Eradus Hanteren war ein Kloxl und gehörte damit einer vom Aussterben bedrohten Spezies an. Kloxl stammten von einer sehr heißen Welt, sie ertrugen andere klimatische Bedingungen nur mit großer Mühe, und ihrem Heimatplaneten drohte aufgrund erratischer Strahlungsausbrüche seiner alten Sonne der sichere Tod. Die Bevölkerung vor Ort hatte sich bereits vor dem Athir-Krieg halbiert, ein Bombardement durch den Feind war ebenfalls nicht hilfreich gewesen. Kloxl außerhalb ihrer Heimat waren nur dort anzutreffen, wo die Temperaturen so hoch waren, dass es außer ihnen kaum jemand aushielt – oder, wenn man wie Hanteren dermaßen entsetzlich reich war, dass man sich einen hochspezialisierten Exoanzug leisten konnte, der gleichermaßen funktional wie bequem war. Tatsächlich hatten sich die Designer größte Mühe gegeben: Das dünne Isolationsmaterial umgab den plumpen, flachen Körper des Industriemagnaten mit der optischen Illusion eines Geschäftsanzuges, wie ihn ein Kloxl eben tragen würde. Aus den wenigen Öffnungen, die Hanteren fürs Atmen benötigte, stieg ein sanftes Flirren erhitzter Luft. Die flachen Hitzegeneratoren waren kaum erkennbar und arbeiteten offenbar sehr zuverlässig. Hanteren war dafür bekannt, stundenlangen Sitzungen beiwohnen zu können, ohne das geringste Anzeichen von Unwohlsein zu zeigen.
Er war, das musste Sahir McKinnon zugeben, ein heißer Typ.
Sie hatten gerade erst die Villa betreten, und das war bereits ein spezielles Erlebnis gewesen. Das grandiose Bauwerk wurde von Suspensoren zehn Meter über dem Erdboden gehalten, ein schwebendes Schloss mit fünf schneeweißen Türmen, auf denen vollautomatische Gausskanonen rotierten. Ein Palast für sehr wehrhafte Prinzessinnen, das war Sahirs erste, sehr despektierliche Assoziation gewesen.
»Schön, dass wir Fortschritte machen«, sagte Hanteren mit der sanft modulierten Vokoderstimme seines Anzugs. Kloxl kommunizierten nicht über Schallwellen, sie besaßen gar kein passendes Organ dafür, sondern verwendeten eine Art Radarorgan, wobei natürlich ihre eigene Spezies auch über ein geeignetes Empfangsgehör dafür verfügte. Sie konnten auch Schallwellen wahrnehmen – es war gut, zu wissen, wenn ein tosender Hitzesturm sich näherte –, benötigten aber einen Umwandler, um sich auf diesem Weg Gehör zu verschaffen. Hanteren wählte eine Stimme, die künstlich klang, keine perfekte Simulation, ein bewusster Akt der Distanz, eine Betonung seiner Andersartigkeit in einem Kontext, in dem Schall das Kommunikationsmittel der Wahl war.
Hanteren war etwas Besonderes. Er war nicht nur sehr wohlhabend, er versuchte nicht einmal ansatzweise, durch irgendwelche Philanthropie davon abzulenken. Sein Geld war sein Geld. Wer damit nicht zurechtkam, konnte ihm gestohlen bleiben. Das galt offenbar auch für das Verhältnis zu seiner verstorbenen Gattin. Es musste schön gewesen sein, mit ihm vermählt gewesen zu sein.
»Wir sind gekommen, um einige Details abzuklären, und ich wollte Ihnen Ra persönlich vorstellen, der Ihre Gattin geben wird.« McKinnon wies auf den Simipathen, der ihn begleitete, wie immer in seinem menschlichen Alltagskörper, unauffällig und unaufdringlich. Kurz geschorene Haare, ein fast symmetrisches Gesicht, blaue Augen, von mittlerer Größe, keine Narben, keine Tätowierungen, keine außergewöhnliche Bartzier. Nicht hässlich. Nicht schön. Eine Quintessenz der Durchschnittlichkeit.
Ra deutete eine Verbeugung an, die Hanteren geflissentlich übersah. Der Simipath war für ihn ein Ausführender, ein Untergebener, und solchen Gestalten widmete er offenbar nur die allernötigste Aufmerksamkeit. McKinnon hatte sich über den Führungsstil dieses Kloxl informiert und war froh, für Minarel zu arbeiten, selbst wenn Hanteren dem Vernehmen nach gute Arbeit auch gerne gut entlohnte.
