu­sam­men­hän­gend war es, über an­de­re Auf­ga­ben zu mur­ren, die er nun eben pein­lich fand? Wie auch die Pf­licht be­schaf­fen war, sie muss­te ohne Zau­dern und Zwei­fel so voll­kom­men wie mög­lich er­füllt wer­den.

Er stand rasch auf, nahm ein klei­nes Früh­stück ein, wo­bei er sich über­leg­te, mit was für Grün­den er den Di­rek­to­ren und Of­fi­zie­ren des Hee­res ent­ge­gen­tre­ten woll­te, und ritt zur fest­ge­setz­ten Vor­mit­tags­stun­de auf das Rat­haus, wo er sie ver­sam­melt wuss­te. Es war ein mä­ßig großer Fach­werk­bau mit spit­zen Er­kern und Gie­beln und klei­nen, blei­ge­fass­ten Fens­tern, die ihn wie lau­ter spöt­ti­sche Frat­zen an­zuglot­zen und die Zun­ge ge­gen ihn aus­zu­stre­cken schie­nen. Als er den Saal be­trat, in des­sen Mit­te etwa hun­dert Of­fi­zie­re auf ei­nem Hau­fen stan­den, den De­gen an der Sei­te, ei­ner Meu­te von Blut­hun­den ähn­lich, die beim An­blick des zu pa­cken­den Geg­ners ein lei­ses, lang­ge­dehn­tes, lech­zen­des Knur­ren hö­ren las­sen, emp­fand er ein läh­men­des Un­be­ha­gen; al­lein er über­wand es, ging ge­las­sen auf sie zu und bot den Di­rek­to­ren höf­lich die Hand, die sie nicht aus­zu­schla­gen wag­ten.

Er freue sich, sag­te er, die Her­ren so zahl­reich ver­sam­melt zu fin­den, und be­trach­te das als ein Zei­chen, dass sie, wie er, die be­dau­er­li­cher­wei­se ent­stan­de­nen Miss­hel­lig­kei­ten be­ho­ben zu se­hen wünsch­ten. Zu­nächst sprach er von dem Gerücht, als hät­ten die Di­rek­to­ren mit dem Her­zog von Lü­ne­burg an­ge­knüpft, um in des­sen Dienst zu tre­ten. Er habe den Her­zog Ge­org dar­über be­fragt und von ihm die Ant­wort er­hal­ten, dass er kei­nes­wegs die Ab­sicht habe, Frank­reich sei­ne ihm eid­lich ver­pflich­te­ten Sol­da­ten ab­trün­nig zu ma­chen, dass er viel­mehr sei­ne Diens­te zur Ver­mit­te­lung an­bie­te. Er, Gué­bri­ant, sei über­zeugt, dass auch sie be­schwo­re­ne Ver­trä­ge hal­ten und den Kö­nig nicht zwin­gen woll­ten, sie als fah­nen­flüch­tig an­zu­se­hen.

Der Graf von Nassau stemm­te den Arm in die Sei­te und sag­te, Gué­bri­ant sol­le nicht ver­ges­sen, dass er, als frei­er deut­scher Reichs­fürst, Bünd­nis­se nach Be­lie­ben schlie­ßen kön­ne.

Im Deut­schen Reich möge er Reichs­fürst sein, ent­geg­ne­te Gué­bri­ant; in Be­zie­hung zum Kö­nig von Frank­reich sei er des­sen Obers­ter und gel­te für ihn kein an­de­res Ge­setz als für an­de­re be­stall­te Of­fi­zie­re.

Er war­te­te einen Au­gen­blick, und da kei­ne Ant­wort er­folg­te, ging er zu dem Ver­tra­ge über, den die Di­rek­to­ren in Brei­sach frei­wil­lig un­ter­schrie­ben und durch den sie sich ver­pflich­tet hät­ten, dem Kö­ni­ge von Frank­reich über­all­hin zu fol­gen und sich ge­gen je­den Feind ge­brau­chen zu las­sen.

Ro­sen er­griff das Wort und sag­te, sie be­strit­ten das nicht; aber sie hät­ten den Ver­trag in der Mei­nung ab­ge­schlos­sen, dass der Krieg, wie es auch im Ver­tra­ge hei­ße, zur Wie­der­her­stel­lung deut­scher Frei­heit ge­führt wer­de. Sie wä­ren nicht ehr­lo­se Söld­ner, die sich gleich­gül­tig hier­hin und dort­hin schlep­pen und ab­schlach­ten lie­ßen, sie wä­ren deut­schen Stam­mes, woll­ten für ihr Va­ter­land und nicht für ei­gen­nüt­zi­ge Frem­de kämp­fen.

