KAPITEL 1
Anna-Maria Callini legte die Kleidungsstücke auf die Ottomane. Glatt und ordentlich. Die Bluse ganz nach oben, darunter den Rock. Der BH kam auf die Bluse, die Unterhose auf den Rock, die halterlosen Strümpfe in voller Länge ausgestreckt daneben. Sie stellte die Schuhe auf den Boden davor und hängte das Jackett auf den Kleiderständer. Die Handtasche legte sie auf den Tisch. Dann inspizierte sie das Ensemble mit kritischen Augen. Der schmale, eng anliegende stahlgraue Rock von Armani, die weiße Bluse, das graue Jackett von Prada und die rote Handtasche von Louis Vuitton. Dazu die Schuhe – von Manolo Blahnik – mit den Metallabsätzen. Das Set hatte sie sich auf ihrer letzten Reise in New York für gut fünftausend Euro gekauft. Merkwürdigerweise fühlte sie sich bei dem Anblick all der Sachen jetzt irgendwie billig. Als würde er ihre luxuriöse Fassade sofort durchschauen können. Aber wenigstens war sie für morgen vorbereitet. Und spürte, wie sich der Stress allmählich legte.
Sie zog die Tagesdecke vom Bett, kroch unter die Decke und legte sich mit einem Seufzer auf den Rücken. Wichtig war nur, dass sie schlafen konnte. Sie brauchte ihren Schönheitsschlaf. Sie stellte sich den Wecker, überprüfte ihn zweimal und schaltete dann das Licht aus. Sie wollte nur diese Nacht hinter sich bringen. Und ihn dann endlich wiedersehen. Eine Weile kämpfte sie gegen die innere Unruhe und Ungeduld an, aber dann gelang es ihr, sich zu entspannen.
Ihre Gedanken wanderten zurück zu ihrer ersten Begegnung. Dort blieben sie hängen. Wie immer. Ihre Haut kribbelte, Erregung pochte im Unterleib. Sie schob ihre Hand unter die Decke und befriedigte sich. Aber auch das half nicht.
Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie sich dumm angestellt. Ihr waren die Knie weich geworden, und sie hatte gezittert. Das würde ihr dieses Mal ganz bestimmt nicht passieren. Damals hatte sie keine Chance gehabt, sich vor dem Sturm in Sicherheit zu bringen, mit dem Franz Oswald in ihr Leben eingedrungen war. Trotzdem beschlich sie das unruhige Gefühl, dass sie sich veränderte. Diese quälende Stimme im Hinterkopf. Sie war zur fiesen Bitch im Gerichtssaal geworden, zu einer Unerbittlichen. Sie hatte die Zeugin, die vor Oswald zu einem zitternden Angsthäschen wurde, vor allen demontiert.
Alles hatte damit angefangen, dass sie die Verfahrensakte durchgelesen hatte und ihr in den Unterlagen ein Foto von ihm in die Hände gefallen war. Dieser Blick. Natürlich kannte sie ihn aus der Zeitung, sein Foto war überall zu sehen gewesen. Die Tatsache, dass sie seine Anwältin sein sollte, machte daraus aber etwas Persönliches.
Schon vor ihrem ersten Treffen hatte sie sich wie magnetisch von ihm angezogen gefühlt. Dieses Gefühl hatte auch noch im Wagen auf dem Weg in die Untersuchungshaft angehalten. Vor Anspannung hatte sie Kopfschmerzen bekommen, die nicht verschwinden wollten. Wie ein warnendes Flüstern in der Peripherie.
Ihr blieb der Atem weg, als sie die Tür zum Besprechungszimmer öffnete. Er saß mit ausgestreckten Beinen auf seinem Stuhl. Das schwarze Haar lag auf seinen Schultern und
verlieh ihm etwas Adonishaftes. Der Geruch seines Rasierwassers lag in der Luft und überdeckte den Gestank des Putzmittels.
Sie trat ins Zimmer und ging auf ihn zu, als plötzlich ihre Beine nachgaben und sie sich an der Lehne des Besucherstuhles festhalten musste. Was dann passierte, spielte sich in der Folge immer und immer wieder in ihrem Kopf ab. Sie sah, wie sich der Stoff seines T-Shirts über die breiten Schultern spannte, während er sich erhob. Ihr Blick klebte an seinem Körper und konnte sich nicht losreißen. Sie fühlte sich unbeholfen und linkisch, gleichzeitig fuhr ihr ein unangenehmer Gedanke wie ein Blitz durch den Kopf. Es ging um die Wahrung des professionellen Abstands zu einem Klienten.