»Gut. Hier entlang. Setzen wir uns. Etwas zu trinken?«
»Nein danke.«
Das Wohnzimmer in Hanterens Villa war großzügig geschnitten und konnte allein bereits eine veritable Cocktailparty beherbergen, von den restlichen Räumlichkeiten einmal ganz abgesehen. Das Erdgeschoss war der halb öffentliche Raum, in dem Besucher empfangen wurden, die Privatgemächer befanden sich im ersten Stock, in den Normalsterbliche selten vordrangen. Dort war E’a Hanteren verstorben, und dort wurde ihr Leichnam in einer Stasisblase vor dem Verwesen bewahrt.
»Wir gehen in die Lounge. Hier entlang.«
»Haben wir denn für die Museumseröffnung eine klare Bedrohungslage?«, fragte McKinnon, der sich darüber wunderte, wie man sich in so einem Palast wohlfühlen konnte.
»Bedrohungslage? Es ist die Verwandtschaft, die mir auf den Fersen ist«, erklärte der Multimilliardär mit einem künstlich verstärkten Unterton herzlicher Abneigung. Heiße Schwaden entfleuchten den Atemöffnungen seines Exoanzugs und ließen die Luft über ihm flimmern. »Sie wollen alle nur mein Geld oder in diesem Falle das Geld meiner Frau.«
Es war wohl so, dass er nicht mit vielen über sein Leid reden konnte, vor allem, da selbst viele enge Mitarbeiter der Ansicht waren, die gute E’a sei etwas kränklich, aber im Grunde guter Dinge. McKinnon warf einen bezeichnenden Blick auf Ra. Der Simipath war sehr entspannt, nachdem sich am Vorabend Horus noch eingefunden hatte, der ganz harmlos in der Stadt unterwegs gewesen war. Er hatte sich gewundert, was für ein Aufheben um ihn gemacht wurde, und ein wenig zu viel Amüsement für McKinnons Geschmack gezeigt.
Bei ihnen allen lagen die Nerven langsam blank. Ra und Anubis aber waren schlicht erleichtert gewesen, wo McKinnon sich genervt gezeigt hatte.
»Alle Verwandten?«, fragte Ra.
»Alle, die mit uns oder meiner Gattin einen nennenswerten Umgang pflegten. Wir Kloxl sind nicht mehr viele, aber wir unterhalten weitgespannte Verwandtschaftsverhältnisse. Leider. Da wären Onkel, Tanten, vor allem aber meine eigene verzogene Nachkommenschaft, nicht zuletzt und vorneweg meine absolut verwöhnte Tochter A’ja, die ihren grotesken Lebensstil bereits jetzt auf meine Kosten finanziert, das dumme Luder. Nichtsnutze, allesamt. Schmarotzer. Ich bin stets aufs Neue angewidert von ihnen allen.«
Ja, Hanteren war ein liebender Vater, anders konnte man es nicht sagen. Es fiel McKinnon schwer, professionelle Höflichkeit zu bewahren, denn er fand Hanterens Haltung sehr befremdlich, gerade als jemand, dem die Segnungen einer eigenen Familie bisher vorenthalten worden waren.
»Schmarotzer!«, bekräftigte der Geschäftsmann und stieß erneut heiße Wolken der Empörung aus. »Alle warten sie nur darauf, dass meine Frau stirbt und sie dann als Vorstandsmitglieder in dieser bekackten Stiftungsidee meiner grenzdebilen Gattin im Rat sitzen und sich gegenseitig die Kohle reinpfeifen können, anstatt dass ich sie sinnvoll investiere und damit zum Wohle der Firma tätig sein kann. Aber das werde ich zu verhindern wissen! Bald ist es so weit!«
Sie betraten den mit Marmor und edlem Terrakottazierrat ausgekleideten Hauptsaal der Villa. Mitten im Raum stand ein künstlicher Brunnen, in dem nicht Wasser, sondern Wein sprudelte, weil Hanteren nun einmal Wein mochte. Marmorstatuen standen an den Wänden. Hanteren in der Pose mythischer Kloxl-Helden, angetan mit diversen traditionellen Gewändern. Dutzende von ihnen, überall verteilt. Egal, wo man hinsah, man sah nur ihn, und die Statuen schienen jeden Besucher mit ihren Blicken zu verfolgen. McKinnon verstand den Mann jetzt gut. Wenn man das viele Geld nicht in schwebende Schlösser mit Weinbrunnen und Statuen von sich selbst investieren konnte, war jedes Erbe wohl automatisch verschwendet.
