Kapitel 8

Die dumpfen Klänge der Musik, verbreitet durch eine Vielzahl verborgener Lautsprecher, erschütterten Ra bis ins Mark. Er hielt sich aufrecht, präsentierte den Körper von Amanda Ariovista auf exakt die Weise, die sie eingeübt hatten, ihre Haltung, wie sie ging, manchmal den Kopf neigte, grüßend oder tadelnd, was beides mitunter ineinander überging.

Das hautenge Kleid mit den silbernen Pailletten, das die Sängerin für sich und damit für den transformierten Ra ausgesucht hatte, verhüllte und enthüllte alles gleichzeitig, ein Meisterwerk der Schneiderkunst. Ra hatte schon alles Mögliche getragen, von schweren Körperpanzern bis zu Stringtangas, und er war sich der unterschiedlichen Wirkung von Bekleidung auf Zielgruppen absolut bewusst. Das Kleid war angenehm zu tragen, spannte zwar, aber nicht auf unangenehme Weise, und der extrem flexible und dehnbare Stoff schränkte seine Bewegungsfreiheit absolut nicht ein.

Unter dem Kleid trug er die extrem dünne und ebenso flexible Micron-Hautrüstung, eines von drei Exemplaren, die Minarel einst für eine unbeschreibliche Summe von einem Lieferanten bezogen hatte, der normalerweise nur die Torgarde belieferte. Dass Simipath Inc. dereinst die Tochter des Lieferanten aus den Händen von Kidnappern befreit hatte, war sowohl für die Firma wie für die Tochter ein Glücksfall gewesen.

Tonwechsel. Rhythmuswechsel. So vielseitig, wie Ariovistas Darbietungen waren, zeigte sich auch der DJ der Party. Tanzmusik, traditionell und vorhersehbar, wechselte mit Schwermut, langen, getragenen Tönen, die sich wie Gummi durch die Gehörgänge zogen. Vokalmusik und Instrumentalmusik wurden völlig gleichberechtigt behandelt. Die Genres spielten keine Rolle. Eine alte Arie, dann ein moderner Superhit, in beidem unverkennbar, charakteristisch in Timbre und Spannweite, die Stimme von Amanda Ariovista, die die Musik, die Zuhörer und die gesamte Atmosphäre manipulierte.

Ra war beeindruckt. Er hatte sich mit dem Werk der Sängerin befasst. Er mochte nicht alles davon. Aber er hatte vieles gefunden, das in ihm nachklang. Es war wie ein tonaler Virus, der sich in den Köpfen der Zuhörer festsetzte. Das machte ihren beispiellosen Erfolg aus.

Das Micron zwickte etwas, wenn er bestimmte Bewegungen machte.

Ra fühlte sich dennoch damit sicherer. Man musste die vollständige Desintegration ja nicht heraufbeschwören, und McKinnon hatte fürsorgliche, fast väterliche Mühe an den Tag gelegt. Die Micron würde fast jede Form kinetischer Energie und eine Reihe von Angriffen energetischer Natur abhalten, außer man schoss der Sängerin direkt ins Gesicht. Da Ra auch ohne Kopf problemlos weiterexistieren konnte, wenn man ihn aufsammelte und ihm Gelegenheit zur Rekonfiguration gab, machte er sich deswegen keine allzu großen Sorgen. Es wäre allerdings schade um das schöne Gesicht. Er hatte schließlich besonders viel Zeit damit verbracht, die wunderbaren Züge von Amanda Ariovista nachzubilden, und war sehr stolz auf das Ergebnis. Ja, er sah wirklich verdammt gut aus!

Und es zeigte Wirkung. Manche Blicke waren verstohlen. Andere zogen ihn geradezu aus. Beides registrierte er mit dem Maß an Eitelkeit, das er sich in Situationen wie dieser erlaubte. Er wusste nicht, wie Ariovista sich dabei fühlte, wenn ihre Fans sie ansahen, als würde sie ihnen gehören. Als hätten sie sich durch ihre Verehrung ein Recht auf einen Teil ihres Körpers und ihrer Persönlichkeit erworben. Klar war, dass es diese Art von Anhängern war, die Ariovista Angst einjagte. Und das hatte dazu geführt, dass nun Ra hier durch den Club ging und die besitzergreifenden Blicke ertrug.