Nachdem sie sich hingesetzt hatte, erklärte er ihr detailliert, wie der Ablauf für sie beide aussehen würde. Das Gerichtsverfahren und die Zeit seiner Gefängnisstrafe, sofern es dazu kam. Danach würden sie sich privat häufiger sehen. Das hatte er ihr versprochen. Dazu kam das schwindelerregende Honorar, das er mehr oder weniger im Vorbeigehen erwähnte. Eine Summe, bei der sie um ein Haar einen Herzstillstand bekommen hätte. Sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Es rauschte in ihren Ohren, ihr brach der Schweiß aus, ihr Mund war wie ausgetrocknet.
»Alles in Ordnung?«, hatte er besorgt gefragt.
»Ja, natürlich, alles in Ordnung … Ich glaube, ich hab mich erkältet.«
»Das glaube ich nicht.«
»Wie bitte?«
»Hier ist gerade etwas anderes passiert.«
»Ich verstehe nicht?«
»Ich glaube, Sie verstehen es sehr gut. Was Sie gerade
empfunden haben, werden Sie so niemals bei einem anderen Mann empfinden.«
Dann wandte er den Blick ab und betrachtete die staubige Wand des Besucherzimmers. Sie konnte förmlich sehen, wie es in seinem Gehirn arbeitete. Sie liebte seinen Blick. Intensiv. Als würde er jeden Augenblick einen Geistesblitz haben und alle Probleme dieser Erde lösen können.
»Ja, wenn wir unsere beiden Köpfe zusammenstecken, können wir dieses Verfahren hier gewinnen«, presste sie mühsam hervor.
»Oder es kommt zum Kurzschluss.« Er packte ihre Hand. »Ach was, das war nur ein Scherz. Natürlich wird das alles gut gehen.«
Seine Hand war warm und trocken. Lange Finger. Sein Daumen zitterte wie ein Schmetterling auf ihrer Handfläche.
Nur mit einer enormen Kraftanstrengung gelang es ihr, sich zusammenzureißen und drauflos zu plappern, wie sie diesen Prozess angehen sollten. Wie sie diese Sofia Bauman ausschalten und beweisen würde, dass sie eine unzuverlässige Zeugin ist.
Aber Oswald lächelte sie nur nachsichtig an.
»Nein, so werden wir das nicht machen.«
»Aber warum nicht?«
»Haben Sie schon einmal einer Spinne in ihrem Netz zugesehen, Anna-Maria?«
Unsicher schüttelte sie den Kopf.
»Na ja, also in diesem Spinnennetz haben sich Fliegen und andere Insekten verfangen. Zuerst denkt man, sie sind schon längst tot. Aber sie sind nur betäubt, verstehen Sie? Dann bewegt sich plötzlich eine von ihnen. Einer der Fäden zittert. Und die Spinne, die ganz oben am Rand des Netzes
sitzt, krabbelt schnell dorthin. Man denkt, jetzt wird sie die Fliege fressen, aber so ist es nicht. Die Spinne betäubt die Fliege noch einmal. Lähmt sie. Denn die Spinne bestimmt, wann und wen sie isst. Alles in diesem Netz geschieht nach ihrem Willen. Verstehen Sie?«
Sie nickte, wollte um keinen Preis begriffsstutzig wirken.
»Einige der Spinnenweibchen heben die Beute für ihre Nachkommen auf, um ihr Überleben zu sichern. So viel zum Thema Hingabe. Ganz was anderes als die Tante auf ViaTerra«, fügte er – für sie unverständlich – hinzu und lachte.
Als er ihr dann den Plan unterbreitete, fingen ihre Beine unter der hässlichen Tischplatte unkontrolliert zu zittern an.
Es war Jahre her, dass sie ihre Energie in die Beziehung zu einem Mann investiert hatte. Männer in gut sitzenden Anzügen waren meistens Loser, pathetische Idioten, die ihn kaum hochbekamen. Aber Franz Oswald war wirklich anders. Er war ein Mann, der einen Plan hatte.
Einen teuflischen Plan.