Da er aber zumindest einen Gutteil in die Hilfe von »Allgemeine Dienstleistungen« zu transferieren gedachte, wollte der Dispatcher nicht meckern. So hatte jeder was davon, außer der notleidenden A’ja natürlich.
»Noch achtzehn Standardtage, und meine Gattin kann offiziell für verstorben erklärt werden. Dann hat diese Hängepartie ein Ende, denn dann gilt die Klausel im Testament nicht mehr, und das Geld geht dorthin, wo es hingehört: zu mir!«, erklärte Hanteren. »Es wird immer schwerer, sie zu verbergen, egal, welche Ausreden ich mir einfallen lasse. Vor allem die Verwandtschaft, aber auch ihre Rechtsanwälte, allerlei andere Aasgeier, alle wollen sie sprechen und einen Lebensbeweis haben. Man vertraut mir nicht!«
McKinnon nickte. Er bewahrte die Fassung, so gut es ging. Hanterens Einschätzung stand hier nicht zur Debatte.
»Jetzt diese Eröffnung. Ein Ereignis von Rang. Wäre mir völlig egal, aber sie saß im verdammten Kuratorium dieses bescheuerten Museums, hat zu Lebzeiten endlose Summen für den Ankauf neuer Ausstellungsstücke gespendet, da wird einem echt schwindelig, wenn man nur daran denkt. Sie muss auf dem Empfang auftauchen, sonst wird die Gerüchteküche so heiß, dass selbst ich mich verbrenne.« Hanterens Exoanzug konnte sein Gesicht gut nachbilden, und so zeigte er jetzt ein selbstgefälliges Grinsen, da der Magnat offenbar sehr über seinen eigenen Wortwitz erfreut war. McKinnon grinste pflichtschuldig. Er war sich nicht zu schade für etwas Schleimerei, das machte seine Arbeit oft … friktionsfrei.
»Ra hier hat schon viele Empfänge mitgemacht. Ich versichere Ihnen, er wird Ihre Frau überzeugend darstellen. Wir müssen aber noch mal alle potenziellen Begegnungen durchsprechen und die Vorgeschichte, die Ihre Gattin mit der einen oder anderen Person teilt. Dann wird Ra perfekt sein.«
»Ich habe Ihnen alles aufgeschrieben!«
»Dafür sind wir auch sehr dankbar. Wir müssen trotzdem noch einige Details persönlich besprechen. Wir sind gerne gut vorbereitet.«
Hanteren warf dem Simipathen einen abschätzenden Blick zu. »Sie redete nicht viel, das wird helfen. Aber es gibt schon eine Liste von Persönlichkeiten, mit denen sie plaudern muss, denn das wird von ihr erwartet. Nichts Wichtiges. Belangloses Zeugs, blabla, Kunst, Kultur, intellektueller Scheißkram, das Übliche also. Die Direktorin des Museums kann unentwegt über so was reden, und meine Frau fand das sogar interessant. Kann der Simipath intellektuellen Scheißkram?«
»Ich verfüge über eine ausgezeichnete Allgemeinbildung und lerne schnell. Wenn Sie mir die bevorzugten Scheißkramthemen aufzählen können, werde ich in diesen sehr versiert sein.«
Hanteren starrte den Simipathen an, blieb unwillkürlich stehen. Ra hatte im exakt richtigen Tonfall und der Stimmlage der Toten gesprochen, erlernt aus Aufzeichnungen, denen er sich bereits intensiv gewidmet hatte. Das verfehlte nicht seine Wirkung. Hanteren war beeindruckt, McKinnon sah es ihm an. Er nickte Ra anerkennend zu. Das hatte geholfen.
»Nun gut. Das war jetzt schon mal nicht schlecht«, knurrte der Milliardär und wischte seine kurzzeitige Überraschung zur Seite. »Wir setzen uns dorthin. Drinks? Ich hab alles da.«
McKinnon bestellte sich einen Whisky, er war sich nicht zu schade dafür, Einblick in Hanterens sehr erlesene Sammlung zu bekommen. Der Geschäftsmann bellte Anweisungen, und ein Serviceroboter kam herangesummt, ehe sie überhaupt Platz genommen hatten. Hanteren war ein Mann, der Effizienz schätzte, so viel war klar.
