An einem dunklen, feuchten Vorfrühlingstage des Jahres 1649 kam in Aachen ein Schöffe in den Turm, wo die Gefangenen verwahrt wurden, um die Rechnung zu begleichen, die der Turmwart für Beköstigung der Gefangenen und andere Auslagen eingereicht hatte. Er war neu in seinem Amte, runzelte die Stirn und rügte die Verschwendung des Turmwarts, die zumal in so bösen Zeiten gefährlich sei. Die Malefikanten wären nicht eingesperrt, um mit Haferbrei und sauberer Wäsche ein Freudenleben zu führen, sondern um durch Kreuz und Elend gebessert und womöglich dem Höllenrachen entrissen zu werden.
Der Turmwart entschuldigte sich, er sei über die Vorschriften der alten Zeit nicht hinausgegangen, wonach den armen Leuten Haferbrei und auch hie und da ein sauberes Hemdlein oder Bett gestattet wäre.
Vorschriften aus alter Zeit! rief der Schöffe. Die Menschen würden täglich frecher und boshafter und würden zuletzt rauben und morden, nur um ein Plätzlein im Turme zu bekommen. Die Stadt könne es nicht erleiden, so viele gottlose Bäuche zu füllen.
Der Turmwart erwiderte, das könnten die Herren draußen leicht sagen, aber wenn man mitten darin säße und das Winseln und Jammern hörte, so könne man sich des Erbarmens nicht immer entschlagen.
Da gleichzeitig aus einem Nebenraume durchdringendes Geschrei ertönte, öffnete der Schöffe die Tür, um zu sehen, was das wäre, und stand erstaunt vor einem seltsamen Schauspiel, dessen Bedeutung er sich nicht sogleich zu erklären wusste. Vier bis fünf Kinder umtanzten ein blasses, mageres Geschöpf, das nur mit einem Kittel bekleidet und mit einer Kette an der Wand befestigt war, und hielten ihm eine Brotrinde hin, nach der es haschte, so weit die Kette ihm Spielraum gab; stolperte oder fiel es etwa gar, von der Kette im Laufe zurückgehalten, so brachen die Kinder in ein triumphierendes Geheul aus und verschlangen die hingehaltene Lockspeise selbst. Auf die Frage des Schöffen, was das vorstellte und was für eine verwilderte Kreatur das sei, erklärte der verlegene Turmwart, das sei das Hexenkind, das vor vier Jahren zum Feuertode verurteilt, aber dazumal nicht verbrannt worden sei, weil die Richter geurteilt hätten, vor dem zwölften Jahre dürfe ein Kind nicht als Zauberer oder Hexe justifiziert werden. Es sei also beschlossen, dass es im Turme verwahrt werden solle, bis es zwölfjährig und damit zur Strafe herangewachsen wäre. Wie es dann im Winter bei der großen Kälte so jämmerlich geweint hätte, habe seine Frau sich des Waisenkindes erbarmt, und sie hätten es in ihre Wohnung genommen, was auch vom Rat gestattet worden sei.
Der Schöffe sagte, er müsse sich sehr verwundern, dass ein guter katholischer Christ eine schädliche Hexenbrut bei seinen Kindern leiden möchte; sie könne ja seine Kinder die Hexerei lehren oder sonst unversehens dem Teufel überantworten.
Nein, das sei nicht zu befürchten, sagte der Turmwart. Das arme Kind sei scheu wie ein Vöglein, tue keinem was zuleide, seine Kinder vertrieben sich die Zeit damit, und er habe kein anderes Bedenken, als dass seine Rangen es oft gar zu arg misshandelten. Bei diesen Worten versetzte er seinen Kindern schnell ein paar kräftige Maulschellen, was sie bewog, sich schreiend unter das Bett zu verkriechen.
Wann denn das Kind das zwölfte Jahr erreicht haben würde? erkundigte sich der Schöffe.
Der Turmwart sagte, er wisse es nicht genau, glaube aber, es möchte bald soweit sein.
Dem Aussehen nach, meinte der Schöffe, könne es nicht mehr als sechs zählen.
Es sei an der Kette nicht so recht fortgekommen, sagte der Turmwart.
»Der Teufel wird auch seine Hand im Spiele haben«, sagte der Schöffe und ging fort, um dem Gericht anheimzugeben, dass der Fall in Ordnung gebracht würde.
