Kapitel 2

Ra klopfte gegen seinen goldglänzenden Helm. Der war nicht nur eine Zierde für jedes Haupt, er steckte tatsächlich voller Hightech. Das galt gleichermaßen für die Standardausführung jener, die tatsächlich nur normale Leibgardisten des Prinzipals waren, wie auch für seine eigene Kopfbedeckung, die genauso aussah.

»Besser?«, vokalisierte er in sein Kehlkopfmikrofon, das unter dem breiten und mit Ornamenten verzierten Zierkragen verborgen war.

»Ja«, knisterte die Stimme des Dispatchers. »Ich sehe alles klar und deutlich. Weiter so.«

Gemurmel wurde laut, Köpfe drehten sich. Ra stand in der Festhalle, auf zugewiesener Position, und wusste genau, was die Ursache der Aufregung war. Orbal III . erschien auf der Bildfläche.

»Ich sehe Isis.«

»Bleib in der Nähe, wie geplant.«

»Bestätige. Setze mich in Bewegung.«

Es war nicht ungewöhnlich, dass sich Leibgardisten dem Prinzipal anschlossen, wenn dieser in der Öffentlichkeit auftrat. Und so marschierte Ra los, festen Schrittes, zusammen mit drei weiteren Soldaten, die nicht wussten, wer oder was ein Simipath war, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie ein Double bewachten. Die bloße Existenz der Gestaltwandler war nur einer sehr kleinen Elite bekannt, die sehr diskret mit deren Diensten umging, allein schon, weil sie ihnen allen einmal nützlich sein könnten. Für die normale Bevölkerung des Stellaren Status, all die Billiarden und Aberbilliarden auf den Hunderten von besiedelten Welten, waren die Simipathen nicht einmal ein Mythos. Sie existierten nicht. Denn niemand hatte je von ihnen gehört.

Ra hatte damit kein Problem. Er sah Isis nicht an, kein Kopfnicken, kein Blinzeln. Sie waren Profis, sie brauchten solche Zeichen nicht.

Isis betrat den Hauptsaal durch das Portal, sodass sie die Länge der Halle durchschreiten musste, um zum Podest zu kommen, von dem aus sie Orbals Rede halten würde. Ra folgte, mit Abstand, dann stellte er sich neben das Portal, wie eine brave Wache, quasi Teil der Einrichtung, ein lebendes, atmendes und sehr offiziell wirkendes Möbelstück, das alle so erwarteten und niemand richtig zur Kenntnis nahm.

Die Aufmerksamkeit aller war ohnehin jetzt auf den falschen Orbal gerichtet, der durch den Raum schritt. Er musterte die Menge mit weihevollem Blick, winkte hier, nickte dort, registrierte jene, die so sehr in seiner Gunst standen, dass ihnen seine Aufmerksamkeit zuteilwerden musste. Isis arbeitete die Liste, die ihr der echte Prinzipal gegeben hatte, sorgfältig ab. Es sollte keiner übersehen werden und beleidigt sein dürfen.

»Isis hat ihre Gunst verteilt«, meldete Ra. »Wir beginnen jetzt mit Phase zwei.«

Ein Gong ertönte.

Eine erwartungsvolle Menge erhob sich von den Stühlen, Kleidung raschelte, der sanfte Klangteppich leisen Gemurmels legte sich über den Saal. Ra kannte die Räumlichkeit, hatte sie eingehend inspiziert. Die gigantischen Gemälde an den Wänden, alles Originale auf echter Leinwand, zeigten die Gesichter ehemaliger Prinzipale, alle sehr würdig, ernsthaft und von wohlwollender Strenge, exakt der Gesichtsausdruck, um den sich nun auch die Orbal-Kopie bemühte. Gemessenen Schrittes hatte sie den Saal durchquert, ließ sich von links und rechts mit sanftem Applaus beträufeln und näherte sich nun dem Podest.