Der Kloxl zeigte auf eine Gruppe von Formsesseln vor der Nachbildung eines Kamins. Darüber hing ein überlebensgroßes Porträt von Hanteren ohne Exoanzug, ein tiefschwarzes Gesicht mit großen, ausdrucksvollen Augen, die lamellenförmigen Hitzewimpern weit geöffnet, diesmal aber ohne Heldenpose und ohne historische Gewänder. McKinnon war sich sicher, dass die Darstellung idealisiert war, aber das Bild vermittelte trotzdem die Härte und Kälte eines Mannes, der vor allem sich selbst als Mittelpunkt des Universums sah und auch so handelte. Solche Leute waren unter der Kundschaft von »Allgemeine Dienstleistungen« leider eher die Regel als die Ausnahme, also hatte sich der Dispatcher ein dickes Fell um Umgang mit ihnen zulegen müssen.
»Ich würde mir gerne die privaten Räumlichkeiten der Verstorbenen ansehen!«, sagte Ra. »Es hilft mir, einen Eindruck von ihrer Persönlichkeit zu erlangen.«
»Einverstanden, wenn es hilft. Nehmen Sie meinen privaten Aufzug, dort hinter der Statue, dann laufen Sie auch niemandem über den Weg. Personal haben wir im ersten Stock keines. Ich gebe Ihnen Zugang.« Hanteren drückte eine Stelle an seinem rechten Arm, und offenbar hatte er damit getan, was er versprochen hatte. Ra verbeugte sich und verschwand im Aufzug, wahrscheinlich froh, sich der Gegenwart des trauernden Witwers nicht länger aussetzen zu müssen.
Die beiden Verbliebenen setzten sich. McKinnon führte das Whiskyglas zum Munde, bemühte sich für einen Moment um die richtige innere Einstellung, um das gewiss edle Getränk auch richtig zu würdigen, spitzte erwartungsvoll die Lippen …
»Vater!«
Alle Köpfe drehten sich, aus dem Exoanzug Hanterens kam ein Geblubber, das McKinnon sofort richtig als genervten Seufzer interpretierte. Ein zweiter Exoanzug kam herein, etwas kleiner, drapiert mit modischen Streifen und etwas schriller Farbgebung. Er war an manchen Stellen etwas fülliger als bei einem männlichen Kloxl, zumindest wies es bei dieser Spezies auf das weibliche Geschlecht hin. Die Vokoderstimme war hell und durchdringend, es bedurfte keiner allzu großen Interpretationsgabe, um zu erahnen, dass es sich um den Nachwuchs handelte.
Der Anzug machte es zwar schwer, zu ermessen, wie alt die junge Frau war, die in den Raum eilte, aber McKinnon hatte seine Hausaufgaben gemacht: Hanteren hatte nur eine Tochter, A’ja, und sie war knapp volljährig. Ungeachtet des schlechten Leumunds, den ihr Vater über sie verbreitete, war sie als brillante Studentin der Astrophysik bekannt. Offenbar teilte sie die Leidenschaft ihrer Mutter für die Wissenschaft. Möglicherweise hatte das sofort das Misstrauen ihres Erzeugers geweckt. Ihr Vater war mehr ein Selfmademan, seine tatsächlich Bildungskarriere war unter einem Wust aus Gerüchten, Halbwahrheiten und Beschönigungen verborgen geblieben. Sie war, davon ging McKinnon aus, wohl nicht so besonders ruhmreich.
Das machte nichts. McKinnon hatte auch nie einen Hörsaal von innen gesehen, außer damals an der Status-Universität von Tokol, als man versucht hatte, einen allzu polarisierenden Dozenten zu erschießen. Dem war »Allgemeine Dienstleistungen« zuvorgekommen, zu einer Zeit, als man noch für Normalsterbliche bezahlbare Honorare verlangt hatte. McKinnon hatte damals einige Zeit mit dem Professor zugebracht und war zu dem Schluss gekommen, dass er den Tod verdient hätte. Seitdem hatte er keine Institution höherer Bildung mehr von innen gesehen.
Hanteren erhob sich, breitete die Arme in einer schwachen Willkommensgeste aus.
»Mein Schatz.« Es klang kraftlos.
