Kapitel 14

Ra fühlte sich noch etwas wackelig auf den Beinen, was vor allem damit zusammenhing, dass diese ganz neu waren. Die letzten Millimeter an den Zehen hatten sich erst vor einer Stunde ausgebildet, und jetzt bekam der Simipath sein volles Körpergefühl zurück. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Zeitpunkt gekommen war, jede beliebige Form annehmen zu können. Der Rekonfigurationsprozess war abgeschlossen, das fühlte sich gut und richtig an, aber auch erschöpfend, denn trotz Nährbad und, sobald wie möglich, kiloweise fester Nahrung hatte dieser Prozess Energie gekostet. Normalerweise war jetzt eine Woche Urlaub angesagt, aber diesmal musste er einfach ein paar Schokoriegel zusätzlich einwerfen: Anubis hatte die letzten Stunden der Rekonfiguration voller Ungeduld neben ihm gesessen und wohl an sich halten müssen, Ra nicht noch anzufeuern. Jetzt aber, wo alles abgeschlossen und leidlich einsatzbereit war, galt es, die Zeit zu nutzen, um der Spur zu folgen, die Anubis’ Schnüffelei enthüllt hatte.

Und Ra wollte das ja auch.

Er war aber trotzdem hundemüde.

Sie verließen das Hauptquartier von »Allgemeine Dienstleistungen« mit den unauffälligen Körpern unauffälliger Durchschnittsmänner, gekleidet in unauffällige Straßenanzüge. Sie hatten ihre Erfahrungen gemacht, was das anging. Gewisse Arten von Symmetrie oder der Mangel derselben, bestimmte Formen von Augen, Nasen und Lippen, mit denen man zumindest bei Mitgliedern der gleichen Spezies dafür sorgen konnte, leicht übersehen zu werden. Natürlich hatte jedes Volk des Stellaren Status ein anderes typisches »Allerweltsgesicht«, doch hier half noch ein anderes Phänomen: Für Menschen sahen die meisten Lerati oder Fanganier oder sonst wer mehr oder weniger gleich aus, wenn sie sich nicht eingehend mit ihnen beschäftigt hatten, und umgekehrt war es genauso. Wenn man sich also für die eigene Spezies unauffällig machte, war man es per definitionem für die meisten anderen auch, wenngleich aus anderen Gründen.

Sie verwendeten öffentliche Verkehrsmittel. Die subterrane Druckbahn verband alle Stadtteile miteinander und war kostenfrei für jeden, der sie benutzte. Die Abteile waren geräumig und flexibel eingerichtet, da sie für eine Vielzahl von Körperformen und Fortbewegungsarten geeignet sein mussten. Die Druckbahn war auch relativ anonym: »Allgemeine Dienstleistungen« hatte sich schon früher intensiv mit dem Gefahrenerkennungssystem der internen Beobachtung auseinandersetzen müssen. Die beiden Simipathen wussten daher genau, wo die blinden Flecke lagen. Sie nutzten diese entsprechend effektiv aus. Der öffentliche Personenverkehr war kein Hotspot krimineller Aktivitäten, normalerweise wurde ihm generell wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Die Praxis von Dr. Achat lag in einem hochfrequentierten Stadtviertel der oberen urbanen Mittelschicht. Hier lebten jene, die sich auch zu Zeiten der Krise durch harte Arbeit über Wasser zu halten versuchten, um ihren sozialen Status aufgrund der massiven Wirtschaftskrise nicht zu verlieren.

Ra hatte es nie an Geld gemangelt, jedenfalls hatte er einen solchen Mangel nie bewusst wahrgenommen, und er besaß wenig Empathie für eine solche Situation. Erst jetzt, wo von unbekannter Seite ihre Firma bedroht wurde, verstand er langsam, wie es vielen der Intelligenzen hier gehen musste, denen trotz allen Engagements die Fundamente ihrer wirtschaftlichen Existenz wegzubröckeln begannen.