Drei ineinander übergehende und über an den Wänden entlanglaufende Galerien zugängliche Stockwerke hatte das »Vonka Vonka«, das größte Etablissement seiner Art in Hanror, der Hauptstadt des Blauen Gouverneurats. Der Flug von Cabal hierher hatte nicht lange gedauert, das Gouverneurat war eine Nachbarentität, klein, brutal reich, eine Stätte dekadenter Vergnügungen und heimlicher Geschäfte und vor allem sehr niedriger Steuern. Der Sternenstaat umfasste nur die Hauptwelt und zwei besiedelte Monde, aber diese hatten es in sich.

Hanror mit seinen fast zwanzig Millionen Einwohnern mochte für die Verhältnisse des Status eine kleine Metropole sein – aber wenn zwanzig Millionen Partygänger an einem Ort zusammenkamen, oft gelangweilt und mit zu viel Geld in den Händen, dann konnte einiges passieren. Tatsächlich passierte dauernd etwas. Intensiv beobachtet von sehr interessierten Medien, die wie Blutegel jeden schillernden Tropfen aus den Lebensadern der Bars und Clubs zur weiteren Verwertung absaugten; weniger intensiv beobachtet von den Sicherheitskräften, die genau wussten, wodurch, zumindest indirekt, ihre Gehälter finanziert wurden.

Darin waren sie sich mit Ra durchaus einig.

Niemand mochte die Blauen besonders. Während in den anderen Teilen des Status die Wirtschaftskrise nach dem Ende des Krieges gegen die Athir beharrlich um sich griff und ganze Gesellschaften in die Armut zu stürzen drohte, ging es hier allen viel zu gut. Der ideale Ort für Amanda Ariovista, die exakt davon lebte, dass es Leute gab, die sich eine Sängerin wie sie leisten konnten.

Das Konzert war tatsächlich brillant gewesen. Ra hatte zugehört, als die echte Amanda aufgetreten war. Es gab nichts an ihrem Charakter, ihrer Gier oder ihrer Exzentrik, das auch nur den Hauch eines Zweifels daran ließ, dass Amanda Ariovistas Stimme ein Geschenk übernatürlicher Mächte war, um die Herzen aller Zuhörer zu berühren. Ra hatte kein organisches Herz – außer er baute sich eines –, aber sein metaphorisches Herz war in der Tat ebenfalls berührt worden. Er konnte die perfekte Kopie dieser Frau werden, bis hin zu ihrer Stimme, soweit es normale Gespräche betraf – aber niemals würde er so singen können. Wenn er dazu gezwungen würde, wäre dies gleichbedeutend mit seiner sofortigen Enttarnung. Es gab darin etwas, was nicht technisch war, mehr als nur die Vibration von Stimmbändern, sondern eine Art göttlicher Funken. Obgleich Ra keine besonders esoterischen Vorstellungen von der Natur des Universums hatte, akzeptierte er diese Idee vorbehaltlos. Es gab Dinge, die konnte man nicht nachmachen, und Amanda Ariovistas Gesang gehörte zweifelsohne dazu.

Zum Glück gab Amanda auf ihren After-Show-Partys niemals informelle Zugaben, da verfolgte sie einen strikten Kodex: Wer ihr zuhören wollte, kaufte ein Ticket und stellte sich an, bei den Logenplätzen oder im Parkett. Arbeit war Arbeit. Party war Party.

Und für Ra war heute Abend die Party die Arbeit.

»Ein Drink?«, fragte ihn ihr Agent. Solomon Salamander hieß natürlich nicht wirklich so, trug aber den zum Namen passenden Anzug mit gelben Punkten auf samtschwarzer Seide. Es hieß, er habe lange nach einer schönen Alliteration gesucht, um zu seiner Klientin zu passen, und Ra wunderte sich hier über gar nichts mehr. Immerhin, der Mann war eingeweiht: Er wusste, dass Amanda Ra war und fand das alles irgendwie aufregend. Jedenfalls schaute er Ra dauernd auf den Hintern. Aber vielleicht tat er das sowieso immer.