»Vater, wer ist dein Gast?«, fragte A’ja direkt und sah McKinnon forschend an, der sich ebenfalls aufgerichtet und mit einem gewissen Bedauern das Whiskyglas abgestellt hatte. Er überließ es Hanteren, die Frage zu beantworten, da er nicht wusste, wie der Geschäftsmann die Szene spielen wollte.
»Ein Geschäftsfreund.«
A’ja ließ sich nicht ganz so leicht abspeisen. Sie musterte McKinnon weiterhin mit nahezu sezierender Intensität.
»Ich kenne ihn nicht. Er war noch nie hier.«
»Würdest du dich etwas mehr um das Geschäft kümmern und etwas weniger um deine teuren Hobbys, würdest du ihn sicher kennen.«
A’ja blieb unbeeindruckt, sie hatte diesen Satz gewiss nicht zum ersten Mal gehört. Hanteren hatte auch ihn wieder ohne Energie ausgesprochen, eher resigniert.
»Ich möchte Mamu sprechen. Wir müssen einige Dinge für den Empfang planen. Sie kann sich nicht ewig in ihrem Zimmer verstecken. Sie wird doch dort sein, oder?«
»Gewiss, Engelchen. Aber bedenke bitte eines: Wir organisieren den Empfang nicht, Mausemaus. Wir sind nur Gäste. Deine Mamu ist sehr müde. Du weißt, dass es ihr nicht so gut geht. Die Ärzte …«
»Wer sind diese Ärzte? Du redest dauernd von ihnen, und ich habe sie nie sprechen können. Ich will selbst hören, wie es Mamu geht. Ich will mit ihr sprechen, wenn auch nur für einige Minuten. Ich möchte mich selbst davon überzeugen, Vater. Darauf habe ich ja wohl ein Recht!«
Hanteren blieb erstaunlich ruhig, obgleich er sich gerade auf ganz dünnem Eis bewegte. Er verhielt sich bemerkenswert vorsichtig.
»Engelchen, lass uns ein andermal darüber reden. Du siehst doch, ich bespreche hier wichtige …«
Nein, es war jetzt die richtige Zeit, zumindest nach Auffassung der Tochter, die sich nicht abspeisen ließ und die in diesem Disput sehr fokussiert wirkte. McKinnon kam zu dem Schluss, dass die Beschreibung der jungen Dame durch ihren Vater nicht ganz der Wahrheit entsprach. Sie war ihm gewiss lästig, aber sie war mehr als nur ein verwöhntes Kind.
»Das sagst du immer. Jedes Mal, wenn wir auf das Thema zu sprechen kommen. Ich höre nur Ausreden. Das genügt mir jetzt.« A’ja sah McKinnon an. »Es tut mir leid, dass Sie Zeuge dieser Auseinandersetzung werden. Bitte verzeihen Sie mir.«
McKinnon neigte verzeihend den Kopf. A’ja nahm die Geste zur Kenntnis, konzentrierte sich wieder auf ihren Vater.
»Wo ist Mamu?«
Hanteren zögerte. Er fühlte sich unwohl, sogar bedroht, das war McKinnons Eindruck.
»In ihren Zimmern, unter Aufsicht …«
»Ich glaube, ich störe nur!«, sagte McKinnon und erhob sich. Dies war ein Streit, in dem er keine Rolle spielen konnte, ja nicht einmal durfte. Es war besser, wenn er sich zurückzog.
»Aber nein!«, beeilte sich Hanteren. »Bitte, dies ist gleich vorbei.«
»Es ist vorbei, wenn ich Mutter sehe!«, beharrte A’ja.
»Du wirst Sie heute ganz bestimmt nicht …«
»Engelchen!«
Alle drehten sich um. Von der breiten Treppe, die in den ersten Stock führte, kam eine Gestalt in einem Exoanzug herunter. Sie ging nicht leichtfüßig, sondern schwerfällig, hielt sich mit einer Hand am Geländer fest, wie unter Mühsal. Der Exoanzug war bunt und fröhlich gestaltet, widersprach dem Bild, das die Gestalt abgab, und McKinnon starrte für einen Moment verwirrt auf die Szene, ehe bei ihm der Groschen fiel.
