92.

An ei­nem dunklen, feuch­ten Vor­früh­lings­ta­ge des Jah­res 1649 kam in Aa­chen ein Schöf­fe in den Turm, wo die Ge­fan­ge­nen ver­wahrt wur­den, um die Rech­nung zu be­glei­chen, die der Turm­wart für Be­kö­s­ti­gung der Ge­fan­ge­nen und an­de­re Aus­la­gen ein­ge­reicht hat­te. Er war neu in sei­nem Amte, run­zel­te die Stirn und rüg­te die Ver­schwen­dung des Turm­warts, die zu­mal in so bö­sen Zei­ten ge­fähr­lich sei. Die Ma­le­fi­kan­ten wä­ren nicht ein­ge­sperrt, um mit Ha­fer­brei und sau­be­rer Wä­sche ein Freu­den­le­ben zu füh­ren, son­dern um durch Kreuz und Elend ge­bes­sert und wo­mög­lich dem Höl­len­ra­chen ent­ris­sen zu wer­den.

Der Turm­wart ent­schul­dig­te sich, er sei über die Vor­schrif­ten der al­ten Zeit nicht hin­aus­ge­gan­gen, wo­nach den ar­men Leu­ten Ha­fer­brei und auch hie und da ein sau­be­res Hemd­lein oder Bett ge­stat­tet wäre.

Vor­schrif­ten aus al­ter Zeit! rief der Schöf­fe. Die Men­schen wür­den täg­lich fre­cher und bos­haf­ter und wür­den zu­letzt rau­ben und mor­den, nur um ein Plätz­lein im Tur­me zu be­kom­men. Die Stadt kön­ne es nicht er­lei­den, so vie­le gott­lo­se Bäu­che zu fül­len.

Der Turm­wart er­wi­der­te, das könn­ten die Her­ren drau­ßen leicht sa­gen, aber wenn man mit­ten dar­in säße und das Win­seln und Jam­mern hör­te, so kön­ne man sich des Er­bar­mens nicht im­mer ent­schla­gen.

Da gleich­zei­tig aus ei­nem Ne­ben­rau­me durch­drin­gen­des Ge­schrei er­tön­te, öff­ne­te der Schöf­fe die Tür, um zu se­hen, was das wäre, und stand er­staunt vor ei­nem selt­sa­men Schau­spiel, des­sen Be­deu­tung er sich nicht so­gleich zu er­klä­ren wuss­te. Vier bis fünf Kin­der um­tanz­ten ein blas­ses, ma­ge­res Ge­schöpf, das nur mit ei­nem Kit­tel be­klei­det und mit ei­ner Ket­te an der Wand be­fes­tigt war, und hiel­ten ihm eine Bro­trin­de hin, nach der es hasch­te, so weit die Ket­te ihm Spiel­raum gab; stol­per­te oder fiel es etwa gar, von der Ket­te im Lau­fe zu­rück­ge­hal­ten, so bra­chen die Kin­der in ein tri­um­phie­ren­des Ge­heul aus und ver­schlan­gen die hin­ge­hal­te­ne Lock­spei­se selbst. Auf die Fra­ge des Schöf­fen, was das vor­stell­te und was für eine ver­wil­der­te Krea­tur das sei, er­klär­te der ver­le­ge­ne Turm­wart, das sei das He­xen­kind, das vor vier Jah­ren zum Feu­er­to­de ver­ur­teilt, aber da­zu­mal nicht ver­brannt wor­den sei, weil die Rich­ter ge­ur­teilt hät­ten, vor dem zwölf­ten Jah­re dür­fe ein Kind nicht als Zau­be­rer oder Hexe ju­sti­fi­ziert wer­den. Es sei also be­schlos­sen, dass es im Tur­me ver­wahrt wer­den sol­le, bis es zwölf­jäh­rig und da­mit zur Stra­fe her­an­ge­wach­sen wäre. Wie es dann im Win­ter bei der großen Käl­te so jäm­mer­lich ge­weint hät­te, habe sei­ne Frau sich des Wai­sen­kin­des er­barmt, und sie hät­ten es in ihre Woh­nung ge­nom­men, was auch vom Rat ge­stat­tet wor­den sei.