Von außen war davon nicht viel zu sehen: Die modernen Fassaden verbargen auch die größte ökonomische Katastrophe von der Außenwelt, zumindest bis die Schilder aufgestellt wurden, die blinkend darauf hinwiesen, dass hier »besonders günstig« und »provisionsfrei« Büroraum zu vermieten war. Ra konnte sich irren, aber er fand, dass die Schilder sich seit seinem letzten Besuch in dieser Gegend vor ein paar Monaten vermehrt hatten. Vielleicht sah er aber auch nur, was er angesichts der allgemeinen Krisenstimmung sehen wollte.

Es gab wenige Passanten, und die, die es gab, waren in ihre mobilen Endgeräte vertieft, während kleine Kameraaufsätze ihnen zuflüsterten, wenn sie auf Hindernisse zugingen und die Gefahr einer Kollision bestand. In den Cafés des Viertels saßen meist junge Paare, alle in Kostümen und Anzügen, entweder mit geschäftlichen Fragen oder romantischen Vorstellungsgesprächen beschäftigt. Es gab keine Firma mehr, die auf festen, zeitlich genau geregelten Arbeitszeiten bestand. Was zählte, war, dass man seine Aufgaben zu einem bestimmten Termin erledigte. Wer schnell und gut in einem Café sitzend arbeiten konnte, war herzlich eingeladen, genau das zu tun.

»Wir sind da«, sagte Anubis, als sie vor dem mehrstöckigen Gebäude mit der austauschbaren Glasfassade standen. Die Schilder am Eingangsbereich präsentierten das übliche Sammelsurium: Anwälte, Consultingfirmen, Ärzte, Hundefriseure. Der Name von Dr. Achat war recht prominent zu sehen, das Schild ein wenig größer, die Prägeschrift von allen Blickwinkeln aus erkennbar. Entweder war sie mehr wert als die anderen Mieter, oder sie hatte es dringender nötig.

»Ob wir ohne Termin reindürfen?«, fragte Ra.

»Ob wir gar nicht erst nach einem Termin fragen?«, gab Anubis zurück, offenbar zu jeder Schandtat fest entschlossen. Ra war sich nicht sicher, ob ihnen das in diesem Kontext weiterhalf. Aber er spürte auch diesen seltsamen Zeitdruck, als ob das Schicksal ihn warnte, dass die Dinge langsam aus dem Ruder laufen würden, wenn sie der Krise nicht Herr wurden. Sie betraten das Gebäude, und an einer breiten, holzvertäfelten Rezeption saß ein Danari, was darauf hinwies, dass die Hausverwaltung richtig Geld hatte und meinte, ein Empfangsroboter habe einfach nicht genug Stil. Der Danari, groß, hager, mit dem kantigen, fast viereckigen Kopf seiner Spezies, wirkte würdevoll, und das war neben seinen Umgangsformen und einer gewissen Leidensfähigkeit im Umgang mit anderen sicher ein zentrales Qualifikationsmerkmal für diese Arbeit.

Er sah auf, erwartete aber offenbar nicht, angesprochen zu werden. Der Danari war also kein Wachhund, sondern jemand, der freundlich weiterhalf. Das war Ra nur recht. Sie schenkten ihm ein Kopfnicken und verbreiteten die Aura des »Wir wissen, was wir hier tun!«, und das war völlig ausreichend. Der Aufzug nahm sie auf und trug sie nach oben.

Sie erreichten das fünfte Stockwerk, in dem sich die Praxis befand. Der weiche Teppich schluckte das Geräusch ihrer Schritte. Alles war hell und freundlich eingerichtet, mit einer zweiten Empfangszone, in der sich eine Sesselgruppe direkt vor der Glasfassade befand, sodass man einen schönen Ausblick genießen konnte. Wenige Personen durchmaßen die Gänge, alle in ihre eigenen Angelegenheiten vertieft. Die Tür zur Praxis öffnete sich ohne weitere Probleme, und sie wurden von einer jungen Frau begrüßt, die hinter einem breiten Tisch Patienten registrierte.

