69.

In ei­nem Wald­tal im obe­ren El­saß such­te ein zwölf­jäh­ri­ges Mäd­chen Schwäm­me, Bee­ren und Rei­sig; aber sie muss­te wei­ter ge­hen als ge­wöhn­lich, denn in der Nähe des Dor­fes gab es nichts mehr. Oh­ne­hin hat­te sie es auf eine an­de­re Beu­te ab­ge­se­hen als Holz und Bee­ren, eine, die nur in der Schlucht ge­won­nen wer­den konn­te, wo­hin sie sich al­lein noch nie ge­traut hat­te. Die alte Frau, bei der sie wohn­te, da ihre El­tern ge­stor­ben oder doch ver­schwun­den wa­ren, hat­te ihr er­zählt, wie vor Jah­ren alle Be­woh­ner des Dor­fes, da­mals drei- oder vier­mal so viel wie jetzt, bei An­nä­he­rung der Sol­da­ten in den Wald ge­flo­hen wa­ren. Es war ein hei­ßer Tag ge­we­sen, und mit den Flüch­ten­den zog ein schwe­res Ge­wit­ter; aber in der Angst und Trau­er be­ach­te­te es nie­mand. Auch des Mäd­chens Mut­ter war mit da­bei­ge­we­sen, das etwa zwei­jäh­ri­ge Kind auf den Ar­men, und der Pfar­rer, der ein Kru­zi­fix und den gol­de­nen Abend­mahls­kelch un­ter sei­nem schwar­zen Man­tel trug. In der Schlucht hat­te der Pfar­rer zu sei­nem ne­ben ihm ge­hen­den En­kel ge­sagt, an die­sem ver­bor­ge­nen Ort wol­le er die Hei­lig­tü­mer ein­gra­ben, die Erde kön­ne sie zu die­ser Zeit, wo kei­ner sei­nes ar­men Le­bens si­cher sei, bes­ser hü­ten als er. Mit Hil­fe des Kna­ben grub er ein Loch, leg­te Kreuz und Kelch hin­ein, häuf­te Erde dar­über und war im Be­griff auf­zu­ste­hen, als hin­ter ihm ein paar Sol­da­ten auf­tauch­ten, ihn an­pack­ten und frag­ten, was er da trei­be. Wie er ih­nen weh­ren woll­te, die ver­meint­li­chen Schät­ze aus­zu­gra­ben, sta­chen sie den gu­ten al­ten Mann ins Herz, so­dass er auf der Stel­le tot um­fiel, und wür­den es mit dem Kna­ben eben­so ge­macht ha­ben, wenn Gott sie nicht ge­hin­dert hät­te. Es stürz­te näm­lich, wie wenn ein feu­ri­ges Schwert vom Him­mel ge­schleu­dert wür­de, ein Blitz durch die sau­sen­den Baum­kro­nen und fäll­te den Mör­der, wor­über sei­ne Ka­me­ra­den sich so ent­setz­ten, dass sie da­von­lie­fen. So habe der En­kel des Pfar­rers den Vor­gang er­zählt.

Das klei­ne Mäd­chen konn­te nicht be­grei­fen, warum man den ver­senk­ten Schatz nicht wie­der aus­ge­gra­ben habe, und be­ru­hig­te sich nicht da­mit, dass man es mehr­mals, aber ver­geb­lich ver­sucht habe. Wäh­rend des lan­gen Auf­ent­halts im Wal­de bis zum Be­ginn des Win­ters war eine Seu­che aus­ge­bro­chen, an der ne­ben vie­len an­de­ren auch der En­kel des er­mor­de­ten Pfar­rers ge­stor­ben war; so konn­te nie­mand die Stel­le be­zeich­nen. We­der die Lei­che des Pfar­rers noch die des Sol­da­ten wa­ren bei der Rück­kehr mehr in der Schlucht ge­we­sen.

An die­sem Tage war es dem Mäd­chen ge­glückt, einen al­ten zer­bro­che­nen Spa­ten in ei­ner Scheu­ne auf­zu­fin­den, und mit dem Werk­zeug aus­ge­rüs­tet, woll­te sie es ver­su­chen, die Kost­bar­kei­ten ans Licht zu brin­gen.

