Kapitel 19

Gott, war es hier stickig! War es stickig? Minarel steckte sich einen Finger in den Kragen des Business-Kostüms, das sie für diesen Anlass angezogen hatte. Sie war aber auch müde. Die ausufernde Diskussion am Vorabend nach dem mehr oder weniger gescheiterten Einsatz im Museum hatte sie lange beschäftigt. Am Morgen dann der Anruf bei ihren Anwälten, um diese schon einmal vorzuwarnen, dass Hanteren sich mit Ansprüchen melden könnte. Die Reaktion war eine spontane Einladung ins Büro der Kanzlei gewesen, ein Schritt, der sofort Misstrauen in ihr ausgelöst hatte. Aber sie war gleich hergekommen.

Es war nicht stickig hier. Die Klimaanlage funktionierte hervorragend. Etwas anderes zerrte an ihrem Hals.

Sie räusperte sich. »Sie meinen das nicht ernst, oder?«, brachte sie mit belegter Stimme hervor, eine schwache Verteidigung, die bei ihrer Gesprächspartnerin nicht zündete. Sie griff zum bereitgestellten Glas Wasser und führte es zum Mund, eine Geste der Schwäche. Jetzt war es auch schon egal.

»Wir müssen diesen Schritt leider gehen«, sagte die Frau auf der anderen Seite des gläsernen Konferenztisches mit einem Unterton des Bedauerns, der ehrlich klang, soweit eine Anwältin zu richtigen Gefühlen in der Lage war. Oliviera Joks war eine waschechte Terranerin und sich ihrer hochprivilegierten Stellung innerhalb des Status sehr bewusst, eine, die damit absolut keine Probleme hatte und es auch jeden wissen ließ. Abgesehen von dieser Attitüde war sie als Partnerin der Kanzlei Joks, Kay & Gries in den vergangenen zehn Jahren für die Abwicklung fast aller rechtlichen Prozesse von »Allgemeine Dienstleistungen« verantwortlich gewesen – sowohl zur Zufriedenheit von Minarel als auch zu der von Joks’ Bankkonto. Aber diese wunderbare, auf ehrlichem Respekt und uneigennützigem Vertrauen beruhende Beziehung hatte jetzt anscheinend ihr Ende gefunden.

Es war wohl doch Egoismus im Spiel.

Joks schaffte es, so zu lächeln, dass es Minarel nicht nur stickig vorkam, sondern plötzlich auch noch kalt. Die Frau war wirklich eine exzellente Anwältin, und es war eine ausgesprochene Tragödie, dass Minarel Tarkin nun die Rolle ihres Opfers übernehmen musste.

»Es gibt andere Klienten, die Probleme damit haben, mit Ihnen in Verbindung gebracht zu werden, und sei es nur in unserer Kundenkartei«, sagte Joks, ohne danach gefragt worden zu sein. »Überaus wichtige Klienten, wie ich hinzufügen möchte. Sie haben uns nahegelegt, dass wir uns entscheiden sollen, wen wir behalten wollen. Das ist uns naturgemäß sehr schwergefallen. Wir haben Sie als Klientin geschätzt. Ich glaube, dass wir uns in den vergangenen Jahren oft gegenseitig haben helfen können.« Sie zeigte nun ein wärmeres Lächeln und schien in Erinnerungen zu schwelgen. »Der Auftritt von Horus auf dem Geburtstag meiner Nichte vor drei Jahren war grandios. Sie dachte wirklich, dass Per Bieb persönlich aufgetaucht sei. Er hat sogar wie Bieb gesungen!«

Das war kein großes Kunststück gewesen, denn trotz seines Nimbus als Teenieschwarm konnte Bieb nicht singen, aber das war ja auch nicht der Punkt gewesen. Minarel zwang sich, ebenfalls zu lächeln. Joks’ Bedauern hatte allein damit zu tun, dass sie ein großes Budget verlor, und sie tat es auch nur, um kein noch größeres zu gefährden. Kein singender Simipath konnte daran noch etwas ändern.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Minarel und ihre Verwirrung vermischte sich hörbar mit ihrer Frustration. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem weichen Sessel im Konferenzraum der Kanzlei und sah an Joks vorbei auf das Porträt ihres Vaters, der damals die Firma gegründet hatte.