»Willkommen«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Sie haben einen Termin?«

Anubis trat vor. »Nicht wir, aber unsere Schwester war hier in Behandlung. Wir würden gerne einige Worte mit Dr. Achat wechseln, wenn das möglich ist.«

Die junge Frau kräuselte auf reizende Weise ihre Nase. Ein Terraner hätte das als niedlich bezeichnet, auch Ra verfügte über die entsprechenden Bewertungskategorien. Wenn er den Vertreter einer Spezies mimte, war es notwendig, nicht nur sein Aussehen zu kopieren. Die Simipathen waren sehr ordentliche und sehr praxisorientierte Xeno-Ethnologen.

»Frau Doktor ist wirklich sehr beschäftigt. Außerdem wird sie natürlich keine vertraulichen …«

»Eva. Es ist gut.«

Eine neue Stimme, älter, voller, und geschwängert mit Selbstvertrauen. Ra schaute sich um, entdeckte Dr. Achat, gekleidet in ein braunes Wollkleid, auf der Nase eine altmodische Brille, die heutzutage gerne als Accessoire genutzt wurde, ohne einen echten Zweck zu erfüllen. Vielleicht meinte sie, dadurch vertrauenserweckend auszusehen, vielleicht mochte sie es schlicht, einem Klischee zu entsprechen. Außerdem half sie einem bei der Gestik, wie Ra aus eigener Erfahrung wusste. Man konnte wunderschöne Pausen zum notwendigen Nachdenken erzeugen, indem man etwas umständlich das Gestell vom Gesicht nahm, mit gemessenen Bewegungen zusammenklappte und es kurz sinnierend musterte. Sehr praktisch.

»Dr. Achat«, begann Anubis. »Meine Schwester …«

»Nicht hier. Kommen Sie herein. Eva, sag bitte den Termin mit Professor Bieber ab. Der simuliert sowieso nur.«

Die junge Frau nickte, wirkte in diesem Moment aber recht eingeschüchtert. Ra konnte das nachvollziehen. Die Therapeutin hatte eine starke Persönlichkeit, die jeden Raum ausfüllte, den sie betrat.

Das Büro, in das sie nun geführt wurden, war in sanften Pastellfarben eingerichtet, mit weichen und konfigurierbaren Sitzgelegenheiten. Die stereotype Couch fand sich freilich nicht, dafür mehrere Sesselgruppen, einmal zwei, einmal drei, einmal vier … wohl für die Gruppentherapie. Es gab keinen Schreibtisch oder Ähnliches, nichts, was eine künstliche Distanz zwischen Therapeutin und Patient erschuf. Die beiden Simipathen setzten sich in die Dreiergruppe. Alles sehr bequem und vertrauenerweckend. Ra war jetzt wirklich neugierig.

»Sie scheinen uns erwartet zu haben«, sagte er.

Dr. Achat schüttelte den Kopf, nachdem sie sich ihnen gegenüber niedergelassen hatte und, siehe da, umständlich die Brille abnahm und zusammenfaltete, was einige Sekunden in Anspruch nahm. »Das ist zu viel gesagt. Aber ich hatte eine sehr spezielle Patientin, und Isis hat über ihre … Familie gesprochen. Und sie wies mich darauf hin, dass der Zusammenhalt zwischen ihnen sehr eng sei. Sollte jemals einem von ihnen etwas Ernsthaftes passieren, würden die anderen schnell auf der Matte stehen. Dann habe ich sie beide gesehen, ihre Aufmachung, ihre bewusst auf Unauffälligkeit designten Gesichter, und da habe ich gewusst, dass dieser Zeitpunkt gekommen war. Da Isis die letzten Termine nicht wahrgenommen, aber auch nicht abgesagt hat, muss ich davon ausgehen, dass ihr etwas zugestoßen ist. Ich mache mir also Sorgen.«

Dass Dr. Achat nicht mehr über die tatsächlichen Vorgänge wusste, war nicht verwunderlich. Die offizielle Berichterstattung war bis heute nicht darüber informiert, dass die Simipathen überhaupt existierten. Über das, was Orbal und Ariovista zugestoßen war, wurde berichtet – aber eben so, dass die Wahrheit den Notwendigkeiten angepasst worden war.

