Das Schlimme an dreidimensionalen Kampfszenarien war das Dreidimensionale.
Lania war eine ausgezeichnete Pilotin mit einem ausgeprägten Raum-Zeit-Gefühl, einem fast intuitiven Verständnis davon, wer sich auf einer x-, y- und z-Achse wo befand und in welcher Richtung unterwegs war; auch dann noch, wenn sie selbst mit heftigen Kurskorrekturen befasst war. McKinnon beneidete sie deswegen, nicht zuletzt, weil ihm diese Gabe weitgehend abging. Zu seiner Zeit während des Athir-Krieges war er in Dropships auf fremden Planeten abgeworfen worden und hatte sich in schweren Kampfanzügen über mehr oder weniger zerbombte Landschaften gequält. Die Frage, wo oben und unten war, hatte sich durch den Einfluss der Schwerkraft von selbst beantwortet. Obgleich man bei den Athir oft nicht wusste, wann sie angriffen, so doch meistens, von woher der Angriff kommen würde. Ein widerliches, ein tödliches Geschäft, aber in gewisser Weise vorhersehbar.
Das war jetzt nicht so. McKinnon feuerte, die automatische Zielführung half ihm. Aber sie war nicht auf dem Stand einer hochgezüchteten Waffen-KI , sondern das Hilfsmittel für einen gut ausgebildeten Schützen, der sich mit Luft- oder Raumkämpfen auskannte. Die Gauss-Zwillingskanone bereitete McKinnon keine Probleme, er beherrschte dieses Instrument im Schlaf. Eine Standardausführung, die auch auf Bodenlafetten Verwendung gefunden hatte und mit der er sich sehr oft hatte auseinandersetzen müssen.
Nur oben, unten, links und rechts und all die unendlichen Nuancen dazwischen, das brachte ihn mächtig aus dem Konzept. Dafür war er nicht geboren. Lania fühlte sich wie ein Fisch im Wasser, während McKinnon verzweifelt mit den Armen ruderte, als ob an seinen Füßen ein schweres Gewicht angebunden wäre. Das war nicht gut – und so passierte es, dass er danebenschoss. Mehr als einmal.
Eigentlich fast immer. Denn dazu kam, dass die Piloten in den anderen Gleitern genau wussten, was sie taten. Er konnte nicht mit ihrer Dummheit rechnen.
Und landete er doch einen Glückstreffer, dann spritzten die hochbeschleunigten Geschosse an den schwer gepanzerten Executors ab, als kämen sie aus einer Wasserpistole. Sie wirkten nie lange genug ein, um sich durch die hochverdichtete Micron-Keramikmischung zu fräsen und im Inneren der Fahrzeuge das wahre Unheil anzurichten.
Dass immer wieder Andruckkräfte durchkamen und sein Magen sich dadurch abwechselnd an verschiedenen Stellen seines Körpers von innen eng an die Haut schmiegte, half ebenfalls nicht. Der Gleiter ging tiefer und tiefer, bot kein leichtes Ziel. Aber es war ein Unterschied, ob man alleine auf einen Gegner feuerte oder sich zu dritt koordinierte.
Ein erneuter Rumms, der sie alle erschütterte. McKinnon blinzelte. Seine Augen suchten die Schadenskontrolle, die für seinen Geschmack …
Es knisterte, dann ertönten Warnsignale. Ein weiterer Ruck ging durch das Fahrzeug, und für einen Moment schien es, als hätte die Pilotin die Kontrolle verloren. Die X3 schlingerte, ein Gefühl, das alte Albträume in McKinnon aufsteigen ließ. Es roch verbrannt, so richtig, und das charakteristische Zischen der Löschautomatik ertönte von irgendwoher.
