Sahir McKinnon erhob sich und zeigte auf seinen Platz. Horus folgte der stummen Aufforderung. Er hatte den Dispatcher schön öfters vertreten, wenn dieser sich selbst ein Bild von der Lage machen wollte, und McKinnon fühlte sich innerlich getrieben, sich einer wichtigen Tatsache selbst zu vergewissern. Minarel Tarkin sah ihn an, fragend, aber nicht überrascht. Sie wusste, dass der ältere Mann trotz all der Jahre der Erfahrung und einer unerschütterlichen Ruhe hin und wieder die berühmten Hummeln im Hintern fühlte.
»Wohin?«, fragte sie nur.
»Bei all dem Chaos sollten wir die zentrale Aufgabe nicht vergessen«, gab er zurück.
»Der echte Orbal.« Ihr eigentlicher Schützling, dessen Leben ihnen anvertraut worden war und dessen Wohlergehen in dieser Situation nicht unter den Tisch fallen durfte. Sahir zeigte auf die Schirme, die größtenteils blind waren.
»Fast alle Sensoren und Kameras sind immer noch gestört. Die Verbindung zu Ra läuft auf unserer Spezialfrequenz, aber ich kann den Sicherheitsraum mit dem Prinzipal nicht erreichen. Ich möchte mich lieber vergewissern, dass unsere Rechnung immer noch bezahlt wird.«
Minarel nickte. Das war wichtig. Es war für die Reputation von »Allgemeine Dienstleistungen« sogar überlebenswichtig. So hart es auch klang, die Verletzten im Festsaal waren Kollateralschäden, und das nicht zum ersten Mal in der Geschichte ihrer Organisation. Es ging hier am Ende nur um Orbal III ., wobei dieser einer solch fokussierten Sichtweise natürlich sofort beipflichten würde. Deswegen hatte er das Geld überhaupt auf den Tisch gelegt, zumindest die Anzahlung.
»Ich bleibe bei Horus und halte Kontakt mit Ra«, entschied die Frau. McKinnon konnte dem nur zustimmen. Minarel hatte viele Fähigkeiten, ohne die er in seiner Funktion aufgeschmissen wäre, aber mit flammenden Blastern in gefährliche Situationen zu rennen, dafür wurden die Simipathen und am Ende er selbst bezahlt. Er tat es natürlich nicht gerne. Einer der Gründe, warum er das Militär verlassen hatte, war sein gestiegener Unwille, auf Leute zu schießen, gegen die er im Grunde gar nichts hatte.
Apropos . Er griff in das Halfter unter seiner weit geschnittenen Jacke. Die Plasmapistole saß dort, wo sie hingehörte, und McKinnon wusste ganz genau, wie man damit umging. Aber es war immer gut, sich hin und wieder ihrer Existenz zu versichern.
Er verließ sein Kontrollzentrum. Es war in einem alten Lagerraum untergebracht worden, weitgehend geheim gehalten, und dementsprechend auch nicht bewacht, um misstrauische Blicke gar nicht erst anzuziehen. Hier unten, in den Katakomben des Palasts, war wenig von der teuren Pracht der oberen Stockwerke zu sehen. Versorgungsgänge, einige Küchen, Stromgeneratoren, ein Plasmaschildemitter, der den ganzen Palast in ein Osley-Feld hüllen konnte. Dafür war es jetzt zu spät, und es hätte ohnehin nicht viel genützt: Der Angriff kam zweifelsohne von innen.
Hier unten gab es viel Lagerraum, für Ersatzteile, Nahrungsmittel, Güter des täglichen Bedarfs, angelegt in einem strengen Schachbrettmuster mit nummerierten Gängen und Türen. Man konnte sich nicht verirren, wenn man der Zahlen und Buchstaben mächtig war, und Sahir hatte sich jeden möglichen Fluchtweg eingeprägt, denn er war gerne vorbereitet.
Jetzt aber beschlich ihn das unbehagliche Gefühl, dass das diesmal nicht ausreichend sein könnte.
Der Weg zum Fluchtraum des Prinzipals, in dem er sich hoffentlich immer noch plangemäß aufhielt, war nicht weit, keine einhundert Meter. Innerhalb der weitläufigen Palastanlagen ein Katzensprung, und McKinnon war trotz seines etwas fortgeschrittenen Alters in hervorragender physischer Verfassung. Sein leicht joggender Lauf war ein Überbleibsel seiner Zeit beim Militär, eine kraftsparende und vergleichsweise schnelle Methode, um den Körper von A nach B zu bewegen, ohne sich dabei zu verausgaben.
