Das Hauptquartier von »Allgemeine Dienstleistungen« war ein relativ unscheinbares, dreistöckiges Gebäude im feinsten Geschäftsviertel der Hauptstadt von Cabal, originellerweise mit Namen Cabal-City. Viele andere Unternehmen mit weniger Umsatz gönnten sich größere Bauten, aber in diesem Falle war es nicht notwendig, etwas zu repräsentieren. Tatsächlich gab es weder Schriftzüge noch andere Hinweise darauf, wer genau in dem schmucklosen Gebäude residierte. Man konnte leicht daran vorbeilaufen, die Augen glitten an der nichtssagenden und unauffälligen Architektur ab, wie Wasser eine Fensterscheibe hinabperlte. Das war natürlich Absicht. Simipath Inc. bedurfte keiner außergewöhnlichen Aufmerksamkeit. Diskretion, das Leben im Schatten, die verborgene Präsenz ganz am Rande des Sichtfelds – das gehörte alles zum Markenkern des Unternehmens.
Ob das aber immer noch so war?
Im Inneren gab es dezenten Luxus, viel teure Technik und nicht besonders viele Mitarbeiter: Die Firma beschäftigte knapp zwei Dutzend handverlesene Angestellte, viele davon vor allem mit Rechercheaufgaben, Geldanlagen, Wartung und allgemeinen Sicherheitsfragen betraut. Die wenigsten wurden in die genaue Natur anstehender Missionen eingeweiht. Angesichts dieser Vorsichtsmaßnahmen war die Entführung von Isis besonders bemerkenswert. Bemerkenswert … und sehr beunruhigend.
Das Gebäude enthielt neben einem Verwaltungstrakt im Erdgeschoss und einigen Büros und Technikräumen im zweiten Stockwerk in der obersten Etage mehrere großzügig geschnittene Wohnräume, vor allem für die vier Simipathen, deren Privatleben außerhalb ihrer Existenz für die Firma gewissen Begrenzungen unterlag. Sie waren keine Gefangenen, außer vielleicht durch die Umstände. Da sie jede Identität annehmen konnten, die sie wollten, hatten sie sich auch eine private Persona geschaffen, zu der sie vorzugsweise griffen, wenn sie gerade niemand anderen zu simulieren hatten. In dieser waren sie auch als Bürger registriert, ihre wahre Identität blieb unbekannt. Dank dieser Tarnidentitäten konnten sie ungestört in der Stadt herumlaufen, in ein Café einkehren, einkaufen gehen oder ins Theater, falls ihnen danach war. Allerdings hatten sich die Simipathen als wenig empfänglich für die Zerstreuungsangebote »normaler« Lebewesen erwiesen. Sie waren alle sehr fokussiert auf das, was sie als ihre Aufgabe ansahen, und gaben ihr eigenes keinesfalls unbeträchtliches Vermögen vor allem für Bildung aus. Dennoch pflegten sie Hobbys, persönliche Leidenschaften und Interessen – und sie verfügten über die Mittel, diesen immer dann nachzugehen, wenn die Zeit dafür vorhanden war. Da zwischen Missionen durchaus einige Wochen vergehen konnten, war das öfter der Fall, als man denken mochte.
Aber immer sehr viel Bildung, das vereinte sie alle. Die Tatsache, dass die Simipathen beinahe über ein fotografisches Gedächtnis verfügten, half ihnen dabei. Sie verloren bei jedem »Todesfall«, wenn ihre Körper rekonstruiert wurden, einige Aspekte ihrer Erinnerung, wie bei abgestorbenen Gehirnzellen nach mehreren durchzechten Nächten. Das war aber die einzige Einschränkung, die sie für ihre kontinuierlichen Wiedergeburten in Kauf zu nehmen hatten.