»Wir machen uns ebenfalls Sorgen um Isis«, sagte Ra.

»Normalerweise dürfte ich Ihnen keinerlei Auskunft geben, das ist Ihnen bewusst, ja?«

»Sie sagen ›normalerweise‹ bestimmt nicht ohne guten Grund.«

Achat nickte. »Gut beobachtet. Tatsächlich habe ich eine Vollmacht von Isis, dass ich Ihnen Auskunft geben darf, falls ihr etwas zustößt. Allerdings war sie relativ vage, was genau als ›etwas zustoßen‹ zu betrachten ist. Ich befürchte, das hat sie meiner eigenen Beurteilung überlassen.«

Anubis sah Ra an. Sie würden für die kleine Phiole wohl keine Verwendung haben, wie es aussah.

»Es fällt uns schwer, hier in Details zu gehen«, sagte Anubis. »Aber ja, Isis ist verschwunden. Wir gehen davon aus, dass das nicht freiwillig geschah.«

Die Augen der Ärztin weiteten sich. »Im Ernst? Reden wir hier von einer Entführung?«

»Es ist eine komplizierte Geschichte. Ich bin mir nicht sicher, was wir Ihnen davon enthüllen sollten.«

Achat hob die Arme und machte eine beruhigende Geste.

»Alles, was wir hier besprechen, fällt unter die ärztliche Schweigepflicht.«

»Das ehrt Sie gewiss, Doktor. Aber es könnte sein, dass wir mit Leuten zu tun haben, deren Respekt vor dieser Art von Regelungen … nun ja … sehr begrenzt ist.« Ra versuchte, es nicht zu ironisch zu sagen, aber Dr. Achat lächelte nur sanft und schien ihn sehr gut zu verstehen.

»So schlimm?«

»Isis ist verschwunden. Wir gehen tatsächlich von einer Entführung aus. Das ist nichts, was wir auf die leichte Schulter nehmen können.«

Achat runzelte die Stirn. Ihre Hände drehten die Brille um sich selbst, eine Geste der Selbstberuhigung. War sie etwa tatsächlich nervös? »Ist es möglich, einen Simipathen zu entführen?«

»Sie wissen, wozu wir körperlich in der Lage sind?«

»Das wurde mir von Isis enthüllt, ja. Sie hat es sogar demonstriert. Ich muss sagen, ich war sehr … sehr beeindruckt.«

Ra klopfte sich auf die Brust. »Wir bestehen aus fester Materie. Wir können damit eine Menge Sachen machen, aber an unserem materiellen Zustand ändert das nichts. Wir können getragen, geschubst, umgeworfen, hochgehoben und in ein Stasisfeld gelegt werden. Konsequenterweise kann man uns auch entführen, wenn man sich entsprechend vorbereitet und gut investiert.«

»Und jemand hat beides getan«, fügte Anubis hinzu.

»Verstehe. Gut.«

»Vielleicht können Sie uns in der Sache helfen. Wir folgen jeder möglichen Spur.«

»Da war es naheliegend, zu mir zu kommen. Ich weiß nicht, was genau da passiert ist, und vielleicht haben Sie recht mit der Entführung. Aber vielleicht darf ich Ihnen einen alternativen Erklärungsvorschlag machen«, sagte Achat gedehnt. Sie war offenbar zu dem Schluss gekommen, dass Isis’ Vollmacht jetzt griff, eine Entscheidung, über die Ra sehr erfreut war. Er hätte es für schwierig gehalten, die Therapeutin mit der Wahrheitsdroge behandeln zu müssen. Anubis war in diesen Dingen … flexibler.

»Wir sind sehr gespannt.«

Achat legte die Brille ab, blickte an den Besuchern vorbei ins Leere.

»Sie gehen von einer Entführung aus. Ich denke, dass Isis auch einfach von selbst gegangen sein könnte, ohne dazu gezwungen worden zu sein.«

»Wie bitte?«, entfuhr es Ra.