Nun er­wi­der­te Gué­bri­ant in län­ge­rer Rede: Sie hät­ten recht, für ihr Va­ter­land den Frie­den er­kämp­fen zu wol­len, was im Ver­tra­ge als Zweck des Krie­ges ge­nannt wäre. Eben zu die­sem Zwe­cke, durch­aus nicht um des ei­ge­nen Nut­zens wil­len, wäre der Kö­nig von Frank­reich in den Krieg ein­ge­tre­ten. Was für Vor­teil er da­von hät­te? Was das fran­zö­si­sche Volk be­we­gen könn­te, sein Blut im frem­den Lan­de zu ver­gie­ßen, als reins­tes Wohl­wol­len für die un­ter­drück­ten deut­schen Nach­barn? Nur um sie vor Ty­ran­nen zu schüt­zen, ih­nen ihre ur­al­te Frei­heit wie­der­zu­ge­ben, habe er seit Jah­ren un­ge­heu­re Sum­men ge­spen­det. Er er­in­ner­te an Her­zog Bern­hard, den sie alle als Vor­bild der Tap­fer­keit und des Edel­sinns im Her­zen trü­gen, wie oft er be­teu­ert hät­te, dass er sich nie von Frank­reichs Fah­nen tren­nen wol­le; denn er wis­se, dass auf fran­zö­si­schen Sie­gen die Frei­heit und der Frie­den Deutsch­lands be­ru­he. Zum Schlus­se ver­las er den Ver­trag von Brei­sach, um die ge­gen­sei­ti­gen Ver­pflich­tun­gen fest­zu­stel­len.

Die Fol­ge hier­von war, dass die Er­re­gung der Of­fi­zie­re, die zur An­nah­me des Ver­tra­ges durch die Di­rek­to­ren über­re­det wor­den wa­ren, sich plötz­lich ge­gen die­se wand­te. Sie, die Di­rek­to­ren, hät­ten, durch große Sum­men be­sto­chen, das Heer in ein Ver­hält­nis hin­ein­ge­zo­gen, aus wel­chem nur sie Vor­teil zö­gen, für die All­ge­mein­heit nur Schmach und Un­ter­gang her­vor­gin­ge. Als das Ge­tüm­mel der Strei­ten­den be­droh­lich wur­de, trat Gué­bri­ant zwi­schen sie und bat sie, die Schwie­rig­kei­ten der Lage nicht durch Un­ei­nig­keit zu ver­meh­ren. Sie wä­ren alle Män­ner von Ehre, hät­ten alle das­sel­be Ziel, Deutsch­lands Heil; warum sie sich ent­zwei­en soll­ten? Ih­rer al­ler per­sön­li­ches Wohl lie­ge dem Kö­nig am Her­zen. Das Geld zur Aus­zah­lung des Sol­des sei an­ge­langt. Was die Of­fi­zie­re vor­ge­streckt hät­ten, Ver­lus­te, die die Kriegs­läuf­te mit sich ge­bracht hät­ten, al­les wer­de der Kö­nig er­set­zen; er, Gué­bri­ant, sei er­mäch­tigt, es in Ord­nung zu brin­gen.

Als die Un­ter­re­dung be­en­det war, at­me­te Gué­bri­ant auf, ohne doch ganz be­frie­digt zu sein. Für den Au­gen­blick schi­en er den Sieg für Frank­reich ge­won­nen zu ha­ben; aber wie lan­ge wür­de das dau­ern? Er kam sich vor wie ei­ner, der in einen Kä­fig voll wil­der Tie­re ge­ra­ten ist: eine Zeit lang kann er sie von sich ab­hal­ten, in­dem er ih­nen et­was hin­wirft, was sie be­na­gen, aber der Au­gen­blick ist vor­aus­zu­se­hen, wo sie sich zäh­ne­flet­schend auf ihn wer­fen wer­den; denn mit dem blo­ßen Blick, sag­te er sich, wür­de er sie auf die Dau­er nicht bän­di­gen kön­nen. Im Grun­de, er fühl­te es deut­lich, hass­ten sie ihn als einen Frem­den, der sich in ihre An­ge­le­gen­hei­ten ge­mischt hat­te, um sie ir­gend­wie zu über­vor­tei­len. Er sie über­vor­tei­len! Er lä­chel­te me­lan­cho­lisch. Wenn nicht sein Le­ben, so ließ er doch si­cher­lich sein Glück, sei­ne Kraft und auch wohl sei­ne Ehre in den deut­schen Sümp­fen. Frank­reich, ja Frank­reich, das wür­de und müss­te end­lich über die­se Wil­den tri­um­phie­ren und ih­nen, wie un­ver­stän­dig sie sich auch sperr­ten, den Se­gen sei­ner Kul­tur auf­zwin­gen; aber er, der arme Gué­bri­ant, wür­de da­bei zu­grun­de ge­hen. Möch­te nur sein Name aus sei­ner Asche stei­gen, ein ge­rei­nig­tes Feu­er, das eine Wei­le we­nigs­tens noch leb­te und leuch­te­te!