Er war formal Amandas Agent, de facto aber ihr Laufbursche. Es frustrierte ihn, das hatte die Sängerin im Briefing offen zugegeben. Aber er hing wie eine Klette an ihr, da ihre Konten den Nektar bereithielten, an dem er sich labte. Ra wusste aus Erfahrung, dass Menschen zu verschiedenen Stadien der Selbsterniedrigung imstande waren, und Solomon Salamander hatte sich in seinem gut eingerichtet.

In seinen Händen trug er zwei Cocktailgläser mit einer goldgelb schimmernden Flüssigkeit. Amandas Lieblingsgift: Rubi-Hauchlikör, eine Flasche so teuer wie ein neuer Gleiter der Oberklasse. Ra vertrug einiges, wenn er seinen Metabolismus darauf einstellte. Er nahm das Glas, weil das von Amanda erwartet wurde, lächelte Solomon herablassend an, weil auch das von ihr erwartet wurde, nahm nur einen Schluck, um das Vermögen im Cocktailglas dann achtlos irgendwo abzustellen – weil auch das von ihr erwartet wurde. Er schmeckte den Likör, fand, dass er überschätzt wurde. Mehr Schein als Sein, wie so ziemlich alles hier.

Ra gefiel die Rolle. Er ermahnte sich. Spaß führte zu Unaufmerksamkeit. Das war unprofessionell.

»Du warst wundervoll heute!«, schwärmte Solomon. Er spielte seine Rolle gut, obwohl er wusste, dass die Schleimerei verschwendet war. Da aber viele zuschauten und zuhörten, musste er der gleiche Widerling wie sonst sein.

»Danke, Solly!« So nannte Amanda ihn, und er hasste es. Deswegen ließ sie nie davon ab. Diesmal aber war es nicht so gemeint, und der Agent akzeptierte die Verniedlichung in aller Gelassenheit. Er hob sein eigenes Glas mit seinem weitaus weniger exotischen, dafür aber stärkeren Inhalt. Salamander, so hatte Ra erfahren, hing an der Flasche und verbrachte die jährliche Sommerfrische mit einer Entgiftungstherapie, um danach fröhlich weitersaufen zu können. Es schien es ihm wert zu sein.

»Oh, die Konk!«, sagte Solomon, als er an Ra vorbeischaute. Er drehte sich fast unvermittelt um und verschwand in der Menge.

»Tolle Party!« Erfhira Konk kam auf sie zu, unsicher auf den beiden Beinen, sodass sie das dritte Stützbein aus ihrer breiten Hüfte ausgeschwenkt hatte. Die Tolroderin war die Präsidentin des Ariovista-Fanclubs. Ra war gebrieft worden. Erfhira mochte die Musik überhaupt nicht, aber sie schätzte die Partys und die Tatsache, dass sie als Präsidentin Macht hatte, weil sie den Zugang zum Objekt der kollektiven Begeisterung verwaltete. Sie war die Torwächterin für Autogramme, die begehrten »Meet and Greet«-Events vor und nach den Konzerten, die After-Show-Partys. Da sie sehr gut darin war und ganz im Sinne Amandas handelte, behielt sie ihre Position, auch wenn sie diese Festivitäten meist dazu nutzte, sich sinnlos zu betrinken. Das schien hier eine Art Muster zu sein. »Gaanz tolle Party. Du warst auch toll, Amanda. Gaaaanz toll. Upps!«

Wie aus dem Nichts kommend stand Solomon plötzlich wieder neben ihnen, streckte einen Arm aus und half Konk dabei, das Gleichgewicht zu behalten. Nachdem er Amanda wissend zugenickt hatte, führte er die Präsidentin zur Seite, wahrscheinlich, um sie mit einem weiteren Drink von Ra abzulenken. Er war gut. Ein Schleimer und weitgehend bedeutungslos, aber er wusste, was er zu tun hatte. Ra bedauerte ihn.