Er sah Anubis überrascht an, der stumme Blickwechsel bedeutete für sie beide: Keiner von ihnen hatte bisher auch nur entfernt an diese Möglichkeit gedacht, auch Minarel und der Dispatcher nicht. Verdammt, das war unverzeihlich! Jeder hatte in manchen Situationen einen blinden Flecken in der Sicht auf die Dinge, ihrer war wohl eher ein schwarzes Loch gewesen. Ra fühlte sich beinahe peinlich berührt.

»Das ist für Sie beide ein neuer Gedanke«, stellte die Therapeutin fest.

»Ich gebe es zu«, erwiderte Ra. »Wie kommen Sie zu dieser Vermutung? Ich muss sagen, es fällt mir schwer, einen solchen Schritt nachzuvollziehen. Ich kenne Isis ziemlich gut. Wir sind alle sehr eng miteinander verbunden.«

»Ziemlich gut, da bin ich mir sicher. Aber möglicherweise nicht gut genug.« Achat machte eine Kunstpause, jetzt war sie im Arztmodus, eine Therapeutin, die eine genaue Anamnese formulierte, ehe sie zu den Behandlungsschritten kam.

»Isis ist zu mir gekommen, weil sie Albträume hatte.«

Ra schaute erneut Anubis an, diesmal teilten sie anstatt einer Überraschung das gemeinsame Unverständnis.

»Wir Simipathen träumen nicht«, teilte er der Ärztin daraufhin mit. Anubis nickte. »Wir schlafen wenig – zwei bis drei Stunden innerhalb eines Tag-Nacht-Zyklus – und das völlig traumlos. Wir kennen das Konzept des Traumes nur theoretisch, aus Erzählungen anderer Kollegen und aus Filmen oder Büchern. Wir erleben es selbst nicht. Manche von uns halluzinieren etwas während der Rekonfiguration – Sie wissen, was das ist?«

»Theoretisch, ja.«

»Diese Wahnbilder sind aber nicht das Gleiche wie ein Traum, vor allem, weil wir nicht notwendigerweise dafür bewusstlos sein müssen. Aber im Schlaf träumen wir nicht. Davon hat nie jemand von uns berichtet.«

Anubis nickte bekräftigend.

»Das stimmt offenbar nicht ganz, jedenfalls nicht für Isis«, sagte die Therapeutin ruhig. »Sie berichtete mir über heftige und lebhafte Träume, die sie emotional stark mitgenommen haben – nicht nur, weil sie plötzlich auftraten und sie deswegen erst sehr verwirrt war, sondern auch, weil die Bilder, an die sie sich erinnern kann, sehr beunruhigend auf sie wirkten.«

»Sind Sie sicher?«, fragte Anubis.

»Ich kann nicht in Isis’ Kopf hineinschauen. Wir haben erwogen, sie in einem Schlaflabor nächtigen zu lassen, um eine genaue Aufzeichnung machen zu können, doch wir haben die Idee nicht verwirklicht, weil es unabdingbar gewesen wäre, dass den Mitarbeitern des Labors dadurch Isis’ Natur enthüllt werden würde. Das wollte sie nicht.« Achat lächelte. »Sich mir gegenüber zu öffnen, war bereits riskant genug.«

Es musste in der Tat eine gewisse Selbstüberwindung gekostet haben. Und das bedeutete auch, dass sie das nicht als simple Fantasterei abtun konnten, als bloße Laune. Isis würde keine Ärztin aufsuchen, wenn sie sich nicht ernsthaft beunruhigt gefühlt hätte. Ra selbst fühlte sich sehr beunruhigt. Hier ging es nicht um einen Gegner von außen, sondern von innen. Und auch Dr. Achats Hypothese ergab auf dieser Basis plötzlich Sinn.