»Shit!«, rief Lania. »Der traf! Die Dinger haben Wumms!«
»Panzerungsstatus?«
»Ging durch. Noch ein Treffer dort, und wir sind Geschichte. Linker Stabilisator ist hin, ich muss das manuell ausgleichen. Achtung, ich schalte mal den Expresslift ein!«
»Was …?«, wollte Sahir McKinnon wissen, aber er brachte nicht mehr heraus als dieses eine Wort. Der Rest der Frage wurde durch den Absturz aus seiner Kehle gerissen. Absturz! Kontrollierter Absturz vielleicht, aber das änderte nichts an dem Eindruck, hielt das Adrenalin nicht auf, das durch seine Adern schoss. Helles Entsetzen, Angst, die wie ein Raubtier auf seinen Schultern saß und ihm heiß in den Nacken atmete. Expresslift. McKinnon wusste, wie sich das anfühlte, es war die Methode, mit der die Piloten der Dropships im Krieg gelandet waren. Der entsetzlichste Teil der ganzen Angriffe und Gefechte. Wenn man die Oberfläche fremder Welten auf sich zustürzen sah und trotz aller rationalen Erkenntnis alle Hoffnung fahren ließ.
Verdammt, er hatte das doch nie wieder erleben wollen. Er hatte es sich geschworen, auf den Gräbern seiner gefallenen Kameraden, ein heiliger Eid. Und jetzt spürte er die alte Angst wieder. McKinnons Augen tränten.
Dann war es vorbei, zumindest erst mal. Lania stabilisierte die Fluglage. Das musste ein Ende finden. McKinnon riss sich zusammen und zielte erneut mit der Gausskanone. Er zog eine feine silbrige Spur ionisierter Luft durch die Atmosphäre, die wie ein Blitz auf einen der Executoren zusprang. Ob Glück oder Talent, diesmal huschte die Garbe länger als für einen Augenblick über den schwarzen Panzer, und etwas explodierte. Aber nicht der Gleiter selbst.
Sondern in ihm. Das war das Prinzip. Die Wand schnell und auf kleinstem Raum perforieren und dahinter die Hölle ausbrechen lassen. Ein heller Lichtschein, der aus den Cockpitscheiben leuchtete, kurz nur, aber lang genug, um erahnen zu lassen, was dort passiert war. Der Executor blieb auf Kurs, gesteuert von einer beharrlichen Automatik, aber er machte keinerlei Anpassungen mehr, denn im Leitstand war niemand mehr am Leben. Die winzigen Metallflechettes hatten sich mit höchster Hitzeentwicklung bis zum nächsten Hohlraum gefräst und waren auf dem Weg dorthin fast zu Plasma geworden. Sobald sie in den Innenraum des Cockpits eintraten, wurde es sehr schnell sehr heiß. Jeder darin war zerkocht oder verbrannt oder hatte unangenehme Abstufungen davon erlebt. Auf jeden Fall waren sie nun alle tot.
»Raumhafen voraus. Ich habe Sichtkontakt«, hörte er Lania sagen. Ein Notruf war nun in der Tat unnötig. Der Kampf war längst auf allen Sensoren sichtbar gewesen und Polizeifahrzeuge bereits auf dem Weg hierher. Zu spät, zu wenige. Ihre Hoffnung blieben die mächtigen automatischen Abwehrkanonen, die jeder Raumhafen seit den Athir-Kriegen hatte und die auch nie abgebaut worden waren. Man wusste ja nie, wer von oben kam und Übles wollte.
»Das Dämpfungsfeld ist weg!«, rief Liana.
»Sie sparen Energie, es nützt ja eh nichts mehr«, kommentierte McKinnon. Es war gleich vorbei.
»Ich bekomme hier sehr hektische Anfragen der Flugleitung!«, fügte die Pilotin hinzu. Erneut ließ sie, anstatt auf eine verbale Reaktion zu warten, den Gleiter absacken. Der Boden schoss auf sie zu, McKinnon spürte Magensäure seine Kehle emporklettern. Er wollte erneut feuern, doch er fand weder Ziel noch Konzentration. Das war nicht seine Art von Kampf. Das musste jetzt endlich aufhören!