Er sah sich um. Es war voll. Zweihundert Gäste waren da, knapp unter der Kapazität des Etablissements. Die Lichter zuckten zum aktuellen Beat. Viele tanzten jetzt, andere schrien sich über den Lärm der Musik an. Etliche saßen melancholisch vor ihren Getränken und schienen über die Sinnlosigkeit ihres Lebens in Gegenwart eines Megasuperstars von Amandas Kaliber nachzudenken. Manche winkten. Winken wurde ignoriert, hatte Amanda Ra eingeschärft. Jede Geste, die als Gunstbeweis fehlinterpretiert werden konnte, war zu vermeiden. Amanda Ariovista verteilte ihre Gaben konzentriert und überlegt, es gab keinen Spielraum für Nachlässigkeit. Alles war ein Geschäft, manchmal mehr, manchmal weniger subtil.

Zunicken war erlaubt. Leute zu erkennen, war wichtig. Mächtige zu sehen mochte ein zentraler Aspekt sein, aber auch die Wesen, die unter einem standen, bedurften zumindest der Wahrnehmung. Es war die Droge, mit der sich die zweihundert Parasiten auf dieser Party aufputschten. »Sie hat mich gesehen!«, »Sie hat mich erkannt!«, und das Allerbeste: »Sie hat sich an mich erinnert.« Nicht Ra dachte so, es waren Amandas eigene Worte gewesen. Aber diese zu verinnerlichen, diente dazu, seine Rolle so perfekt wie möglich zu spielen.

Also nickte er. Er lächelte manchmal. Bisweilen formte er mit dem Mund lautlos einen Namen, ein Zeichen der Erinnerung. Er war die Fotoalben und Aufzeichnungen durchgegangen und hatte ein Kompendium von Gesichtern in seinem Gehirn abgespeichert.

»Alles ruhig, alles normal«, hörte er die Stimme des Dispatchers in seinem Ohr. Ruhig war hier gar nichts. Aber Ra wusste, wie es gemeint war.

»Tisch fünf!«, sagte McKinnon dann, und Ras Augenmerk wanderte langsam und unauffällig in diese Richtung. Er erkannte die beiden Männer sofort, die dort saßen, auch ihr Erscheinungsbild war Teil seines Briefings gewesen. Sie hatten ihre Köpfe über Drinks gebeugt. Man konnte förmlich die dunkle Wolke sehen, die sich über ihnen ausgebreitet hatte, ein starker Kontrast zur allgemeinen Ausgelassenheit und Feierlaune.

Es handelte sich um ehemalige Mitglieder der Showband, die Amanda Ariovista auf ihre interstellaren Konzertreisen mitnahm, nicht schlecht bezahlt, immer gut gekleidet, durchgehend miserabel behandelt. Ihnen Zugang zur Party zu gestatten war ein Ausdruck von Gehässigkeit: Ihr gehört nicht mehr dazu, alle sollen es sehen. Doch sie erschienen trotzdem, denn sie hofften auf die Begegnung mit Produzenten oder Agenten, auf lukrative neue Jobs. Ariovista hatte die Namen der beiden zur »Bedrohungsliste« hinzugefügt, die die Grundlage dieses Auftrags von »Allgemeine Dienstleistungen« war.

Ra glaubte nicht, dass solche Typen zu Gewalttaten neigten. Sie waren seiner Ansicht nach nicht mehr als enttäuschte und verärgerte Musiker, die die Sängerin dafür verantwortlich machten, dass sie nie aus ihrem Schatten heraustreten konnten. Offenbar hatten sie ihre Frustration, im Gegensatz zu Solomon, einmal zu oft in Worte gefasst und daraufhin ihre Stellung verloren. Manche ertrugen halt weniger als andere.