Auch Ra lernte sehr, sehr gerne. Es gab Wissensgebiete, die ihn besonders ansprachen. Altägyptische Gottheiten gehörten nicht dazu, das war eine Leidenschaft von Edian Tarkin gewesen und hatte in ihrer Namensgebung resultiert. Ra war ein schöner Name, hatte einen gleichermaßen poetischen wie subtil aggressiven Unterton, er war absolut zufrieden damit. Es war auch schmeichelhaft, definitiv der wichtigste Gott der alten Ägypter gewesen zu sein – und die personifizierte Sonne dazu. Ra war aber nicht eitel, er bildete sich nichts darauf ein. Als Simipath war für ihn Eitelkeit potenziell fatal: Wer jede Gestalt annehmen, jede Stimme simulieren und jede Person in jeder Position ersetzen konnte, für den war Eitelkeit ein dunkler Weg in den Abgrund. In seiner Einschätzung waren Simipathen die bescheidensten Lebewesen der bekannten Galaxis – und er wusste, dass diese Meinung bereits wieder ihre ganz eigene Art von Eitelkeit beinhaltete.
Ra lernte. Er interessierte sich für scheinbar gegensätzliche Dinge. Astrophysik fand er faszinierend, da auch er, wie viele Intelligenzen, dem Ruf der Sterne erlegen war. Er hatte sich intensiv mit Finanzwirtschaft befasst und fungierte manchmal ein wenig als Anlageberater für seine Kollegen. Alle Arten von Musik beschäftigten ihn, er hatte sogar damit begonnen, die Zither zu spielen. Mithilfe absoluter Körperbeherrschung und unglaublichem Gedächtnis waren seine Fortschritte auf dem Instrument beachtlich gewesen. Musik kitzelte seine Seele, von der er zumindest annahm, dass er sie besaß. Darin war er, wie Minarel gerne bemerkte, sehr menschlich. So vertrieb er sich die Zeit.
Es war spät, und die Lichter der Konsolen waren das Einzige, was das technische Zentrum des HQ erleuchtete. Ra meldete sich immer regelmäßig für die Nachtschicht, allein schon deswegen, weil er wie alle Simipathen nur ein sehr begrenztes Schlafbedürfnis hatte. Die Entführung von Isis erfüllte ihn ohnehin mit einer quälenden Energie, ständig die Frage aufwerfend, was wohl passiert sein mochte. Mit seinen Fingerspitzen auf der holografischen Tastatur standen ihm alle Nachrichtenkanäle der Firma zur Verfügung, und das war schon nahe an dem, was ein mittlerer Geheimdienst zustande brachte. Jetzt, zwei Tage nach ihrer Rückkehr, hätten die vielen Fühler, die sie in alle Richtungen ausgestreckt hatten, eigentlich ein Ergebnis bringen müssen. Die Fühler waren immerhin alle hochqualifiziert und wurden königlich bezahlt.
Ra überprüfte die aktuellen Berichte, die Rückmeldungen von Anwälten, Detektiven, von halb öffentlichen bis zu klammheimlichen Datenbanken, jenen, die normalerweise von Personen genutzt wurden, die illegale Projekte betrieben oder auf der Suche nach jenen waren, die so etwas vorhatten. Er las einen Bericht von Zorth, der sehr gründlich war und zugleich einen sanften Unterton von Schadenfreude enthielt. Und das Erschreckende, das ihn mit jeder Stunde vor der Konsole mehr und mehr mit einem stillen Grauen erfüllte, war die völlige Abwesenheit von Informationen, die sie in dieser Sache weiterbrachten. Irgendwo da draußen war ein schwarzes Loch, das alle Indizien, Hinweise und selbst Gerüchte aufzusaugen schien, sodass nicht ein Quäntchen Information bei ihnen ankam. Ra ging davon aus, dass alle, die ihr Geld nahmen – und sie ließen darin nicht nach! – ihr Bestes gaben. Es waren verlässliche Leute, erprobt und vertrauenswürdig, auf deren Kooperation sich »Allgemeine Dienstleistungen« schon lange verließ.
Es kam nichts. Es war einigen ihrer Informanten sogar peinlich, da sie es selbst merkten. Sie entschuldigten sich, mitunter wortreich. Es war aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ihre Schuld, ihnen aber trotzdem unangenehm, dass sie trotz aller ehrlichen Bemühungen so gar nichts vorzuweisen hatten. Einige boten an, ihre Tätigkeit einzustellen, weil es ihnen sinnlos erschien weiterzumachen. Minarel hatte bisher keines dieser Angebote angenommen.