Er begegnete niemandem.
Das war völlig in Ordnung. Als die Alarmsirenen losgegangen waren, musste jeder Bedienstete einen vorgegebenen Bereitschaftsraum aufsuchen. Wer hier unten trotzdem noch rumlief, gehörte entweder zur Leibgarde oder war verdächtig. McKinnon legte eine Hand auf das deutlich sichtbare Abzeichen auf seiner Brust, das ihn zu einem Gardisten machte, um gerade in solchen Situationen nicht verdächtig zu wirken. Er durfte hier sein.
Da, einmal um die Ecke, und schon hatte er das Ziel erreicht. Bis jetzt war alles im grünen Bereich.
Er stand vor der schweren Metalltür, blieb stehen. Hier hätte tatsächlich ein Wachposten vor dem fast unsichtbar in die Wand eingelassenen Zugang stehen sollen. Er war nicht da. McKinnon spürte keine Zuversicht mehr. Das war verdächtig. Die Leibgardisten des Prinzipals gingen nicht mal eben aufs Klo. Sie blieben auf ihrem Posten, egal, was geschah, darauf waren sie konditioniert. Sie waren vielleicht einfallslos, aber auch ausgesprochen zuverlässig.
Nicht gut.
McKinnon legte seine Hand auf eine bestimmte Stelle an der Wand. Ein bislang nicht erkennbares Lichtfeld flammte auf, hatte ihn identifiziert. Er war berechtigt. Das Lichtfeld zeigte an, dass die Verbindung zum Raum hergestellt war, fest verdrahtet, ganz bestimmt nicht gestört. Er sprach in das Feld hinein.
»Exzellenz, hier ist McKinnon von AD . Bitte lassen Sie mich rein. Ich möchte mich vergewissern, dass es Ihnen gut geht.«
Nichts geschah. Orbal III . war da drin nicht allein. Zwei Leibdiener hatten ihn begleitet. Zumindest einer von denen sollte seinen Ruf beantworten. Aber niemand regte sich. Der Dispatcher aktivierte die Spezialfrequenz.
»Minarel. Es ist hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Orbal reagiert nicht.«
»Geh rein.«
»Du weißt, dass wir offiziell keine Zugangsdaten für diesen Raum haben.«
»Dann geh inoffiziell rein. Wir ziehen es nachher von unserer Rechnung ab, wenn er sich beschwert.«
Da war Minarel Tarkin pragmatisch, ganz wie ihr Vater. Das mochte McKinnon an ihr.
Er machte es also inoffiziell, denn auch darauf war Sahir McKinnon vorbereitet. Die unbedruckte und halb durchsichtige Zugangskarte, die er nun aus seiner Jackentasche zog, war dermaßen illegal, dass selbst ein mehrfach verurteilter Sträfling bei ihrem Anblick blass geworden wäre. McKinnon wurde nicht blass, das hatte er sich bei Landemanövern auf Athir-Stützpunkten während des Krieges abgewöhnt. Für ihn galt der alte Leitspruch »Skrupel erst nachher«. Am besten, wenn er in der Nähe seiner Whisky-Sammlung war.
Die Tür öffnete sich, als er die Karte gegen die Wand in das Lichtfeld presste. Ein zustimmender Signalton erklang. McKinnon trat nicht sofort ein, und das war eine gute Idee. Er wäre sonst mit einem Fuß direkt auf den Leib eines Dieners getreten, der mit ausgebreiteten Armen direkt vor der Tür lag, offenbar in dem Bemühen, es noch raus zu schaffen. Das war ihm definitiv nicht gelungen.
Der Mann war tot. McKinnon musste sich gar nicht herunterbeugen, um das zu erkennen. Er stieg über den Leib, orientierte sich. Nur Notbeleuchtung, alles etwas schummrig. Der zweite Diener war nirgends zu sehen. Es sah nicht gut aus.
Das galt leider auch für Orbal III . Der lag ebenfalls auf dem Boden, scheinbar unverletzt. McKinnon konnte man damit nicht täuschen. Er erblickte die kleine Nadel im Hals des Prinzipals, und ein Verdacht stieg in ihm auf. Der charakteristische rötliche Farbkranz um die Stichstelle erinnerte ihn an etwas. An etwas, dessen er sich nicht gerne entsann. Er musste es prüfen. Ganz automatisch zog er sich Handschuhe über, beugte sich auf ein Knie nieder, streckte die Rechte aus, berührte mit sanftem Druck den Wangenknochen des blass und starr Daliegenden.
Er hatte es geahnt.