Und außerdem …

»Ich sehe sie«, sagte Ra leise, ohne Bewegung seiner Lippen, direkt in das edle Schmuckstück um seinen Hals, das ein Mikrofon enthielt. Er konnte Laute erzeugen, wo und wann er es für richtig hielt, wenngleich er meistens versuchte, es anatomisch so genau wie möglich nachzuahmen. Es war wichtig, dass das Gesamtbild stimmte. Da sein langer, schöner Hals aber völlig unbedeckt war und sich ein Kehlkopfmikro nicht anbot, musste er über sein Brustbein reden – aber nur dann, wenn niemand zuhören konnte. »Sie gucken nur dumm. Trinken zu viel. Denken darüber nach, wie sie ihren Job zurückbekommen.«

Das entsprach zumindest Amandas Einschätzung. »Eher friert die Hölle zu«, hatte sie hinzugefügt.

»Sei vorsichtig«, ermahnte ihn der Dispatcher.

»Das bin ich doch immer.«

McKinnon murmelte etwas. Es war absichtlich unverständlich, Ra überhörte normalerweise nichts. Der Dispatcher war offenbar nicht ganz davon überzeugt, dass Ra »immer« auf sich aufpasste. Das war nachvollziehbar. Es hatte Einsätze gegeben, da waren die Simipathen etwas zu weit gegangen und hatten sich, ihrer beinahe vollständigen Unzerstörbarkeit eingedenk, in Situationen gebracht, die man besser vermieden hätte. Doch Isis’ Entführung hatte Ra zu denken gegeben. Er wollte nicht der Nächste sein. Er war wirklich vorsichtig. Für seine Verhältnisse geradezu paranoid.

Der DJ änderte einmal mehr die Musik. Wo eben noch harte, markerschütternde Klänge die Leute auf die Tanzfläche gepeitscht hatten, wurden nun Tonfolge und Beleuchtung sanfter, fast schmeichelnd. Der romantische Teil des Abends wurde eingeläutet. Ariovista lagen die Balladen und der Herzschmerz mehr als alles andere, ihre größten Erfolge waren Lieder gewesen, die die ewigen emotionalen Abgründe zwischenwesenlicher Beziehungen erforscht hatten. Dass in diese Richtung nun auch das Musikprogramm des Abends tendierte, war daher nachvollziehbar.

Ra war dankbar dafür. Die Klänge wurden dadurch etwas leiser, und man hörte besser, was sich sonst noch tat. Das Geflacker der Scheinwerfer und Stroboskope wurde auf ein erträgliches, beinahe angenehmes Maß gesenkt.

Auf der Tanzfläche bildeten sich Pärchen. Diejenigen ohne Begleitung oder in steter Hoffnung darauf, dass sich noch etwas ergeben würde, standen entweder am Rand oder tanzten alleine. Nicht alle von ihnen wirkten verloren. Manche tauchten mit geschlossenen Augen in die wunderbaren Klänge ein und vergaßen wohl, wo sie sich aufhielten und wer sie dabei beobachtete. So füllten sich die Tanzflächen langsam wieder, denn jene, die etwas schüchtern waren, fühlten sich nun sicherer.

»Ich navigiere zur Bar, wie besprochen«, gab Ra durch. Amanda Ariovistas Routine bei After-Show-Partys bestand aus einem sehr berechenbaren Ablauf – gefährlich berechenbar, wie McKinnon bemerkt hatte. Amanda bevorzugte den Begriff »Choreografie«.

Ein erster Rundgang, allgemeine Begrüßung, dann eine Stunde an der Bar. Nach Erreichen der Betriebstemperatur zweiter Rundgang, etwas herzlichere, durch Alkohol oder andere Drogen angewärmte Konversation, Rückkehr zur Bar.

Abhängig von der Qualität der Gäste folgte nun das gemeinsame Versacken bis in die Morgenstunde oder der frühzeitige Aufbruch unter Vortäuschung von Kopfschmerzen. Ariovista hatte letztere Vorgehensweise gebucht, und sie würde sie bekommen. Aber jetzt begann erst einmal die erste Schicht an der Theke. Dort wurde Amanda bereits erwartet, ihr Hocker wurde von einem Bediensteten des »Vonka Vonka« warm gehalten, der sich sofort wegbewegte, als sie auf ihn zusteuerte. Choreografie traf es wohl tatsächlich ganz gut.