Es zeigte sich, dass das Kind das zwölfte Jahr kürzlich erreicht hatte und dass also der Exekution nichts mehr im Wege stand; die Richter zweifelten nur, ob dieselbe sofort vorgenommen werden oder eine nochmalige Untersuchung vorhergehen sollte. Da aber das Urteil damals schon gesprochen und nie aufgehoben war, auch bei Kindern von Hexen, da das Früchtlein gemeiniglich nicht weit vom Stamme falle, das crimen als angeboren vorausgesetzt werden könne, einigte man sich dahin, dem Kinde nur noch ein paar schickliche Fragen vorzulegen und es dann ohne Federlesen auf den Scheiterhaufen zu expedieren, da es die Stadt ohnehin schon so viel gekostet hätte. Einer der Herren meinte, der arme Wurm könne nicht viel Unheil anrichten; allein, da man ihm entgegenhielt, wenn man es freiließe, würde doch nur eine Betteldirne aus dem Kinde werden, da es ja keine Mutter hätte und die Verwandtschaft nichts von ihm würde wissen wollen, beschied er sich.
Gleich am folgenden Tage begaben sich zwei Richter in den Turm, setzten sich vor das angekettete Kind und fragten, ob es wisse, dass seine Mutter eine Hexe gewesen sei? Das Kind sah die Herren eine Weile groß an, allmählich zog ein Lächeln über sein Gesicht und es nickte, worauf die Herren sich einen bedeutsamen Blick zuwarfen und spöttisch auflachten. Ob seine Mutter es oft mit zum Tanze genommen hätte? fragten sie weiter. Das Kind nickte mit glänzenden Augen. Als einzige Erinnerung von den Verhören, die vor Jahren stattgefunden hatten, war ihr das nächtliche Tanzen geblieben, von dem so viel die Rede gewesen war, und in ihrer langen, dunklen Einsamkeit hatte sie sich ein liebliches Bild von ihrer Mutter gemacht, wie sie auf duftender Wiese einen Reigen mit ihr tanzte. Jetzt hätten sie den Braten gerochen, sagten die Herren zu dem unruhig wartenden Turmwart, mehr bedürfe es nicht, seine Frau solle das Kind für den folgenden Morgen herrichten.
Als das aufgehende Licht in das Turmstübchen fiel, nahm die Frau das Kind auf den Schoß, zog ihm ein sauberes Kittelchen an und kämmte ihm die Haare, wobei sie zuweilen eine Träne wegwischte, die darauffiel. Das Kind streichelte ihre tätigen Hände und ihr trauriges Gesicht und warf zuweilen einen ängstlich erstaunten Blick nach den Kindern, die heute so still waren. »Komme ich jetzt zu meiner Mutter«, fragte es, »und werden wir zusammen tanzen?« Die Frau legte ihre Hand auf des Kindes Kopf und sagte, ja, es solle nur getrost sein, es werde jetzt die liebe Sonne sehen, und seine Mutter erwarte es im Himmel.
Als sie ins Freie traten, schauderte die Kleine zuerst und bedeckte die Augen mit den Händen; aber allmählich, während sie, zwischen den Turmwartsleuten sitzend, auf dem Karren durch die Stadt fuhr, gewöhnte sie sich, hielt die dünnen Hände in das Licht und sah zu, wie die frische Luft ihre losen Haare hob. Es waren nicht viele Zuschauer in den Straßen; denn seit mehreren Jahren hatten keine Hexenbrände mehr stattgefunden, und dieser vereinzelte Fall war nicht recht bekannt geworden. Auch von der Richterschaft waren zur Ersparnis der Tagegelder nur wenige da, und die Holzhütte, in der das Kind verbrannt werden sollte, war klein, weil das Holz teuer war und die Stadt die Kosten tragen musste.
Beim Anblick der Wiesen, die sich vor dem Tore ausbreiteten, stieß das Kind einen schwachen Freudenruf aus; denn es glaubte den Schauplatz seiner schönen Träume vor sich zu sehen. Voll staunenden Entzückens deutete es mit der Hand auf die gelben Blumen, die wie Strahlenbüschel aus der Erde schossen, auf eine Schafherde, die am Rande des freien Platzes hinging, und auf die Holzhütte, an die ein paar Männer Feuer anzulegen beschäftigt waren. »Ist da meine Mutter?« fragte es. Der Turmwart und seine Frau weinten und vermochten nur zu nicken; laut schluchzend sahen sie der kleinen weißen Gestalt nach, wie sie unsicheren Schrittes, zaghaft und feierlich, über das Gras hinging und in der qualmenden Hütte verschwand.