In einem Waldtal im oberen Elsaß suchte ein zwölfjähriges Mädchen Schwämme, Beeren und Reisig; aber sie musste weiter gehen als gewöhnlich, denn in der Nähe des Dorfes gab es nichts mehr. Ohnehin hatte sie es auf eine andere Beute abgesehen als Holz und Beeren, eine, die nur in der Schlucht gewonnen werden konnte, wohin sie sich allein noch nie getraut hatte. Die alte Frau, bei der sie wohnte, da ihre Eltern gestorben oder doch verschwunden waren, hatte ihr erzählt, wie vor Jahren alle Bewohner des Dorfes, damals drei- oder viermal so viel wie jetzt, bei Annäherung der Soldaten in den Wald geflohen waren. Es war ein heißer Tag gewesen, und mit den Flüchtenden zog ein schweres Gewitter; aber in der Angst und Trauer beachtete es niemand. Auch des Mädchens Mutter war mit dabeigewesen, das etwa zweijährige Kind auf den Armen, und der Pfarrer, der ein Kruzifix und den goldenen Abendmahlskelch unter seinem schwarzen Mantel trug. In der Schlucht hatte der Pfarrer zu seinem neben ihm gehenden Enkel gesagt, an diesem verborgenen Ort wolle er die Heiligtümer eingraben, die Erde könne sie zu dieser Zeit, wo keiner seines armen Lebens sicher sei, besser hüten als er. Mit Hilfe des Knaben grub er ein Loch, legte Kreuz und Kelch hinein, häufte Erde darüber und war im Begriff aufzustehen, als hinter ihm ein paar Soldaten auftauchten, ihn anpackten und fragten, was er da treibe. Wie er ihnen wehren wollte, die vermeintlichen Schätze auszugraben, stachen sie den guten alten Mann ins Herz, sodass er auf der Stelle tot umfiel, und würden es mit dem Knaben ebenso gemacht haben, wenn Gott sie nicht gehindert hätte. Es stürzte nämlich, wie wenn ein feuriges Schwert vom Himmel geschleudert würde, ein Blitz durch die sausenden Baumkronen und fällte den Mörder, worüber seine Kameraden sich so entsetzten, dass sie davonliefen. So habe der Enkel des Pfarrers den Vorgang erzählt.
Das kleine Mädchen konnte nicht begreifen, warum man den versenkten Schatz nicht wieder ausgegraben habe, und beruhigte sich nicht damit, dass man es mehrmals, aber vergeblich versucht habe. Während des langen Aufenthalts im Walde bis zum Beginn des Winters war eine Seuche ausgebrochen, an der neben vielen anderen auch der Enkel des ermordeten Pfarrers gestorben war; so konnte niemand die Stelle bezeichnen. Weder die Leiche des Pfarrers noch die des Soldaten waren bei der Rückkehr mehr in der Schlucht gewesen.
An diesem Tage war es dem Mädchen geglückt, einen alten zerbrochenen Spaten in einer Scheune aufzufinden, und mit dem Werkzeug ausgerüstet, wollte sie es versuchen, die Kostbarkeiten ans Licht zu bringen.