»Sie haben Isis behandelt?«, fragte Ra. »Gibt es für so etwas eine Therapie, ich meine … wir sind schon … anders.«

»Nun … ja. Das ist natürlich nicht so einfach. Wenn ich als Xeno-Therapeutin arbeite, habe ich normalerweise eine Reihe von Spezies, auf die ich spezialisiert bin. Da bin ich durch meine Spezialisierung und entsprechende Forschung vorbereitet. Es gibt, kulturell oder biologisch bedingt, Themen, die je nach Volk bei psychischen Erkrankungen immer wieder auftauchen und andere dafür überhaupt nicht. Bei den Therianern kann man zum Beispiel keine Fälle von paranoider Schizophrenie diagnostizieren, und es gibt verschiedene Hypothesen, dass das mit der völlig anderen Biochemie ihrer zwei Gehirne zu tun hat – oder der bloßen Tatsache, dass es eben zwei sind, die in einer ständigen Kommunikation miteinander stehen. Posttraumatische Belastungsstörungen sind bei den Fulcri völlig unbekannt, was evolutionär durch die extrem harten und belastenden Lebensumstände ihrer Heimatwelt erklärt wird, die so etwas wie eine genetisch einprogrammierte psychische Resilienz verursacht haben. Diejenigen mit den meisten Krankheitsbildern sind immer noch die Terraner. Ich glaube, da sind alle ein wenig durchgedreht, auf die eine oder andere Art und Weise. Sie stellen auch die meisten meiner Patienten, wie ich hinzufügen möchte.«

»Aber Sie haben keinen Referenzrahmen für uns Simipathen«, stellte Anubis fest. »Wir können einen Therianer und einen Fulcri perfekt nachahmen. Aber wir sind in unserem Kern doch etwas Spezielles.«

»Exakt. Es gibt meines Wissens nur Sie vier, und keiner weiß, woher Sie kommen. Sie besitzen Emotionen und sind intelligent, und wir können uns sprachlich verständigen – das ist schon einmal gut und sorgt dafür, dass ich Ansätze für eine Gesprächstherapie finden kann. Aber Medikamente wirken bei Ihnen entweder gar nicht oder ganz anders, daher ist der Einsatz von Psychopharmaka oder schlicht eines ordentlichen Schlafmittels nicht angezeigt. Das hat mich bei Isis’ Behandlung erst einmal vor große Probleme gestellt. Es gab keinen einfachen Weg.« Achat lächelte. »Ich verschreibe ungern Medikamente, das ist mehr die Arbeit von Psychiatern. Aber manchmal helfen sie natürlich, als Unterstützung sozusagen.«

»Isis litt unter Schlaflosigkeit?«, wollte Ra wissen. Das Konzept war ihm völlig fremd. Er verstand es aber auf einer rationalen Ebene, wenn er nachts Sahir McKinnon durch das Hauptquartier wandern sah, mit einer Ruhelosigkeit, die schon etwas von Verzweiflung hatte.

»Ja, das hat sie sehr beunruhigt. Sie erwachte mit Albträumen und konnte nicht wieder einschlafen. Sie Simipathen können das grundsätzlich aufgrund Ihres geringen Schlafbedürfnisses ganz gut verkraften, aber auf die Dauer ist es sehr nervenaufreibend. Einer der Gründe, warum sie zu mir kam.«

»Was hat Sie geträumt?«, hakte Ra nach.

»Hören Sie selbst.« Achat machte eine Handbewegung, und vor ihrer aller Augen erschien eine dreidimensionale Projektion im Raum. Es war eine ihnen unbekannte Person, aber sie war unauffällig, ohne besondere Merkmale, leicht zu übersehen – die klassische Alltagsform eines Simipathen. Die Stimme war genauso uncharakteristisch, aber die Simipathen hatten ein Ohr für den individuellen Tonfall ihrer Bruderschwestern, und als Isis zu sprechen begann, bestand für die beiden Zuhörer kein Zweifel, dass es sich um sie handelte.

»Sagen Sie einfach alles, an das Sie sich erinnern!«, kam die Stimme der Therapeutin aus dem Off.

»Ja, gut. Es ist aber albern.«

»Hier ist nichts und niemand albern.«

Isis atmete tief ein. Sie begann etwas stockend, dann wurden ihre Sätze aber schnell flüssiger.