Als sie in die Schlucht kam, über­lief sie ein Frös­teln; es war dun­kel und feucht und still wie in ei­ner Höh­le. Kein Vo­gel piep­te, kein Blatt rühr­te sich an den Bäu­men, und keins ra­schel­te zu ih­ren Fü­ßen, wo sie eine schlüpf­ri­ge De­cke bil­de­ten. Es roch nach Herbst und Ver­we­sung; wie sie sich dar­an ge­wöhnt hat­te, fühl­te sie sich wun­der­lich wie in einen Traum da­von ver­schlun­gen. Nach ei­ner Wei­le wei­te­te sich die Schlucht ein we­nig und lud zu ei­nem Auf­ent­hal­te ein; es schi­en ihr, dies kön­ne die rich­ti­ge Stel­le sein. Sie setz­te sich auf einen mor­schen, moos­grü­nen Baum­stamm, den ein­mal ein Sturm ent­wur­zelt ha­ben moch­te, und sah sich um: es war da mit­ten im Dickicht ein Fleck, wo kein Kraut oder Strauch wuchs; da, dach­te sie, könn­te der arme Pfar­rer ge­gra­ben ha­ben. Je län­ger sie nach der Stel­le hin­blick­te, de­sto be­stimm­ter glaub­te sie dar­an; es war ihr fast, als sähe sie das Gold des Kel­ches, röt­lich wie die Son­ne, die pech­schwar­ze Erde durch­glü­hen. Nun muss­te sie sich ent­schlie­ßen, was sie tun woll­te, wenn sie den Schatz ge­ho­ben hat­te. Dass sie nicht ins Dorf zu­rück woll­te, stand ihr fest; einen Pfar­rer gab es nicht mehr, da sie be­haup­te­ten, in ei­ner so ar­men Ge­mein­de nicht be­ste­hen zu kön­nen, und die alte Frau, bei der sie wohn­te, wür­de die Kost­bar­kei­ten aus Furcht so­gleich wie­der ver­gra­ben ha­ben. Also woll­te sie fort, sich bis zur nächs­ten Stadt durch­bet­teln und ih­ren Schatz ver­kau­fen; dann wür­de sie reich sein, sich satt es­sen, schö­ne Klei­der an­zie­hen, und die­je­ni­gen, die sie frü­her ge­schla­gen und miss­han­delt hat­ten, wür­den sich vor ihr bücken und ihr schmei­cheln. Sie wür­de die Frau ir­gend­ei­nes großen Herrn wer­den, dann konn­te sie in die Welt hin­aus und ih­ren Va­ter und ihre Mut­ter su­chen, von de­nen sie nicht glaub­te, dass sie tot wä­ren. Ihr Va­ter war, als sie noch ganz klein war, un­ter die Sol­da­ten ge­gan­gen, ihre Mut­ter hat­te sich in der Not und Verzweif­lung ein­mal auf­ge­macht, ihn zu su­chen, und war nicht wie­der­ge­kom­men. Noch er­in­ner­te sie sich an die großen brau­nen Au­gen ih­rer Mut­ter und an ihr Ent­set­zen, als sie sie zum ers­ten Male im Schlaf ge­schlos­sen ge­se­hen hat­te; denn sie hat­te ein dunkles Ge­fühl, als hän­ge die Welt an die­sen Au­gen und müs­se mit ih­nen zu­grun­de ge­hen. Sin­nend sah sie an den glat­ten Bu­chen­stäm­men und an der Wand der Schlucht in die Höhe und be­merk­te, dass oben an ih­rem Ran­de ein gel­bes Blatt von der Son­ne be­schie­nen war und fun­kel­te wie ein Flämm­chen, an dem man sich wär­men könn­te.

Sie sprang auf und be­gann zu gra­ben. Bei der Ar­beit wuchs ihr die Kraft, so­dass die Erde flog, und zu­gleich wur­de ihre Hoff­nung ent­schie­de­ner, und sie glaub­te je­des Mal, wenn der Spa­ten auf einen Stein oder eine Wur­zel stieß, es wäre das Kreuz oder der Kelch. All­mäh­lich er­lahm­te sie ein we­nig, und in­dem sie sich auf­rich­te­te und die Haa­re aus dem Ge­sicht strich, sah sie, dass das gel­be Blatt am Ran­de der Schlucht nicht mehr glänz­te; die Son­ne war wei­ter­ge­rückt, und es moch­te schon auf den Abend zu­ge­hen. Mit der Ent­täu­schung wur­de sie sich be­wusst, dass es sie hun­ger­te; aber noch woll­te sie die Hoff­nung nicht auf­ge­ben, son­dern wei­ter­gra­ben, ob­wohl es ihr nicht glaub­lich schi­en, dass das Ver­steck so tief sein soll­te. Wie sie sich bück­te, um die Ar­beit wie­der auf­zu­neh­men, hör­te sie einen be­hut­sa­men Schritt hin­ter sich auf den nas­sen Blät­tern. Sie hielt inne, und das Bild des ar­men Pfar­rers stieg vor ihr auf, wie er, von sei­nen grau­en Haa­ren um­flat­tert, has­tig die Erde über sei­nen Hei­lig­tü­mern auf­schüt­te­te. War er es, der hier um­ging, um sie zu be­hü­ten? Oder war es der von Got­tes Hand ge­trof­fe­ne Mör­der, den der Ge­ruch des ver­gos­se­nen Blu­tes aus dem Gra­be an die­se Stät­te zog? Zit­ternd wand­te sie sich um und er­blick­te hin­ter sich ein Tier, das ihr wie ein Hund vor­kam und das die blu­ti­gen Au­gen starr und gie­rig auf sie rich­te­te. Plötz­lich fiel ihr ein, dass es der Wolf sein müss­te, der in ei­ner der letz­ten Näch­te bis in das Dorf ge­kom­men war; die alte Frau hat­te ge­be­tet, als sie sein hei­se­res Bel­len ge­hört hat­te, und selbst die Män­ner fürch­te­ten sich vor ihm. Wie wür­den sie stau­nen, wenn Gott ihr bei­stand und sie, das Mäd­chen, den Feind er­leg­te! Da sah sie, wie die schwar­zen, trie­fen­den Lip­pen des Tie­res sich schnup­pernd be­weg­ten und die star­ken wei­ßen Zäh­ne her­aus­schie­nen; ihr Herz zog sich kläg­lich zu­sam­men, sie dach­te an die brau­nen Au­gen ih­rer Mut­ter und wie ver­las­sen sie war. Sie ver­moch­te we­der zu ru­fen noch auf­zu­ste­hen; wie nun aber das Tier zu­sprang, fass­ten ihre klei­nen Hän­de un­will­kür­lich den Spa­ten fes­ter, und sie setz­te sich zur Wehr. Sie kämpf­te mit dem gan­zen Kör­per und fühl­te eine un­er­schöpf­li­che Kraft; da dräng­te sich der häss­li­che, bors­ti­ge Kopf an ihre Keh­le, und als sie mit bei­den Hän­den nach ihm griff, um ihn weg­zu­sto­ßen, ver­ging ihr die Be­sin­nung.