Der junge Mann hinter der Bar war ein lebendes Kunstwerk. Er trug eine auf den in bunten Farben schillernden Tresen abgestimmte Bekleidung und ein Make-up, das wiederum auf die Kleidung abgestimmt war. Dieser Getränke ausschenkende Paradiesvogel vermochte wahrscheinlich, wenn es ihm zu viel wurde, mit seiner Umgebung so perfekt zu verschmelzen, dass ihn niemand mehr wahrnahm. Seine Haut war voller eingesetzter Edelsteine, die im Licht der wandernden Scheinwerfer funkelten. Beide Ohrmuscheln waren durch ein silberfarbenes Konstrukt entweder ersetzt oder überdeckt worden. Hinter seinem Schädel ragte eine altmodisch aussehende Antenne hervor, die angeklebt oder einoperiert worden war. In letzterem Falle hatte er damit schlechten Empfang: Über dem Club hing ein Dämpfungsfeld, das Live-Übertragungen aufdringlicher Fans und Journalisten verhindern sollte und nur ein kleines Frequenzband für »Allgemeine Dienstleistungen« offenhielt.

»Wie immer, Amanda?«

»Wie immer, Colin.«

Ra bekam ein zweites Mal Rubi-Hauchlikör serviert, diesmal aber behielt er das Glas, um es zu leeren. Es war, alle Nonchalance in Betracht gezogen, Amandas Lieblingsgetränk, und daher sprach sie ihm zu, sobald es an der Zeit war.

Ra nickte wieder in die Runde, bemerkte aber die Blase, die sich um ihn bildete. Die Leute hielten Abstand, weil sie die schlechte Laune von Amanda respektierten, ihre oft ätzende, spöttische Art oder diese spezielle Form des Ignorierens, die dem Ignorierten die Gewissheit vermittelte: Ja, ich weiß, dass du da bist, aber du bist es nicht wert, dass ich das zu erkennen gebe.

Im Verlaufe des Abends, so hatte Ra gelernt, würden die Betrunkenen und die Verzweifelten sich ihr nähern. Die Ersteren, weil sie jede Hemmung weggesoffen hatten, die Letzteren, weil sie so am Ende waren, dass selbst die Erniedrigung, Amanda Ariovista anzubetteln, ihre Existenz nicht unerträglicher machen würde.

Interessant war, dass die Sängerin dann die Bittsteller manchmal erhörte, kleine Hilfen oder eine vorübergehende Gunst verteilte, meist indem sie Solomon anwies, dieses oder jenes für die Erniedrigten zu arrangieren. Es war Teil ihres Images, in dem sie trotz aller Perfektion immer wieder für einen kleinen Bruch sorgte. Es waren ebenjene Brüche, die die Fans so mochten, denn sie erinnerten sie an sich selbst. Es gab dafür einen festen Etat, den Ra einzuhalten hatte, und gewisse Kriterien, nach denen ihre Gunst verteilt wurde. Ra hatte es memoriert und freute sich schon auf die Herausforderung.

Aber das war für später. Die Party hatte gerade erst begonnen. Amanda Ariovista trank Hauchlikör zum Warmwerden, aber für die Wirkung bevorzugte sie härtere Sachen, meistens Ghuru-Schnäpse, die in weniger weit entwickelten Kulturen zum Betreiben von Verbrennungsmotoren genutzt wurden. Ra empfand nichts dabei, als er sich das erste Glas reinschüttete, denn er hatte seinen Metabolismus selbstverständlich so konfiguriert, dass Alkohol keinerlei Wirkung auf ihn hatte. Er würde die Reaktion schauspielern müssen, und Amanda hatte ihm mit allerlei Aufzeichnungen und ganz ohne Scham gezeigt, wie er das zu tun hatte. Sie war eine seltsame Frau. Entsetzlich eitel und selbstbezogen auf der einen Seite, auf der anderen aber dann bereit, sich selbst mit gnadenloser Schärfe zu analysieren und keine scheinbare Erniedrigung auszulassen.