Sie machte das gut, fand Ra. Isis teilte mit ihren drei Bruderschwestern die exakt gleichen Fähigkeiten zum perfekten Mimikry, aber Isis hatte das größte schauspielerische Talent. Sie konnte alles und jeden überzeugend darstellen und hatte Spaß an jeder Rolle. Orbal zu personifizieren war eine ganz eigene Herausforderung, und es machte Ra wiederum große Freude, Isis dabei zuzusehen, wie sie den Prinzipal perfekt imitierte. Da konnte ihr niemand das Wasser reichen. Wie schade, dass das Publikum diese Leistung niemals richtig würdigen konnte.

Orbal III . betrat das Podest, drehte sich langsam um, die Arme ausgebreitet und leicht angehoben. Gönnerhaft suhlte er sich gleichermaßen in echter wie gespielter Freude der versammelten Notabeln, bis das Protokoll Bescheidenheit von ihm verlangte. Er winkte sanft. Das war das Zeichen für die Gäste, sich raschelnd zu setzen, das Gemurmel ersterben zu lassen und in andächtiger Bereitschaft den inspirierenden Worten ihres Gesegneten zu lauschen.

Orbal III . wartete, bis wirklich jeder auf seinem Sitzplatz zur Ruhe gekommen war.

Ra schaute sich um. Alle Blicke waren nach vorne gerichtet, aus einem, zwei oder mehreren Augen. Die Bewohner der Prinzipalität bestanden nicht nur aus Terra-Abkömmlingen, obgleich sie auf einigen der sieben Welten die Mehrheit ausmachten. Die multiethnische Zusammensetzung des kleinen Mitgliedsstaates im Stellaren Status führte dazu, dass nicht alle damit einverstanden waren, wenn aus irgendeinem Grund trotzdem immer ein Mensch das oberste Staatsamt bekleidete – dies war eine der Ursachen für die wachsende Unzufriedenheit von Teilen der Bevölkerung. Der luxuriöse Lebensstil Orbal III . in einer Zeit schwerer wirtschaftlicher Krisen, die den ganzen Status erschütterten, trug das Seine dazu bei. Ra ließ das relativ kalt. An seinem eigenen Lebensstil war nichts auszusetzen, dafür sorgte seine hochbezahlte Arbeit und die Großzügigkeit seiner Chefin.

Musik erklang. Das Hoforchester des Prinzipals saß oben auf der Galerie, fast achtzig Musiker, die auf ihren oft filigranen Instrumenten die Hymne des Gesegneten spielten, die inoffizielle Nationalhymne der Prinzipalität. Die Melodie war einfach, eingängig, so komponiert, dass man sich leicht an sie erinnerte, ein klassischer Ohrwurm. Jemand hatte sich damit viel Mühe gemacht, wahrscheinlich einer der weit in die Zukunft denkenden Vorgänger Orbals III ., einer, der geahnt haben musste, dass jede Form der Legitimation immer auch einer musikalischen Untermalung bedurfte. Das Stück war auch nicht so lang, dass es langweilig zu werden drohte. Da hatte wirklich jemand mitgedacht.

Die letzten Noten verklangen.

»Ra, hier Dispatch. Die Außenkameras zeigen nichts, wir haben auch keine Meldungen aus der Sicherheitszentrale des Palastes. Scanner des Luftraums ohne Befund, keine Fahrzeugbewegungen. Bisher alles ruhig. Wie sieht es bei dir aus?«

Der Helm dämpfte seine Stimme. Wenn er flüsterte, hörte ihn niemand außer dem Mikrofon.