Als sie in die Schlucht kam, überlief sie ein Frösteln; es war dunkel und feucht und still wie in einer Höhle. Kein Vogel piepte, kein Blatt rührte sich an den Bäumen, und keins raschelte zu ihren Füßen, wo sie eine schlüpfrige Decke bildeten. Es roch nach Herbst und Verwesung; wie sie sich daran gewöhnt hatte, fühlte sie sich wunderlich wie in einen Traum davon verschlungen. Nach einer Weile weitete sich die Schlucht ein wenig und lud zu einem Aufenthalte ein; es schien ihr, dies könne die richtige Stelle sein. Sie setzte sich auf einen morschen, moosgrünen Baumstamm, den einmal ein Sturm entwurzelt haben mochte, und sah sich um: es war da mitten im Dickicht ein Fleck, wo kein Kraut oder Strauch wuchs; da, dachte sie, könnte der arme Pfarrer gegraben haben. Je länger sie nach der Stelle hinblickte, desto bestimmter glaubte sie daran; es war ihr fast, als sähe sie das Gold des Kelches, rötlich wie die Sonne, die pechschwarze Erde durchglühen. Nun musste sie sich entschließen, was sie tun wollte, wenn sie den Schatz gehoben hatte. Dass sie nicht ins Dorf zurück wollte, stand ihr fest; einen Pfarrer gab es nicht mehr, da sie behaupteten, in einer so armen Gemeinde nicht bestehen zu können, und die alte Frau, bei der sie wohnte, würde die Kostbarkeiten aus Furcht sogleich wieder vergraben haben. Also wollte sie fort, sich bis zur nächsten Stadt durchbetteln und ihren Schatz verkaufen; dann würde sie reich sein, sich satt essen, schöne Kleider anziehen, und diejenigen, die sie früher geschlagen und misshandelt hatten, würden sich vor ihr bücken und ihr schmeicheln. Sie würde die Frau irgendeines großen Herrn werden, dann konnte sie in die Welt hinaus und ihren Vater und ihre Mutter suchen, von denen sie nicht glaubte, dass sie tot wären. Ihr Vater war, als sie noch ganz klein war, unter die Soldaten gegangen, ihre Mutter hatte sich in der Not und Verzweiflung einmal aufgemacht, ihn zu suchen, und war nicht wiedergekommen. Noch erinnerte sie sich an die großen braunen Augen ihrer Mutter und an ihr Entsetzen, als sie sie zum ersten Male im Schlaf geschlossen gesehen hatte; denn sie hatte ein dunkles Gefühl, als hänge die Welt an diesen Augen und müsse mit ihnen zugrunde gehen. Sinnend sah sie an den glatten Buchenstämmen und an der Wand der Schlucht in die Höhe und bemerkte, dass oben an ihrem Rande ein gelbes Blatt von der Sonne beschienen war und funkelte wie ein Flämmchen, an dem man sich wärmen könnte.
Sie sprang auf und begann zu graben. Bei der Arbeit wuchs ihr die Kraft, sodass die Erde flog, und zugleich wurde ihre Hoffnung entschiedener, und sie glaubte jedes Mal, wenn der Spaten auf einen Stein oder eine Wurzel stieß, es wäre das Kreuz oder der Kelch. Allmählich erlahmte sie ein wenig, und indem sie sich aufrichtete und die Haare aus dem Gesicht strich, sah sie, dass das gelbe Blatt am Rande der Schlucht nicht mehr glänzte; die Sonne war weitergerückt, und es mochte schon auf den Abend zugehen. Mit der Enttäuschung wurde sie sich bewusst, dass es sie hungerte; aber noch wollte sie die Hoffnung nicht aufgeben, sondern weitergraben, obwohl es ihr nicht glaublich schien, dass das Versteck so tief sein sollte. Wie sie sich bückte, um die Arbeit wieder aufzunehmen, hörte sie einen behutsamen Schritt hinter sich auf den nassen Blättern. Sie hielt inne, und das Bild des armen Pfarrers stieg vor ihr auf, wie er, von seinen grauen Haaren umflattert, hastig die Erde über seinen Heiligtümern aufschüttete. War er es, der hier umging, um sie zu behüten? Oder war es der von Gottes Hand getroffene Mörder, den der Geruch des vergossenen Blutes aus dem Grabe an diese Stätte zog? Zitternd wandte sie sich um und erblickte hinter sich ein Tier, das ihr wie ein Hund vorkam und das die blutigen Augen starr und gierig auf sie richtete. Plötzlich fiel ihr ein, dass es der Wolf sein müsste, der in einer der letzten Nächte bis in das Dorf gekommen war; die alte Frau hatte gebetet, als sie sein heiseres Bellen gehört hatte, und selbst die Männer fürchteten sich vor ihm. Wie würden sie staunen, wenn Gott ihr beistand und sie, das Mädchen, den Feind erlegte! Da sah sie, wie die schwarzen, triefenden Lippen des Tieres sich schnuppernd bewegten und die starken weißen Zähne herausschienen; ihr Herz zog sich kläglich zusammen, sie dachte an die braunen Augen ihrer Mutter und wie verlassen sie war. Sie vermochte weder zu rufen noch aufzustehen; wie nun aber das Tier zusprang, fassten ihre kleinen Hände unwillkürlich den Spaten fester, und sie setzte sich zur Wehr. Sie kämpfte mit dem ganzen Körper und fühlte eine unerschöpfliche Kraft; da drängte sich der hässliche, borstige Kopf an ihre Kehle, und als sie mit beiden Händen nach ihm griff, um ihn wegzustoßen, verging ihr die Besinnung.