»Mamu!«, rief A’ja, ignorierte ihren wie versteinert dastehenden Vater und eilte auf die Frau auf der Treppe zu, erklomm die Stufen in Windeseile, blieb dann stehen, um die vermeintliche Mutter mit entschiedener Sanftheit zu umarmen. »Oh Mamu!«
»Mein Engelchen«, sagte E’a leise und erschöpft. »Ihr macht hier unten einen ziemlichen Lärm. Ich kann mich so nicht ausruhen.«
»Mamu, ich wollte dich sehen!«
»Und jetzt siehst du mich. Wer ist unser Gast?«
Hanteren reagierte geistesgegenwärtig und zeigte auf McKinnon. »Das ist Sahir McKinnon, ein Geschäftspartner. Wir haben gerade ein gemeinsames Vorhaben besprochen.«
»Du hast immer nur das eine im Kopf, Eradus. Du vernachlässigst unsere Tochter.« Der Vorwurf klang schwach, wie Ra ohnehin dem Körper der Verstorbenen überzeugend den Habitus und die Geschwindigkeit einer ernsthaft erschöpften Kloxl gab. Er hatte seine Rolle gut gelernt und die Gelegenheit genutzt, bei ihrem Auftraggeber Eindruck zu schinden. McKinnon verbarg seinen Stolz, so gut er konnte, aber es war einfach wunderbar, mit Profis zu arbeiten.
»Mamu, wir müssen über den Empfang im Museum sprechen!«
»Schatz, Schatz«, sagte Ra abwehrend. »Ich bin mir sicher, dass alles gut werden wird. Die Direktorin hat das im Griff. Ich werde hingehen und einen kurzen Auftritt haben und dann wieder nach Hause fahren. Ich fühle mich wirklich nicht in der Verfassung, mich intensiver um alles zu kümmern. Bestimmt werde ich nicht den ganzen Abend bleiben.«
»Mamu, die Ärzte …«
»Hör auf die Ärzte. Sie tun, was sie können. Ich wünschte ja auch, es wäre anders, aber es ist, wie es ist. Ich bin sehr krank, Engelchen, und bedarf der Ruhe. Wirklich, ich darf mich nicht aufregen.«
Ra sah Hanteren an. »Sei nett zu A’ja. Sie hat es nun schwer genug.«
Dann drehte sie sich um und begann, die Treppe wieder hinaufzusteigen. Langsam, um die Schwere ihrer Bewegungen zu betonen, aber schnell genug, um keine spontane Hilfsbereitschaft bei der Tochter auszulösen, die etwas hilflos unten stehen blieb, sichtlich enttäuscht, etwas erleichtert und, da verspürte McKinnon tatsächlich in diesem Moment ein schlechtes Gewissen, vollständig betrogen. Sie würde hoffentlich niemals erfahren, dass sie gerade mit jemandem gesprochen hatte, der bereits tot war, und all die emotionale Investition, die sie derzeit empfand, auf der Basis einer Täuschung gemacht wurde.
»A’ja, mein Schatz«, sagte Hanteren und zeigte auf McKinnon. »Wir müssen wirklich das eine oder andere besprechen. Du siehst, Mamu geht es den Umständen entsprechend. Der Empfang wird gut laufen, mach dir keine Sorgen. Bitte, lass mich meine Arbeit tun.«
War es der bittende Tonfall des Industriellen oder die Tatsache, dass die Begegnung mit ihrer Mutter aus A’ja den Kampfgeist vertrieben hatte – McKinnon vermochte es nicht zu sagen. Tatsache war, dass sie sich verabschiedete und ging, sodass die beiden Männer wieder alleine vor dem künstlichen Kamin standen und erst wieder sprachen, als sie definitiv außer Hörweite war.
Hanteren seufzte, und es kam von Herzen.
»Das war sehr überzeugend«, sagte er mit einem bewundernden Unterton. »Nicht perfekt, aber für die Situation gut genug. A’ja hat es abgenommen.«
»Wann wollen Sie ihr die Wahrheit sagen?«
»Sie wird vom Tod der Mutter erfahren, wenn es offiziell ist. Das dauert ja nicht mehr lange. Bis dahin wird die Scharade dank des Einsatzes Ihres Mitarbeiters funktionieren. Ich bin jetzt davon überzeugt. Sehr schön. Sehr, sehr schön.«
Sie setzten sich wieder. Hanteren, der nun offenbar wieder ganz entspannt war und bereit, in weitere Details über die Verhaltensweisen seiner toten Gattin zu gehen, wurde jedoch sogleich von McKinnon unterbrochen, der eine gute Gelegenheit sah, ein ganz anderes Thema an den Mann zu bringen.