Ra merkte, dass er langsam zum Fan wurde.

»Hm, ich fange da was auf. Energiefluktuationen aus dem Generatorraum im Erdgeschoss«, hörte er McKinnons Stimme in seinen Ohren. Ra trank ein zweites Glas Schnaps, tat so, als würde er es genießen, schloss die Augen, das Gesicht entspannt. In Wirklichkeit lauschte er dem Dispatcher.

»Ich schicke Kameradrohnen in den Raum und alarmiere das Sicherheitspersonal des ›Vonka Vonka‹.«

Ra schaute sich um. Einige der Partygäste berührten plötzlich ihre Ohrläppchen und wirkten für eine Sekunde alles andere als in Feierlaune. Zwei Männer in eher unauffälligen Kostümen erhoben sich scheinbar zwanglos und begaben sich zum Ausgang. Es war so, wie der Dispatcher es gemeldet hatte. Diesmal hatten sie so umfassend Vorsorge betrieben, Ra fühlte sich beinahe sicher.

»Ra, meine Verbindung zum Chef des Sicherheitsdienstes ist gerade abgebrochen.«

Beinahe.

McKinnon klang alarmiert, also musste Ra das ernst nehmen. Als er von seinem Drink hochsah und erkannte, dass der Barkeeper eine bunt bemalte Waffe hinter dem Tresen hervorholte, reagierte er instinktiv. Er sprang mit einem leichten Satz über den Tisch, das rechte Bein vorgestreckt, und traf den Mann mit dem hochhackigen Absatz von Amandas Designerschuh direkt auf der Stirn, ein perfekter, gut gezielter Tritt, den nur ein Lebewesen wie ein Simipath mit perfekter Körperkontrolle durchführen konnte.

Der Barkeeper stürzte wie gefällt zu Boden. Die Waffe schlitterte hinter der Theke entlang. Auf seiner Stirn war ein blutiger, pfenniggroßer Abdruck zu sehen.

Jemand rief etwas. Jemand schrie. Aufregung, Verwirrung, dann brach die Musik ab. Es fiel ein Schuss, aber von wem er abgefeuert worden war, konnte Ra nicht wissen.

»Eindringlinge auf allen drei Galerien«, meldete McKinnon. »Sie versuchten, Blitzbomben zu zünden.«

Versuchten. Auf die Taktik waren sie diesmal vorbereitet. Nicht, dass sie eine Detonation verhindern konnten. Aber alle relevanten Sicherheitskräfte trugen Spezialbrillen, und auch Ras Anatomie war entsprechend darauf eingestellt. Niemand würde sie blenden.

»Ich habe hier etwas, Dispatch.«

Ra hockte hinter dem Tresen, geduckt, und starrte auf ein seltsames Gerät, trapezförmig, das auf vier Beinen stand, mit einer schimmernden Kugel in der Mitte, wie ein Sender. Eine Lampe blinkte. Sie blinkte immer schneller. Ra war kein Techniker, aber er hatte genug gesehen. Wenn das Blinken endete, wurde etwas ausgelöst. War das eine Bombe? Er übermittelte das Bild an McKinnon, und die Antwort kam sofort.

»Paralysator. Begrenzte Reichweite, große Wirkung. Du weißt, was zu tun ist!«

Und schnell musste es getan werden. Eine beliebte Waffe, teuer in der Anschaffung, schmerzhaft, aber nicht tödlich. Der Schauer an biogener Strahlung, die sie auslöste, lähmte fast jedes organische Lebewesen im Umfeld, und besonders in geschlossenen Räumen war sie sehr effektiv. Auch ein Simipath konnte ihr erliegen. Ein vorgewarnter Ra aber nicht. Die Selbstkonfiguration verlief schnell, ein eingeübter Akt, von außen gar nicht erkennbar. Zellstruktur, die Durchlässigkeit osmotischer Prozesse, die Aufnahmefähigkeit von Strahlung, eine zusätzliche Hautschicht, die sich wie ein Hauch feinen Kristalls über ihn legte, von außen kaum von Schweiß zu unterscheiden.