Der Schöf­fe sag­te, er müs­se sich sehr ver­wun­dern, dass ein gu­ter ka­tho­li­scher Christ eine schäd­li­che He­xen­brut bei sei­nen Kin­dern lei­den möch­te; sie kön­ne ja sei­ne Kin­der die Hexe­rei leh­ren oder sonst un­ver­se­hens dem Teu­fel über­ant­wor­ten.

Nein, das sei nicht zu be­fürch­ten, sag­te der Turm­wart. Das arme Kind sei scheu wie ein Vög­lein, tue kei­nem was zu­lei­de, sei­ne Kin­der ver­trie­ben sich die Zeit da­mit, und er habe kein an­de­res Be­den­ken, als dass sei­ne Ran­gen es oft gar zu arg miss­han­del­ten. Bei die­sen Wor­ten ver­setz­te er sei­nen Kin­dern schnell ein paar kräf­ti­ge Maul­schel­len, was sie be­wog, sich schrei­end un­ter das Bett zu ver­krie­chen.

Wann denn das Kind das zwölf­te Jahr er­reicht ha­ben wür­de? er­kun­dig­te sich der Schöf­fe.

Der Turm­wart sag­te, er wis­se es nicht ge­nau, glau­be aber, es möch­te bald so­weit sein.

Dem Aus­se­hen nach, mein­te der Schöf­fe, kön­ne es nicht mehr als sechs zäh­len.

Es sei an der Ket­te nicht so recht fort­ge­kom­men, sag­te der Turm­wart.

»Der Teu­fel wird auch sei­ne Hand im Spie­le ha­ben«, sag­te der Schöf­fe und ging fort, um dem Ge­richt an­heim­zu­ge­ben, dass der Fall in Ord­nung ge­bracht wür­de.

Es zeig­te sich, dass das Kind das zwölf­te Jahr kürz­lich er­reicht hat­te und dass also der Exe­ku­ti­on nichts mehr im Wege stand; die Rich­ter zwei­fel­ten nur, ob die­sel­be so­fort vor­ge­nom­men wer­den oder eine noch­ma­li­ge Un­ter­su­chung vor­her­ge­hen soll­te. Da aber das Ur­teil da­mals schon ge­spro­chen und nie auf­ge­ho­ben war, auch bei Kin­dern von He­xen, da das Frücht­lein ge­mei­nig­lich nicht weit vom Stam­me fal­le, das cri­men als an­ge­bo­ren vor­aus­ge­setzt wer­den kön­ne, ei­nig­te man sich da­hin, dem Kin­de nur noch ein paar schick­li­che Fra­gen vor­zu­le­gen und es dann ohne Fe­der­le­sen auf den Schei­ter­hau­fen zu ex­pe­die­ren, da es die Stadt oh­ne­hin schon so viel ge­kos­tet hät­te. Ei­ner der Her­ren mein­te, der arme Wurm kön­ne nicht viel Un­heil an­rich­ten; al­lein, da man ihm ent­ge­gen­hielt, wenn man es freilie­ße, wür­de doch nur eine Bet­tel­dir­ne aus dem Kin­de wer­den, da es ja kei­ne Mut­ter hät­te und die Ver­wandt­schaft nichts von ihm wür­de wis­sen wol­len, be­schied er sich.