Der alte Joks schaute streng auf Minarel herab, obgleich er mit seinem dünnen, etwas zauseligen Backenbart gar nicht so beeindruckend aussah. Aber man konnte sich seine Eltern nicht aussuchen, und in diesem Moment wünschte sich Minarel den Rat ihres Vaters herbei. Es wäre möglicherweise kein guter Rat gewesen, aber sie vermisste ihn dennoch. »Wir haben doch nichts getan … wir hatten Pech, gut, aber warum sind wir plötzlich infektiös geworden? Wir sind ohne Zweifel ein Opfer widriger Umstände. Ein Großteil der Öffentlichkeit weiß nicht einmal, dass wir existieren.«

»Aber der Teil der Gesellschaft, auf den es ankommt, weiß es sehr wohl. Ich vertrete schließlich nicht Hinz und Kunz.« Joks verzog das Gesicht, als wäre sie beleidigt worden. Allein der Gedanke, den Pöbel anwaltlich zu repräsentieren, schien Ekel in ihr auszulösen. »Und man weiß dort auch, was Sie wissen – oder ahnt es zumindest. Unangenehme Geheimnisse, die Sie notwendigerweise bei vergangenen Tätigkeiten aufgeschnappt haben. Ihr Fundament wackelt, ihr Ansehen bröckelt. Das überträgt sich leider auch auf unsere Kanzlei. Da muss ich die Konsequenzen ziehen.«

»Es gibt an unserer Diskretion keinen Zweifel.« Minarel fand genug Energie in sich, um diesen Satz gleichermaßen trotzig wie empört klingen zu lassen. Sie würde damit hier niemanden beeindrucken, aber sie war nicht bereit, sich einfach auf den Rücken zu legen und zu heulen.

Joks nickte ernsthaft. Diskretion verstand sie und wusste, wie wertvoll sie war. Sie konnte das beurteilen. »Das ist auch nicht der ausschlaggebende Punkt, Direktorin Tarkin. Ich glaube, es geht eher um die Frage, was passiert, wenn andere, die über Macht verfügen, Zugriff auf Ihre Aufzeichnungen bekommen sollten, weil es nicht mehr anders geht – und welche Kollateralschäden daraus entstehen.«

»Andere?«

»Die Polizei. Das Amt. Oder gar jene, die Ihnen all das hier eingebrockt haben und vor denen man ganz offensichtlich Angst haben muss.«

Minarel sah Joks erstaunt an. Es war doch genau diese Gefahr, vor der Joks, Kay & Gries sie eigentlich bewahren sollte. Und es war genau diese Gefahr, vor der eine große und einflussreiche Kanzlei nun zurückschreckte? Minarel fühlte sich nicht einfach nur überrumpelt, sie fühlte sich überwältigt! Oliviera Joks ging ganz offensichtlich der Arsch auf Grundeis! Unter all der professionellen Arroganz wollte die Anwältin am Ende nur eines: davonlaufen, bevor sie mit runtergezogen wurde. Das hatte Minarel in dieser Klarheit nicht erwartet.

»Wir benötigen Rechtsschutz«, beharrte Minarel. »Wir haben einen gültigen Vertrag.«

»Mit einer eindeutigen Kündigungsklausel. Es gibt keinen Kontraktionszwang. Es gibt viele Rechtsanwälte. Sie können sich einen anderen suchen. Den stehenden Vorschuss erhalten Sie natürlich zurück. Ihre neue Vertretung bekommt alle Unterlagen, sobald Sie mir die Kanzlei genannt haben. Vom Geld ist aber nach den Aufträgen der letzten Wochen nicht mehr allzu viel übrig.«

Minarel war sich sicher, dass Joks dafür gesorgt hatte, dass dem so war, ehe sie sich zur Kündigung entschlossen hatte. Die steife, zugeknöpfte Rechtsgelehrte war tief in ihrem Herzen ein geldgieriges Luder. Es wäre eine Wohltat gewesen, sie loszuwerden, wenn sie nicht gleichzeitig so furchtbar brillant wäre.