»Ich renne immer durch einen schlecht beleuchteten Tunnel, als ob mich jemand verfolgen würde«, erzählte sie. »Ich habe Angst, weiß aber nicht, warum. Ich fühle mich nicht in Lebensgefahr, es ist mehr so, als würde ich vor einer unangenehmen Erfahrung davonlaufen, etwas, an das ich mich nicht erinnern will, das sich mir aber beständig aufdrängt.

»Wissen Sie, was das sein könnte?«

»Ich habe absolut keine Ahnung…«

»Fahren Sie fort.«

»Dann ist da ein Raum, in den ich komme, voller technischer Geräte, die ich nicht verstehe. Was ich aber verstehe, ist eine Reihe von Tanks. Sie sind wie die, in denen ich gefunden wurde, nur größer. Über allem liegt weiter die bedrohliche Atmosphäre. Ich gehe zu einem der Tanks, und aus irgendeinem Grund geht er auf, der Deckel öffnet sich. Ich schaue hinein, bekomme einen wahnsinnigen Schrecken – und weiß gar nicht, warum. Dann wache ich auf.«

»Was haben Sie im Tank gesehen?«, fragte die Stimme aus dem Off, neugierig, aber nicht wertend.

»Ich kann mich nicht erinnern. Ich zermartere mir jedes Mal das Gehirn, aber ich kann mich einfach nicht daran erinnern. Es tut mir wirklich sehr leid.«

Die Projektion erlosch. Für einen Moment herrschte bedrückte Stille. Ra wusste nicht, was er damit anfangen sollte. So hatte er Isis niemals zuvor erlebt. Es war ein wenig erschütternd für ihn.

»Wir haben dann versucht, einige regressive Traumtherapien auszuprobieren«, erklärte die Ärztin. »Das ist etwas schwierig, wenn man nicht genau weiß, wie das Gehirn einer Spezies funktioniert. Es ist faszinierend, dass ich nicht einmal sicher sein konnte, wo es sich überhaupt befindet. Bei Ihnen scheint das ja eine Frage bewusster Entscheidung zu sein, das ist dann doch eher … ungewöhnlich. Jedenfalls haben wir damit keine richtigen Erfolge erzielt. Bei unserer letzten Sitzung verhielt sich Isis nervöser als sonst, als würde sie etwas sehr beschäftigen. Sie meinte, sie fühle sich zu etwas hingezogen, aber sie wisse nicht, zu was und wohin. Ein inneres Sehnen, ein Wegzerren, zu dem sie nicht mehr sagen konnte, als dass es existierte.«

Ra fühlte sich alarmiert. »Eine fremde Beeinflussung, eine Art Hypnose oder Suggestion?«

»Der Gedanke ist mir natürlich auch gekommen, aber ich habe keine mir bekannten Hinweise darauf gefunden. Ich sage aber gleich: Ich kann das natürlich nicht ausschließen. Aber gerade solche Vorstellungen können auch das Resultat einer psychischen Belastung sein. Wir nennen das den ›Wandertrieb‹, das starke Gefühl, die bisherige Umgegend verlassen zu müssen, um damit der Suche nach Antworten auch physisch Ausdruck zu geben. Das ist ein Effekt, der bei mehreren Spezies nachweisbar ist.«

Ra entspannte sich. Die Frau wusste offenbar nicht nur, wovon sie sprach, sie machte sich ernsthafte Sorgen um ihre Patientin. Gewiss, Isis war nebenher auch ein interessanter Fall, der wahrscheinlich das akademische Interesse der Therapeutin weckte und ihre Fähigkeiten allein schon deswegen herausforderte. Aber das störte ihn nicht.

»Haben Sie alle Gespräche mit Isis aufgezeichnet?«

»Nein, das wollte sie nicht. Ihre Bereitschaft, sich auf mich einzulassen, schwankte von Sitzung zu Sitzung. Mal war sie sehr offen und bat um Hilfe, manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie sich selbst gerade gezwungen hatte herzukommen. Ich will Ihnen ehrlich sagen, dass wir noch am Anfang der Therapie standen und ich noch dabei war, über sie zu lernen. Über Ihre ganze Spezies.«

Spezies, dachte Ra mit unbewegtem Gesicht. Das war eine Annahme, die sich erst noch zu bestätigen hatte.