»Alles wie geplant. Isis auf Position, wird jetzt die Rede halten. Publikum ruhig, nichts auffällig.«

»Keine Energiesignaturen. Wenn jemand einen Laser hochfährt, bekommen wir das mit.«

»Die Festkleidung, die alle tragen, ist jedenfalls weit genug geschnitten, um ein ganzes Arsenal heimlich unterzubringen«, kommentierte Ra fachmännisch. Er wusste natürlich von den Scans und den Leibesvisitationen. Er wusste aber auch, dass niemand ein Attentat wagen würde, der nicht zumindest ein paar Mitglieder des Sicherheitsdienstes auf seine Seite gezogen hatte. Ein Grundprinzip ihrer Arbeit lautete: Trau niemandem außer den eigenen Leuten.

Und auch da sei immer wachsam.

Isis war nun so weit und begann mit ihrer Rede, die sie unter den kritischen Augen von Orbals Rhetorikern so lange eingeübt hatte, bis die Performance absolut der des Originals entsprach. Trotz Orbals Stimmbandoperation war er freilich kein begnadeter Redner, und Isis, die hervorragende Schauspielerin, musste deshalb ebenfalls Mittelmaß produzieren, was ihr natürlich perfekt gelang.

»Liebe Festgäste, liebe Brüder und Schwestern, Bürgerinnen und Bürger, hochgeehrte Vertreter des Stellaren Status und der befreundeten Nationen – was ist dies doch für ein wunderschöner Tag!«

Tag. Heller, lichter Tag. Der grelle Blitz, der mit dem letzten Wort durch die Halle fuhr, schnitt Sprechen, Denken und Sehen ab. Durchdringend fraß er sich in Netzhäute und löste Schmerz, Schock und Verwirrung aus. Gefolgt von Schreien aus dem Publikum, die Überraschung, Entsetzen, bei vielen echte Pein ausdrückten.

Ra blinzelte. Seine geblendeten Pupillen lösten sich in den Augenhöhlen auf, wurden durch neue ersetzt, ein Prozess von wenigen Sekunden, in denen er ebenfalls bewegungslos war. Dann, mit rekonfigurierten Augen, sah er. Hörte er. Das Chaos war ausgebrochen, die Halle wogte wie ein See aus Schmerz und Klagen. Eine plötzliche Bewegung, geboren aus Hilflosigkeit und Angst.

Die Geblendeten hatten angefangen, ziellos durch den Saal zu irren. Wehklagen erklang aus vielen Kehlen, in vielen Stimmen und Sprachen. Eine Alarmsirene ertönte. Von draußen drang Lärm herein. Die Leibgardisten waren eingetroffen.

Und Orbal? Dies war zweifelsohne das Attentat. Was war passiert?

Ra suchte nach Isis. Er schaute auf das Podest, vor dem die Menge wogte. Er bahnte sich einen Weg durch die Gäste, watete durch ihre Hilflosigkeit, Hände ignorierend, die ihm bittend entgegengestreckt wurden. Seine Mission war vordringlich. Andere würden sich um das Leid der Geblendeten kümmern.

Da erreichte er das Podest, den Platz, an dem eben noch Isis gestanden hatte.

Isis war nicht da. Kein Leichnam. Keine geschmolzenen organischen Überreste. Ein paar Moleküle genügten bereits, um den Simipathen vollständig zu regenerieren. Sie waren ein Wunder der Natur, quasi unverwundbar. Und Ra wunderte sich in der Tat, denn es war, als wäre Isis und damit Orbal III . spurlos verschwunden, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.

»Dispatch. Isis ist nicht zu identifizieren, keine Reste, nichts. Ich benötige Hilfe.«

»Ra. Alle Sensoren und Kameras sind ausgefallen. Hörst du mich?«

Die Stimme des Dispatchers war ruhig, absolut kontrolliert. Das war eine seiner Stärken. Niemals die Ruhe verlieren, auch wenn alles schiefzulaufen schien. Und genau so sah es jetzt aus.

»Hier herrscht das absolute Chaos. Ich kann Isis nirgends finden.«

»Sie haben sie getötet?« Das war so nicht gemeint. Niemand konnte einen Simipathen töten, zumindest war das bisher noch niemandem geglückt.