Fünf Tage waren seit Minarels Rückkehr vergangen, Tage hektischer, aber zielgerichteter Aktivität. Und da die Intensität ihrer Bemühungen auch davon abhing, wie sie jene behandelte, die ihr halfen, würde sie alle Rechnungen begleichen. Das war ihr unumstößlicher Grundsatz.
»Die Frage, die sich jetzt stellt, ist doch: Machen wir weiter, oder schalten wir alles auf Stopp?«
Ra wandte sich um, lächelte. Er hatte Lania kommen gehört, sie hatte keinen leichten Schritt. Mit ihren fast zwei Metern und einem schweren Knochenbau, der evolutionär der recht hohen Schwerkraft ihrer Heimatwelt angepasst war, gehörte sie nicht zu jenen, die sich leicht irgendwo anschlichen. Als Pilotin war das kein Problem, im Zweifel übersah man ihr Schiff ohnehin nicht, aber für Überraschungsauftritte war sie eher nicht qualifiziert.
Lania setzte sich in einen freien Sessel und lächelte Ra an. Dieser hatte von seinen Standardpersonas jene gewählt, die ihr am besten gefiel, die eines Mannes mit dunkelbrauner Haut, einem Körper, der gleichermaßen Kraft wie Eleganz ausstrahlte, jemandem, der einem Mann ihrer eigenen Spezies ähnelte, sich aber auch genug davon unterschied, um auf eine exotische Weise attraktiv zu wirken.
Sie beide verband mehr als nur Kollegialität, weniger aber als eine richtige Beziehung. Es hatte eine Zeit gegeben, da sie sehr neugierig darauf gewesen war, was ein Simipath aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten im Bett anstellen konnte, und Ra war sehr bereit gewesen, sein diesbezügliches Lerninteresse in der Praxis zu untermauern. Er hatte es als außergewöhnlich angenehm empfunden, obgleich Simipathen nicht wie andere Lebewesen sexuell erregt werden konnten. Ein gemeinsames Erlebnis, auf Wochen ausgedehnt, das ihnen beiden ein spezielles Verhältnis zueinander erlaubte. Zwischen ihnen herrschte ein Vertrauen, das ihnen Offenheit in allen Dingen erlaubte. Lania sprach schon freiheraus mit allen, hatte aber auch einen klaren Sinn für Hierarchie und würde manches niemals mit Minarel oder dem Dispatcher diskutieren.
Bei Ra war das anders. Er mochte es so. Sie gewiss auch.
»Minarels finanzielle Reserven sind groß«, sagte Ra. »Sie kann es eine Weile aushalten, auch wenn wir uns bedeckt halten. Nicht ewig, aber eine Weile. Aber ich denke mal, sie wird jetzt nicht den Betrieb einstellen. Das wäre eine Kapitulation, so tickt sie nicht.«
»Ich habe nichts dagegen, die Däumchen zu drehen. Aber ich weiß auch, wie das Geschäft läuft. Ein paar Tage, vielleicht ein paar Wochen hält die Kundschaft still, denn man hat ja Verständnis. Dann überwiegen die eigenen Interessen, und man hält nach Alternativen Ausschau.«
»Zu uns gibt es keine Alternativen.«
»Es gibt immer welche. Sie sind oft weniger perfekt, manchmal teurer und schwieriger zu organisieren, alles in allem vielleicht nur die zweitbeste Lösung. Aber wem die Zeit auf den Nägeln brennt, wer sich bedroht fühlt oder wer ein wichtiges Event plant, für den wird die zweitbeste Alternative schnell zur besten, vor allem, wenn Minarel sich zu lange zurückhält.«
Ra wusste, dass ihm Lanias Antwort nicht passte, und er erkannte sofort, warum das so war: Er sah nämlich ein, dass sie absolut recht hatte und der Moment kommen musste, da Isis’ Verschwinden nicht mehr Platz eins auf der Prioritätenliste einnahm. Und vor diesem Moment scheute er instinktiv zurück. Denn er war dafür nicht bereit. Und er wusste, dass Minarel das auch noch nicht war. Lania hatte schon immer diese besonders pragmatische Ader gehabt. Das war mitunter anstrengend.
»Wir müssen Isis finden«, sagte er also trotzig. Die Pilotin machte nicht den Fehler, seine Gefühle zu kritisieren, aber ihr Nicken war keine eindeutige Zustimmung, nur eine Kenntnisnahme seiner aktuellen Haltung.