»Immerhin verstehe ich Ihre alternative Hypothese jetzt gut«, sagte Anubis. »Vielleicht wurde sie gar nicht entführt, sondern inszenierte ihr Verschwinden, um sich selbst möglichst effektiv aus der Affäre zu ziehen – auf der Suche nach einer Erkenntnis über sich selbst oder so was.«

»Oder so was«, erwiderte die Therapeutin lächelnd. Dann wurde sie wieder ernst. »Erlauben Sie mir die Frage: Hat jemand von Ihnen je solche Träume gehabt oder überhaupt Träume irgendeiner Art? Ich weiß, dass sie beide nicht meine Patienten sind, und bin natürlich nicht böse, wenn sie sich weigern sollten …«

»Nein«, antworteten Rau und Anubis aus einem Mund und ohne lange zu überlegen. »Keine Träume.«

Achat nickte, dann zuckte sie mit den Achseln.

»Das ist alles, was ich Ihnen anbieten kann. Es tut mir leid, dass ich nicht mehr zu sagen habe.«

»Doktor, wenn Isis weiter bei Ihnen in Behandlung geblieben wäre, welchen Ansatz hätten Sie versucht?«

Achat nickte langsam, wirkte sehr nachdenklich. »Ich muss ehrlich sagen, dass ich es nicht genau weiß. Da eine im engeren Sinne medizintechnische Untersuchung aus den bekannten Gründen nicht infrage gekommen wäre, hätte ich mich in jedem Fall auf gesprächstherapeutische und verwandte Techniken verlassen müssen. Es wäre ein sehr langer Prozess mit ungewissem Ausgang geworden. Ich bin gleichermaßen froh wie traurig, dass ich ihn nicht habe fortsetzen können. Wenn Sie Isis finden sollten – was ich wirklich hoffe! –, dann richten Sie ihr bitte aus, dass ich jederzeit für weitere Sitzungen zur Verfügung stehe, wenn sie dieser bedarf.«

Ra erhob sich. »Das werden wir tun. Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit.«

Das Gespräch war kurz darauf beendet, und die beiden Simipathen verließen die Praxis mit mehr Fragen als Antworten im Gepäck. Als sie schließlich zusammen im Gleiter saßen, der sie zurück zum Hauptquartier bringen würde, sprach Anubis. Er wirkte bedrückt, was bei ihm sehr selten vorkam.

»Ra, ich habe gelogen.«

Ra schaute ihn fragend an. »Gelogen? Worüber?«

»Die Träume. Ob wir Träume hatten wie Isis. Ich weiß nicht, wie es dir geht … aber ich hatte welche. Weniger oft als Isis offenbar, und nicht halb so belastend, vielleicht auch noch vager. Ich bin nicht wie sie, ich bin wie ich. Aber die Träume sind da. Es … irritierte mich bisher nur. Jetzt mache ich mir ernsthafte Gedanken, ob darin noch alles in Ordnung ist.« Er tippte sich an den Kopf, was angesichts seiner Anatomie eher eine zu seinem aktuellen Körper passende Geste war.

»Du hättest es erwähnen sollen!« Ra fühlte sich unangenehm berührt. Anubis war niemand, der gerne persönliche Schwächen und Defizite zugab. So etwas war für ihn ein schwerer Schritt.

»Wozu? Die Frau kann offenbar nicht helfen. Aber das Schlimme ist: Soweit ich mich erinnern kann, habe ich mehr oder weniger das Gleiche wie Isis geträumt. Und das kann kein Zufall sein, Ra. Das ist keine individuelle psychische Belastung. Wenn Isis sich selbst aus dem Spiel genommen hat, dann nicht, weil sie eine sehr persönliche Krise hatte – es betrifft uns alle.«

»Ich träume nichts.«

»Das ist gut. Aber wir sollten mit Horus reden. Ich bin sehr, sehr beunruhigt.«

Das war ein Punkt, in dem Ra ihm nicht widersprechen konnte.