Der Wangenknochen leistete ihm kaum Widerstand, sank in den Kopf hinein. Hastig zog McKinnon seine Hand zurück. Würde er weitere scheinbar solide Bereiche des Toten berühren, würde sich Orbals Leiche in einen blutigen Matsch verwandeln. Die Nadel hatte ein Gift enthalten, nicht unähnlich den Verdauungssäften mancher Spinnenarten, die diese in ihre Beute injizierten, sodass diese sich innerlich auflöste und von der Spinne genüsslich ausgelutscht werden konnte. Orbal sah, von der Delle in seinem Gesicht einmal abgesehen, sehr solide aus, aber spätestens, wenn das medizinische Personal ihn vom Boden aufheben wollte, würde er innerlich zerlaufen, nur noch zusammengehalten durch seine körperliche Hülle, seine Haut. Die Präparatoren für die Mumifizierung hatten einen Haufen Arbeit vor sich. Auspumpen und neu ausfüllen dürfte die einzige realistische Vorgehensweise sein.
Immerhin, ein schneller Tod. Das Gift paralysierte sofort, und es dauerte nur wenige Sekunden, bis der Getroffene das Bewusstsein verlor. Orbal sah auch beinahe friedlich aus. Das war allerdings nur ein schwacher Trost.
Sie hatten versagt. Auf ganzer Linie. Eine Katastrophe.
»Minarel, hier habe ich einen toten Diener und einen mausetoten Orbal. Ich vermute, beide sind in den Genuss eines modernen Saftvirus gekommen.« McKinnon warf einen Blick auf den Diener, und ja, da ragte auch aus dessen Hals die erwartete dünne Nadel. »Verständige die Sicherheitszentrale und warne sie vor dem, was sie vorfinden werden.«
»Der zweite Diener? Orbal hatte zwei vor Ort!«
»Er ist nicht da. Wir wissen beide, was das bedeutet.«
Oder zumindest, was wahrscheinlich passiert war. McKinnon wollte nicht zu voreilig sein, aber für ihn stellte es sich so dar: Die Verbreitung der aufrührerischen Ideen der Revolutionäre innerhalb der Mauern des Palastes war weiter fortgeschritten, als selbst die pessimistischen Berichte der Dienste hatten vorhersagen können. Die Attentäter hatten davon Wind bekommen, dass »Allgemeine Dienstleistungen« involviert war – und sie waren darauf vorbereitet gewesen. Nicht nur ihr Anschlag war erfolgreich, sie hatten aus irgendeinem Grunde auch den Doppelgänger auf eine Weise ausgeschaltet, dass er keine Spuren hinterließ. McKinnon wollte nicht glauben, dass Isis wirklich tot war – denn es gab so gut wie keine Möglichkeit, das zu bewerkstelligen. Aber aus irgendeinem Grunde hatten sich die Attentäter diese besondere Mühe gemacht. McKinnon fand, dass das der Kern des Rätsels war.
Die eigentliche und sehr schmerzhafte Konsequenz aber war diese: Ihre Rechnung würde nun nicht mehr beglichen werden. Wenn »Allgemeine Dienste« daran scheiterte, einen Schutzbefohlenen am Leben zu erhalten, griff eine entsprechende Vertragsklausel. Jede Aufwendung ging auf Geschäftsführungskosten, und das würde Minarel noch weniger erfreuen als die Tatsache, dass Orbal III . unter ihrer Wacht zu Matsch geworden war. Und es würde weitere Konsequenzen geben. Nach so einem Reinfall stand der Ruf der Firma auf dem Spiel.
»Komm zu uns zurück. Ra hat nichts gefunden, und die Sensoren und Kameras springen wieder an. Wir müssen uns besprechen.«
»Hier ist gleich die Hölle los. Du weißt, was jetzt passieren wird.«
»Dann schlage ich vor, dass wir uns am Raumhafen treffen.«
Es bedurfte keiner weiteren Worte. Der Zorn der Getreuen des toten Prinzipals würde sich nicht nur auf die Attentäter richten, sondern auch gegen jene, denen es trotz aller vollmundigen Versicherungen und großzügiger Vorschüsse nicht gelungen war, den Tod Orbals zu verhindern. So, wie die politische Lage in der Prinzipalität war, konnte das unangenehme Konsequenzen haben, denn einen Sündenbock nahm man sich immer sehr gerne vor, vor allem dann, wenn man dringend einen benötigte.
Sie mussten verschwinden. Ohne Isis. Das tat weh, denn derlei war noch nie passiert.
Als sich McKinnon auf den Weg machte, hatte er ein ganz schlechtes Gefühl.