»Natürlich müssen wir das. Aber wo fangen wir an? Wir haben jedes Raumschiff nachverfolgt, das seitdem die Prinzipalität verlassen hat, und es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass sich jemand an Bord befand, der sich dort nicht hatte aufhalten sollen. Oder glaubst du, jemand hat Isis gezwungen, die äußere Form eines anderen Passagiers anzunehmen?«
Das war ein Gedanke, der auch Ra schon beschäftigt hatte.
»Unmöglich ist das nicht. Isis ist kein herzloser Roboter. Übt man den richtigen psychischen Druck aus, könnte man sie zu etwas zwingen. Die Entführer waren hervorragend vorbereitet, das haben wir ja mittlerweile festgestellt. Warum sollen wir annehmen, dass sie sich nicht auch dafür bereits den richtigen Hebel bereitgelegt hatten?« Ra sprach den Gedanken mit großem Vorbehalt aus. Die Aussicht, dass die Simipathen zu irgendwas erpresst werden konnten, das sie nicht tun wollten, gehörte zu ihren großen potenziellen Schwachstellen, ein Thema, das im engsten Kreise schon mehrmals diskutiert worden war.
Es hatte Aufträge gegeben, die man deswegen nicht angenommen hatte, auch wenn sie sehr lukrativ gewesen waren. Die Simipathen, quasi als die Kinder von Edian Tarkin und Bera Sansa aufgewachsen, waren nicht ohne Moral und Ethik. Das machte sie auf angenehme Weise menschlich – und auf menschliche Weise angreifbar. Und dann waren da noch individuelle Schwächen. Ra wusste, dass er welche hatte.
»Tatsache ist, dass wir uns nicht ewig verstecken können. Es gibt auch im normalen Geschäft Neuigkeiten. Ich habe gehört, dass Amanda Ariovista sich gemeldet hat«, sagte die Pilotin.
Ra sah sie überrascht an. Jeder kannte Amanda Ariovista. Sie war eine der führenden Sängerinnen im Status, eine Frau mit einer begnadeten Stimme und, wie man einschlägigen Berichten jederzeit entnehmen konnte, ganz schlechten Angewohnheiten. Zwei verschmähte Liebhaber, die sie Gerüchten zufolge finanziell ruiniert hatte, waren bereits rechtzeitig dabei ertappt worden, ihr Gewalt antun zu wollen. Ariovista war als Geschäftsfrau so ruchlos, wie ihr Gesang bezaubernd war, und es gab Leute in den Medien, die nichts anderes taten, als wöchentlich die Liste ihrer Feinde und Neider zu aktualisieren. Wenn sie sich nun bei »AD « meldete, dann wies das darauf hin, dass ihre persönliche Situation ein sehr bedrohliches Ausmaß angenommen hatte.
Unter normalen Bedingungen wäre dies nicht nur hochinteressant und faszinierend gewesen, sondern hätte auch die freudige Aussicht auf reiche Belohnung mit sich gebracht. Und ja, Ra war interessiert. Eine interstellar berühmte Sängerin hatte er noch nicht gegeben. Das Singen würde die größte Herausforderung sein. Im Zweifel war es nicht nötig, aber man konnte ja nie wissen. Das Wichtigste aber – vor allem für Minarel – war die Tatsache, dass die Frau dermaßen stinkreich war, dass sich um ihre Konten das Raum-Zeit-Kontinuum krümmte. Das machte sie für eine ebenso tüchtige Geschäftsfrau wie die Chefin von Simipath Inc. sehr attraktiv.
»Minarel wird sie nicht lange hinhalten können«, mutmaßte Ra.
»Das wird sie wahrscheinlich gar nicht wollen. Wir brauchen Geld, jetzt mehr denn je. Die Anwälte der Prinzipalität haben bereits Schadensersatzklagen angekündigt. Das ist albern, aber es kann sehr teuer werden. Wir sind einmalig. Was wir anbieten, bietet niemand sonst an. Und Ariovista dürfte alle anderen Optionen schon durchhaben.« Lania lächelte. »Glaub mir. Wir suchen weiter nach Isis und werden alles tun, was nötig ist. Aber Minarel wird eine solche Gelegenheit nicht verstreichen lassen.«