»Das weiß ich nicht.«

»Aktiviere den DNS -Schnüffler.«

»Sofort. Schickt mehr Rettungskräfte. Die Leute hier drehen durch.«

Drehten durch vor Angst und Schmerz.

Ein Druck auf eine Taste an Ras Armband genügte, um den Schnüffler einzuschalten. Der kleine Spezialscanner hatte nur eine einzige Funktion: Er suchte nach der speziellen DNS der Simipathen, von denen nach mancher Mission nur noch wenig übrig blieb. Ein kleiner Rest aber war notwendig, um die »Getöteten« wieder zu rekonfigurieren. Ra schwenkte seinen Arm hin und her. Das Chaos um ihn herum ebbte nicht ab. Leibgardisten stürmten durch die weinende und klagende Menge. Sanitäter trafen ein und begannen, die ersten Opfer aus dem Saal zu führen. Diejenigen, die noch sehen konnten, wollten weg von hier. Dadurch entstand Gedränge, das sich leicht in eine echte Panik verwandeln konnte, wenn hier nicht endlich jemand hart durchgriff.

Ra ignorierte das alles. Er suchte noch immer nach Isis.

Der DNS -Scanner piepte leise. Das Ergebnis war gleichermaßen ernüchternd wie beunruhigend.

Ra wurde enttäuscht.

»Dispatch, ich habe hier zwar ganz schwache Residualergebnisse – aber nur als ob Isis an dieser Stelle vorbeigelaufen wäre. Das stimmt ja auch. Es gibt aber nichts Konkretes. Keinen Hinweis auf Verletzungen, die eine größere Streuwirkung gehabt hätten. Keinerlei Reste. Nichts. Isis ist fort. Richtig fort.«

»Nichts für die Rekonfiguration?«

Die Frage der Fragen.

Ra seufzte. Er suchte weiter, und er begann sich Sorgen zu machen. Dies war unerwartet. So etwas hatte es in der illustren Geschichte von »Allgemeine Dienstleistungen« noch nicht gegeben. Er bemühte sich um Gelassenheit, um Ruhe in der Stimme, wollte es dem Dispatcher gleichtun. Er war sich jedoch sicher, dass ihm diese Übung gründlich misslang. Isis war die bessere Schauspielerin.

»Nichts«, sagte er schließlich und verbarg die Verzweiflung in seiner Stimme nicht länger. Etwas war ganz gründlich schiefgelaufen, das fühlte er jetzt. Dann hörte er Minarels Stimme. Dass sie sich einmischte, kam selten vor und zeigte, wie verzweifelt die Lage war.

»Ra, schau dich weiter um. Die Sicherheitskräfte übernehmen den Rest. Du suchst ausschließlich nach Isis. Erweitere deinen Suchkreis.«

»Verstanden.«

Ra wandte sich ab, bahnte sich einen Weg durch das Chaos, das nun langsam einer ersten Ordnung wich, einer Ordnung, die ihre tragischen Komponenten hatte. Immer noch blinde Gäste, zusammengesunken auf Stühlen oder dem Fußboden, die Augen von den Händen bedeckt. Sie warteten weinend oder in stummer Verzweiflung darauf, dass sich jemand um sie kümmerte. Andere waren endgültig vom Schock aus der Bahn geworfen worden, lagen dort, wo sie zu Boden gegangen waren, in gnädiger Bewusstlosigkeit. Mehr und mehr medizinisches Personal kam heran, mit Tragen und Medrobotern, und jemand hatte das Kommando übernommen, verteilte Ressourcen, schaffte Zugänge, zeigte eine ordnende Hand, minderte die aufkeimende Panik. Das machte es für Ra auch einfacher.

Er begab sich erneut auf die Suche. Beharrlich und unermüdlich. Aber das erschreckende Gefühl einer bösen Vorahnung wollte nicht weichen.

»Isis, Isis, wo bist du nur?«, murmelte er ganz leise.

Er erhielt keine Antwort.