Gleich am fol­gen­den Tage be­ga­ben sich zwei Rich­ter in den Turm, setz­ten sich vor das an­ge­ket­te­te Kind und frag­ten, ob es wis­se, dass sei­ne Mut­ter eine Hexe ge­we­sen sei? Das Kind sah die Her­ren eine Wei­le groß an, all­mäh­lich zog ein Lä­cheln über sein Ge­sicht und es nick­te, wor­auf die Her­ren sich einen be­deut­sa­men Blick zu­war­fen und spöt­tisch auf­lach­ten. Ob sei­ne Mut­ter es oft mit zum Tan­ze ge­nom­men hät­te? frag­ten sie wei­ter. Das Kind nick­te mit glän­zen­den Au­gen. Als ein­zi­ge Erin­ne­rung von den Ver­hö­ren, die vor Jah­ren statt­ge­fun­den hat­ten, war ihr das nächt­li­che Tan­zen ge­blie­ben, von dem so viel die Rede ge­we­sen war, und in ih­rer lan­gen, dunklen Ein­sam­keit hat­te sie sich ein lieb­li­ches Bild von ih­rer Mut­ter ge­macht, wie sie auf duf­ten­der Wie­se einen Rei­gen mit ihr tanz­te. Jetzt hät­ten sie den Bra­ten ge­ro­chen, sag­ten die Her­ren zu dem un­ru­hig war­ten­den Turm­wart, mehr be­dür­fe es nicht, sei­ne Frau sol­le das Kind für den fol­gen­den Mor­gen her­rich­ten.

Als das auf­ge­hen­de Licht in das Turm­stüb­chen fiel, nahm die Frau das Kind auf den Schoß, zog ihm ein sau­be­res Kit­tel­chen an und kämm­te ihm die Haa­re, wo­bei sie zu­wei­len eine Trä­ne weg­wisch­te, die dar­auf­fiel. Das Kind strei­chel­te ihre tä­ti­gen Hän­de und ihr trau­ri­ges Ge­sicht und warf zu­wei­len einen ängst­lich er­staun­ten Blick nach den Kin­dern, die heu­te so still wa­ren. »Kom­me ich jetzt zu mei­ner Mut­ter«, frag­te es, »und wer­den wir zu­sam­men tan­zen?« Die Frau leg­te ihre Hand auf des Kin­des Kopf und sag­te, ja, es sol­le nur ge­trost sein, es wer­de jetzt die lie­be Son­ne se­hen, und sei­ne Mut­ter er­war­te es im Him­mel.

Als sie ins Freie tra­ten, schau­der­te die Klei­ne zu­erst und be­deck­te die Au­gen mit den Hän­den; aber all­mäh­lich, wäh­rend sie, zwi­schen den Turm­warts­leu­ten sit­zend, auf dem Kar­ren durch die Stadt fuhr, ge­wöhn­te sie sich, hielt die dün­nen Hän­de in das Licht und sah zu, wie die fri­sche Luft ihre lo­sen Haa­re hob. Es wa­ren nicht vie­le Zuschau­er in den Stra­ßen; denn seit meh­re­ren Jah­ren hat­ten kei­ne He­xen­brän­de mehr statt­ge­fun­den, und die­ser ver­ein­zel­te Fall war nicht recht be­kannt ge­wor­den. Auch von der Richter­schaft wa­ren zur Er­spar­nis der Ta­ge­gel­der nur we­ni­ge da, und die Holz­hüt­te, in der das Kind ver­brannt wer­den soll­te, war klein, weil das Holz teu­er war und die Stadt die Kos­ten tra­gen muss­te.

Beim An­blick der Wie­sen, die sich vor dem Tore aus­brei­te­ten, stieß das Kind einen schwa­chen Freu­den­ruf aus; denn es glaub­te den Schau­platz sei­ner schö­nen Träu­me vor sich zu se­hen. Voll stau­nen­den Ent­zückens deu­te­te es mit der Hand auf die gel­ben Blu­men, die wie Strah­len­bü­schel aus der Erde schos­sen, auf eine Schaf­her­de, die am Ran­de des frei­en Plat­zes hin­ging, und auf die Holz­hüt­te, an die ein paar Män­ner Feu­er an­zu­le­gen be­schäf­tigt wa­ren. »Ist da mei­ne Mut­ter?« frag­te es. Der Turm­wart und sei­ne Frau wein­ten und ver­moch­ten nur zu ni­cken; laut schluch­zend sa­hen sie der klei­nen wei­ßen Ge­stalt nach, wie sie un­si­che­ren Schrit­tes, zag­haft und fei­er­lich, über das Gras hin­ging und in der qual­men­den Hüt­te ver­schwand.