»Einen anderen Anwalt aussuchen?«, hakte Minarel nach, beugte sich nach vorne und nahm eine aggressive, anklagende Körperhaltung ein, die von Joks mit professioneller Kälte ignoriert wurde. »Das meinen Sie doch wohl nicht ernst? Wenn Sie uns rauswerfen, wird uns jede Kanzlei von Rang die Tür vor der Nase zuknallen. Was uns bleibt, sind betrunkene Winkeladvokaten, denen sowieso alles egal ist! Aber die sind uns keine Hilfe! Die machen alles nur noch schlimmer!«

»Ich verstehe, dass Sie ungehalten sind. Keine Sorge. Ich habe ein paar Namen vorbereitet, an die Sie sich wenden können. Die Kanzlei von Weimann Interstellar …«

»… ist gerade mit knapper Not einem Verfahren zwecks Ausschluss aus der Anwaltskammer entkommen und umgezogen. In sehr, sehr kleine Geschäftsräume. Verdammt, das war in den Nachrichten. Mit Aufnahmen von flackerndem Blaulicht und Leuten, die abgeführt wurden!«

Joks lächelte. Natürlich freute sie das, es waren mal ernsthafte Konkurrenten gewesen. Minarel half das aber nicht weiter. Dieser ganze Vorschlag war nur als kleine Gehässigkeit zum Abschied zu bewerten.

»Ein leichter Rückschlag für die Kanzlei. Umso mehr wird sich Weimann Interstellar jetzt zu profilieren versuchen.«

»Ich sehe schon, dass Sie mir wirklich nicht mehr weiterhelfen wollen. Ich …« Minarel fing ihren Satz wieder ein, ehe er den Mund verließ. Sie spürte, dass sie kurz davor war zu betteln. Es war keinesfalls so, dass sie sich dafür zu schade war. Sie war jederzeit zur Selbsterniedrigung bereit, wenn sie dadurch Schaden von sich und den Ihren abwenden konnte. Minarel war nicht eitel genug, um darin etwas Schlechtes zu sehen. Aber es gab Menschen, vor denen konnte man auf dem Boden herumkriechen, und sie würden nicht mehr als freundliche Aufmerksamkeit zeigen, ohne ein Jota von ihrer Entscheidung abweichen.

Minarel kannte Oliviera Joks gut genug, um zu wissen, dass sie in diese Kategorie fiel.

»Ja?«, fragte die Anwältin, beinahe erwartungsvoll im Tonfall. Jetzt, wo die unangenehme Entscheidung gefallen war, schien sie die ganze Situation sogar ein bisschen zu genießen. Es war reine Zeitverschwendung, dieses Gespräch fortzusetzen.

»Nichts. Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen! Sollten wir kurzfristig eine neue Vertretung finden, melde ich mich. Ansonsten überstellen Sie alle Unterlagen und die Endabrechnung bitte an uns«, erwiderte Minarel und erhob sich.

Es lag ihr noch so manches auf der Zunge, vor allem nach einer so langen Geschäftsbeziehung, in der man gemeinsam so manche Krise gemeistert hatte. Ihre Worte wären nicht schmeichelhaft gewesen, sondern anklagend. Sie war verletzt, fühlte sich verraten. Aber sie behielt diese Worte für sich, verbarg sie hinter kalter Freundlichkeit. Diese Fassade von Gelassenheit bewahrte sie, bis sie die Räumlichkeiten der Kanzlei verlassen hatte.

Unten im Foyer begab sie sich in den Waschraum, stellte sicher, dass sie niemand sah, und starrte ihr Gesicht im Spiegel an. Jedes Stressfältchen schien im klaren Licht der Neonlampen wie abgezirkelt. Natürlich war es ein alberner Stereotyp, aber der Eindruck, dass sie in den letzten Wochen um Jahre gealtert war, wollte sich ihr dennoch aufdrängen.

Zumindest fühlte sie sich so. Fast eine Minute verharrte sie, starrte sich selbst an. Sie ergab sich dem Gefühl, dass das Universum um sie herum zusammenzufallen schien und dass es für sie keinen Ausweg mehr gab. Man hatte sie in die Ecke gedrängt. Niemand war noch bereit, ihr zu helfen.

Ah, dachte sie. Selbstmitleid. Eine verständliche, aber wenig hilfreiche Reaktion. Sie musste sofort damit aufhören, ehe es von ihr Besitz ergreifen und sie in eine tiefe Lähmung stürzen würde.