»Autokanooo…«
Lianas Ausruf wurde abgeschnitten. Die Glasautomatik passte die Dämpfung der Frontscheiben an, vielleicht eine Spur zu spät. Glühende Plasmabälle hatten die Emitter der Werfer am Raumhafenrand verlassen. Sie wurden in Magnetfeldern ans Ziel gesteuert, die beim Aufprall abgeschaltet wurden und sehr unangenehme Dinge mit dem Objekt anstellten, in dessen Nähe das geschah. Nähe war hier ein dehnbarer Begriff, wie die beiden Executoren, aber auch die X3 nun spürten.
Ein hartes, krachendes Geräusch, als Luftmassen die X3 ergriffen und wegschleuderten. Ihre Hülle ächzte in all ihren Verbindungen, und die Maschine schrie protestierend auf, als sie sich gegen diese Gewalt stemmte. McKinnon würgte etwas aus seinem Mund heraus, als ihn die Fliehkräfte beutelten. Sein Magen wollte nicht mehr. Ihm wurde richtig schlecht, und sein Blick trübte sich für einen endlosen Moment. Dann hörte das Ruckeln und Krachen auf, er vernahm Lanias herzliche Flüche, die aus tiefstem Herzen Erleichterung und Triumph Ausdruck verliehen.
Es hörte auf, als zwei helle Feuerbälle in der Luft standen und langsam verwehten, sobald die erhitzten Gase abkühlten. Die beiden noch aktiven Executoren waren von der gnadenlosen Abwehr-KI erfasst und ausgelöscht worden.
»Alle in Ordnung?«, fragte die Pilotin.
»Verdammt, ja«, hörte McKinnon Minarel.
»Verdammt, nein!«, hörte er sich aufrichtig sagen und winkte ab, als er Minarels besorgten Blick bemerkte. »Nichts, was ein Schaumbad nicht wieder richten könnte.« Er drehte sich zur Pilotin. »Ich nehme an, der Raumhafen will, dass wir sofort landen.«
»Und ich mache genau das, denn diese Werfer da unten sind ganz, ganz böse.«
Lania schickte Autorisierungssignale, der offizielle Transponder war nie ausgeschaltet worden, und die Hafen-KI hatte daraufhin beschlossen, ihr Leben zu schonen – was wiederum darauf schließen ließ, dass die Executoren blind und stumm …
Ein dritter Feuerball. Der von der Automatik gesteuerte erste Angreifer verging. Es war eine andere Explosion. McKinnon wusste sofort, was passiert war. Jemand oder die Automatik selbst hatte die Selbstvernichtung ausgelöst. Man hinterließ keine Spuren. Man machte keine Gefangenen – und man nahm auf niemanden Rücksicht.
Dies war der Moment, in dem Sahir McKinnon, nun kein bisschen mehr ängstlich, ein Profil in seinem Kopf zusammenzusetzen begann, ein Profil ihrer Gegner, und obgleich es bisher nur aus Bruchstücken bestand, fühlte er sich dabei erstmals wohl.
Wer handelte, offenbarte immer etwas von sich. Und wer gut beobachtete und diese Handlungen überlebte, der konnte daraus lernen. Vielleicht hatten sie diese Art des Lernprozesses in der Vergangenheit zu sehr vernachlässigt.
»Wir werden zur Landung auf dem behördlichen Teil des Feldes aufgefordert. Die Polizeikräfte wollen mit uns reden«, sagte Lania. Es gab jetzt kein Entkommen mehr. Natürlich würden sie landen, und sie würden reden müssen. Aber Sahir McKinnon war sich einigermaßen sicher, dass sie nichts wirklich erklären konnten. Das würde weitere Fragen aufwerfen und – davon ging er aus – die Schlinge um den Hals von »Allgemeine Dienstleistungen« enger ziehen. Ein toter Vertreter des Amtes für Achtsamkeit. Das war eine sehr schlechte Ausgangsposition für allgemeines Verständnis und freundliches Schulterklopfen.
Der Gleiter setzte auf. Sie wurden bereits erwartet. McKinnon erkannte das hektische, durchdringende Stroboskop der Alarmlichter diverser Polizeifahrzeuge.
Dies war, so beschlich ihn eine kalte Vorahnung, erst der Anfang.