Er hielt sein Pad nach vorne und präsentierte dem Kloxl eine Projektion. Hanteren schaute sich den Gegenstand an, es war die Metallscheibe, die Wangman im Club gefunden und analysiert hatte. Auf den ersten Blick gab der Kloxl keinerlei Hinweis darauf, ob er erkannte, worum es sich handelte.
»Warum zeigen Sie mir das, McKinnon?« Das lauernde Misstrauen in seiner Stimme gehörte gewiss zu seinem Beruf. Hanteren wusste nicht, ob hier jemand etwas kaufen oder ihm an den Karren fahren wollte, und er rechnete zweifelsohne mit beidem, und zwar in jeder wachen Sekunde seines Lebens.
»Es handelt sich um ein sehr seltenes Stück Hochtechnologie, das Sie unseres Wissens in Ihrem Angebot haben.« Mit einer wischenden Handbewegung rief McKinnon die bekannten Spezifikationen auf, und Hanteren nickte langsam. Er wusste nun, wovon die Rede war.
»Sie möchten eines kaufen? Das ließe sich arrangieren, aber ich sage Ihnen gleich: Preiswert wird es nicht.« Die Aussicht, einen Teil seines versprochenen Honorars gleich wieder zurückzubekommen, schien den Mann zu beleben.
»Nein, ich möchte wissen, wer es von Ihnen gekauft hat. Oder geliehen. Oder gestohlen.«
Hanteren wäre nicht so weit gekommen, würde er nicht über die notwendige Intelligenz verfügen.
»Es hat etwas mit den Vorfällen zu tun … den kleinen Missgeschicken, die Ihrer Firma zugestoßen sind.«
»So ist es. Eine Spur. Eine von vielen, aber eine sehr deutliche.«
»Sie sehen es als Teil Ihres Honorars an, wenn ich Ihnen diese Auskunft gebe? Meine wichtigste Währung ist Vertraulichkeit, das ist bei mir nicht anders als bei Ihnen, mein Freund. Wenn ich solche Informationen preisgebe, ist das so, als würde ich Ihnen beträchtliche Teile meines Unternehmens überschreiben.«
McKinnon löschte die Projektion. »Niemand wird je erfahren, was Sie uns mitteilen. Wie viele haben Sie davon verkauft?«
Der Kloxl zögerte, aber das war vielleicht auch nur Schauspielerei, um seinen Unwillen zu unterstreichen. Tatsächlich wusste McKinnon, dass der Waffenhändler bedenkenlos andere ans Messer zu liefern bereit war, wenn er daraus einen Vorteil schlagen konnte.
»Keine einzige«, sagte er dann.
»Das kann ich Ihnen nicht glauben, denn wir …«
»Keine von meinen«, bekräftigte Hanteren. »Ich habe durch … Mittelsmänner ein Kontingent von sechs Exemplaren erhalten. Bisher hat sich kein Kunde jemals ernsthaft dafür interessiert. Liegen wie Blei in meinen Regalen. Keine sehr kluge Investition meinerseits. Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.« Er lächelte. »Ich kann Ihnen eins verkaufen, für Sie mit Rabatt, mein Freund.«
McKinnon beugte sich nach vorne. Hanteren hatte überraschend ehrlich geklungen. »Kein einziges Exemplar?«
»Meine Lagerhaltung ist exakt. Wenn ich eines davon veräußert hätte, wäre es mir lebhaft in Erinnerung geblieben.«
»Und Sie haben auch alle noch?«
»Wie meinen?«
Der Kloxl wirkte irritiert, obgleich er absolut wusste, worauf McKinnon hinauswollte. Die ehrabschneidende Vermutung, jemand habe den großen Eradus Hanteren bestohlen, ließ ihn jedoch so tun, als hätte er nicht verstanden.
»Prüfen Sie es nach«, sagte McKinnon.