Vielleicht konnte er die Bombe entschärfen. Es war nicht so, dass er das noch nie getan hatte. Ra streckte die Hand aus, berührte den Verschluss, der in das Innere des Geräts führte, und spürte, wie ein intensiver, kalter Schauer über seine Haut rann. Die Bombe hatte nur auf eine Berührung gewartet. Sie wurde ausgelöst.

Er war zu nah. Das waren sie alle. Aber er war darauf vorbereitet. Andere nicht. Körper fielen zu Boden, eine seltsame Stille setzte ein.

»Ra! Bericht!«

»Bin okay!«, sagte der Simipath. »Hat mich nicht erwischt.«

Er hörte Schritte. Er war nicht der Einzige, der sich darauf vorbereitet hatte, und daher gab es nicht allzu viele, die sich ihm jetzt nähern konnten. Dass es sich um die Sicherheitskräfte des »Vonka Vonka« handelte, bezweifelte er. Ra erhob sich, lugte über die Theke. Drei Gestalten, vermummt, in Micron gehüllt wie er, mit dem sanften Schimmer eines individuellen Kraftfeldes, das sie vor der Lähmung bewahrt hatte. Sie stiegen über die am Boden liegenden Gäste, die ohne jede Chance zur Gegenwehr gefällt worden waren. Ihre Brustkörbe bewegten sich aber noch. Es war kein Gemetzel.

»Sahir. Sie haben Fesselfeldwerfer.«

Ra kannte die krakenförmigen Geräte, die zwei der Vermummten bei sich trugen. Damit fing man Raubtiere. Gefährliche Straftäter. Möglicherweise selbst Simipathen. Entweder waren sie hinter Amanda her – oder hinter ihm.

»Setz dich ab, Ra.«

»Ich versuche es.«

Er bewegte sich. Ra war schnell, schneller, als Amanda Ariovistas eigener Körper es hergäbe. Es gab hinter der Theke eine Tür, die steuerte er an. Die Angreifer reagierten. Das charakteristische »Flupp!« eines geworfenen Fesselfeldes, dessen energetisches Netz sich über die Theke warf, sich in Gläsern und Flaschen verfing, weder Ra noch den Boden berührte, weil es zu früh abgefeuert worden war. Kein Grund zur Freude. Die Werfer hatten gewiss ein volles Magazin. Ein Feld, das sein Ziel nicht umschließen konnte, verzehrte sich selbst, um niemandem im Weg zu sein. Nur Sekunden waren gewonnen.

Ra nutzte sie. Die Tür. Er warf sich dagegen, als sie sich nicht öffnen wollte. Verschlossen. Mehr Kraft, keine Finesse. Ein Simipath war ein Kraftmonster, wenn er es wollte, und Ra wollte es mit seinem ganzen Willen. Sein Körper formte sich nach seinen Wünschen, das Micron spannte sich auf seinem Leib, als er Form und Masse anpasste und dann, ein drittes Mal, die Tür bearbeitete.

Schüsse fielen. Kein »Flupp«. Die Tür hielt. Ra drehte sich, die Situation hatte sich verändert. Ein Vermummter lag am Boden, zuckte, feine, irisierende Funken sprühten über seinen Körper. Die beiden anderen drehten sich um, ließen die Werfer fallen, ersetzten sie durch andere, schlanke Waffen. Ra bekam Hilfe.

Die beiden geschassten Bandmitglieder. Ra nickte ihnen zu. Normalerweise stellten solche Leute keine Gefahr dar. Mit Waffen in den Händen aber waren sie eine echte Hilfe für ihn. Blitzlichtgewitter, als sie diese auslösten, einen weiteren Vermummten zu Boden warfen. Keine Toten. Micron schützte gut. Doch die ungeschützten Körperteile nahmen die Energie starker Stunner auf, und die Vermummten hatten nicht mit dieser Gegenwehr gerechnet.

Ra frohlockte.

Er frohlockte zu früh.