Mit mechanischen Bewegungen spritzte sich Minarel etwas kaltes Wasser ins Gesicht. Es klärte weder ihre Gedanken, noch besserte es ihre Stimmung, aber das Gefühl von Frische verankerte sie wieder in der Realität. Sie konnte dadurch verhindern, noch tiefer in Grübelei und Schwermut zu versinken.

Ihr Vater hatte zum Ende seines Lebens viele dissoziative Phasen gehabt, war anwesend gewesen, aber mit seinen Gedanken ganz woanders, vor allem dann, wenn er mit Dingen konfrontiert wurde, die er nicht mehr hatte verarbeiten wollen oder können. Minarel hatte früh gelernt, ihn aus diesen Phasen wieder herauszuholen, ehe er sich ganz in ihnen verlor. Die damals gelernten Techniken wendete sie nun mit Erfolg auch an sich selbst an. Dinge bewusst wahrnehmen. Eindrücke zählen. Wie viele Gegenstände hier waren blau? Was für Geräusche hörte sie? Die Realität kehrte zu ihr zurück, und sie zur Realität. Es war nicht alles gut, aber sie konnte damit umgehen.

Nasses Gesicht.

Es gab hier kein Handtuch. Sie drehte sich um. Nur einen verdammten Heizlüfter. Sollte sie ihr Gesicht in einen Heizlüfter halten? Warum waren moderne Waschräume eigentlich nicht für gerade noch abgewandte Nervenzusammenbrüche ausgestattet? Sie trocknete ihr Gesicht unzureichend mit einem Taschentuch und sah danach mit ihrer geröteten, feuchten Haut aus, als hätte sie gerade einen Weinkrampf gehabt. Das war nun mal nicht zu ändern. Minarel beschloss, so viel Würde wie möglich auszustrahlen, wenn sie diesen Ort verließ, und straffte die Schultern.

Minuten später saß sie in ihrem Gleiter und ignorierte die hartnäckige Frage der Flugautomatik nach dem Ziel für einen Moment. Sie mochte es, im abgeschlossenen, verriegelten Leib des Fahrzeugs zu sitzen, denn es vermittelte ihr ein Gefühl von Schutz und suggerierte ihr, dass sie alles unter Kontrolle hatte. Eine Empfindung, die ihr außerhalb dieser kleinen Welt allmählich abhandenkam. Besonders jetzt, da Joks’ Kündigung all die Mauern in die Luft gejagt hatte, die ihre Firma umgaben. Der Kontrast von drinnen und draußen war gerade besonders schmerzhaft.

»Minarel?«

McKinnons Stimme riss sie aus ihrer trügerischen Sicherheit. Für einen winzigen Moment empfand sie Zorn darüber, aber sie wischte diese Emotion beiseite. Er konnte nichts dafür.

Minarel aktivierte die Komeinheit. »Sahir.«

»Wie lief es? Du siehst übel aus.«

»Genau so lief es. Beschissen. Vergessen wir Joks, die ist für uns Geschichte.«

»Es tut mir leid, aber …«

»Was ist los?« Herumdrucksen half jetzt auch nicht.

»Eine Inspektorin der Polizeibehörde ist hier. Wegen des kleinen Feuergefechts neulich. Sie würde dich gerne sprechen. Sie ist sehr beharrlich und will warten. Ich glaube nicht, dass ich sie abwimmeln kann.«

Minarel verzog das Gesicht. »Sprechen oder verhaften? Mittlerweile glaube ich, dass alles möglich ist.«

Sahir lächelte traurig. »Ganz sicher bin ich mir nicht, um ehrlich zu sein.«

»Ich bin unterwegs. Biete ihr einen Kaffee an.«

»Sie hatte schon zwei. Sie will nur noch eines: dich. Soll ich noch irgendwas anderes vorbereiten?«

»Nein. Lass uns erst einmal hören, was sie auf dem Herzen hat.«

Sahir McKinnons Gesicht verblasste, aber es war ihm anzusehen, dass er diesbezüglich keine große Zuversicht empfand.

Der Gleiter hob ab, nachdem Minarel ihm den Startbefehl gegeben hatte. Es schien, als hätte der heutige Tag seinen Tiefpunkt noch nicht erreicht.