»Warum sollte ich es …?«
»Das ist der Gefallen für unsere spontane Intervention mit Ihrer Tochter.«
Hanteren seufzte, natürlich zu theatralisch, und machte eine weitere Show daraus, sein eigenes Pad zu aktivieren und in irgendwelchen Datensätzen herumzuwischen, bis er das Gesuchte gefunden hatte. Mit einem triumphierenden Gestus sagte er: »Da. Alles vorhanden.«
»Sagt die Liste.«
»Die Liste hat immer recht!«
»Schicken Sie eine Drohne!«
Wenn Hanteren genervt war, zeigte er es nicht. Tatsächlich schien die Hartnäckigkeit McKinnons in ihm etwas anderes auszulösen, was bei ihm nun einmal zur zweiten Natur gehörte: das ewige Misstrauen. Er benutzte das Pad erneut, und McKinnon konnte vage erkennen, dass offenbar eine bewegliche Kameraperspektive gezeigt wurde, als irgendwo, in irgendeinem Lager auf dieser oder einer anderen Welt, eine Drohne mal nachgucken flog.
Es dauerte nicht lange.
»Verdammt«, murmelte Hanteren, sah McKinnon an. »Woher haben Sie das gewusst?«
»Eine fehlt?«
»Alle fehlen. Alle sechs. Das sind verdammte Attrappen. Das ist unmöglich.«
»Das habe ich bis vor Kurzem auch gedacht. Dann wurde Isis entführt.«
McKinnon erhob sich. Es war in exakt dem Moment, da Ra aus dem Aufzug schritt, wieder ganz der Alte, und sich zu ihnen gesellte. Er nickte McKinnon unmerklich zu, signalisierte damit, dass er für seinen Teil hier fertig war.
»Wir bereiten alles für den Empfang vor«, kündigte der Dispatcher an. Sein Auftraggeber war immer noch verwirrt, obgleich dieses Gefühl jetzt langsam in Zorn umschlug. Er war bestohlen worden. Niemand tat das mit jemandem wie ihm. McKinnon hoffte, diese wütende Entschlossenheit würde ihnen noch helfen. Hanteren war jetzt auch motiviert, die Hinterleute zu finden.
Ein erfolgreicher Besuch.
Ra und er verließen das Anwesen nach einigen weiteren Diskussionen, und das erste Mal seit langer Zeit empfand McKinnon so etwas wie eine leichte Zuversicht. Es fühlte sich gut an, wieder ein wenig initiativ zu werden und nicht wie ein Blatt im Sturm der Ereignisse über den Boden zu trudeln.
»Seltsam«, sagte Ra, als sie zusammen im Gleiter saßen und den Rückweg antraten.
»Was genau?«
»Das Zimmer der Verstorbenen. Ich habe die Zugangscodes gecheckt, außer Hanteren selbst hat dort niemand Zutritt, auch niemand aus der Familie. Ich bin gewiss der Erste, der es außer ihm seit dem Tod der Frau betreten hat.«
»Und?«
»Es ist ein Schrein. Ich kann es nicht anders beschreiben. Da ist die Kühltruhe mit dem Leib der Toten, und drum herum, wie auf einem Altar, sind überall sorgfältig drapiert Erinnerungsstücke an sie, an die gemeinsame Zeit, viele Fotos und Projektionen, Alltagsgegenstände, die eine Bedeutung haben müssen. Auf dem Bett liegt ein Kloxl-Kleid, eine traditionelle Gewandung, wie sie wohl auf Hochzeiten getragen wird. Es spielt permanent Musik im Hintergrund, ich vermute, es handelt sich um die bevorzugten Melodien der Verstorbenen. Eine ganz seltsame, sehr traurige und wehmütige Atmosphäre, mit der sich jemand viel Mühe gemacht hat.«
»Hanteren selbst.«
»Ich wüsste nicht, wer sonst. Er markiert ja den Harten, und er ist ganz sicher ein geldgieriger Arsch, aber ich lehne mich mal aus dem Fenster: Der Tod seiner Frau hat ihn viel tiefer getroffen, als er nach außen hin zugeben möchte. Ich weiß nicht, was zwischen den beiden passiert ist, aber es war zweifelsohne mehr als eine rein repräsentative Beziehung.«
McKinnon schwieg. Er war ein wenig überrascht, vor allem auch über seine eigene emotionale Reaktion. Er hatte in Hanteren den fiesen Industriellen sehen wollen, den rücksichtslosen Patriarchen – und vieles davon war bestimmt wahr. Dass der Kloxl noch eine andere Seite hatte, ärgerte ihn fast. Als ob er es nicht akzeptieren wollte, dass auch jemand wie ihr Auftraggeber mehr Facetten haben konnte als die, die er am liebsten nach außen zeigte.
Ja, er ärgerte sich. Vor allem über sich selbst.