KAPITEL 3
Simon sah Sofia an, die mit dem Profil zu ihm gewandt saß. Sie war angespannt, ihr Kiefer arbeitete, erzeugte ein schleifendes Geräusch, weil sie unbewusst mit den Zähnen knirschte. Er fand, dass sie blass und müde aussah. Viel müder als damals auf ViaTerra, als sie zur Sklavenarbeit verdammt waren und nur fünf, sechs Stunden pro Nacht schlafen durften.
Simon war zwiegespalten. Einerseits interessierten ihn die Ereignisse im Gerichtssaal kaum. Oswald hatte so viel auf seinem Gewissen, was ihn endlich eingeholt hatte, das konnte doch nur mit einer Gefängnisstrafe enden. Auf der anderen Seite hatte ihn so ein unangenehmes, undefinierbares Gefühl beschlichen, was ganz untypisch für ihn war. Es hatte mit Oswalds Verhalten zu tun. Wenn man nicht wusste, dass er der Angeklagte war, konnte man den Eindruck bekommen, dass er hier das eigentliche Sagen hatte. Er wirkte unberührt und fast träge, manchmal sogar amüsiert. Simon konnte nicht einschätzen, ob seine Befürchtungen berechtigt waren oder ob sie mit seinen immer wiederkehrenden Panikattacken zu tun hatten.
Sein größter Wunsch war es, so schnell wie möglich auf die Insel zurückzukehren, zurück zu seinem Job in der Pension. Er hoffte sehr, dass sie sich in der Zwischenzeit gut um das Gewächshaus gekümmert hatten. Ihm gefiel seine neue Arbeit. Der Herbst stand vor der Tür, und es gab viel zu tun. Aber er hatte alle Zeit der Welt, sein Leben würde nie wieder so aussehen wie bei ViaTerra. In der Pension wurde er nicht angebrüllt, dass er schneller arbeiten sollte, es gab keine Katastrophen, und er wurde auch nicht an andere Projekte ausgeliehen wie eine beliebige Spielfigur. Nein, ihm gefiel seine neue Arbeit sehr. Es würde wunderbar werden, zurück auf der Insel zu sein.
Aber Simon gefiel Sofias ernster Gesichtsausdruck nicht. Blass, mit schwarzen Ringen unter den Augen. Man sah ihr an, dass es ihr nicht gut ging, obwohl sie sich so hübsch angezogen hatte. Sofia hatte etwas an sich, das die Blicke anzog. Nicht alle Männer hatten einen Sinn für die Schönheit, die unter ihrer Oberfläche strahlte. Sie schminkte sich nicht und trug ihre langen welligen Haare meistens in einem langen, geflochtenen Zopf. Aber jeder, der ihrem Reiz einmal erlegen war, kam nicht mehr von ihr los. Simon war froh, dass er sie nicht auf diese Weise anziehend fand. Er wollte einfach nur, dass sie wieder so ausgelassen war wie damals, als sie gemeinsam für die Sekte gearbeitet hatten. Sie hatten die Schweine gefüttert und sich über Bücher unterhalten. Waren durch den Schnee gestapft und hatten hinter dem Rücken ihrer Wache Benny Grimassen geschnitten. Sie hatten über alles und jeden gelacht, die harte Arbeit hatte sie nicht brechen können. Sie wussten, dass Oswald den Verstand verloren hatte, aber sie hatten weitergekämpft. So sollte Sofia wieder sein.
Aber auch nach der Urteilsverkündung, draußen auf dem Flur, sah sie nicht zufrieden aus.
Simon nahm ihren Arm.
»Ich lade euch zum Essen ein. Wer kommt alles mit?«
Sofia, Benjamin und Elvira kamen mit.
»Komm, hör auf zu schmollen«, sagte Benjamin zu Sofia, als sie im Restaurant saßen. »Er geht ins Gefängnis, das wollten wir doch, oder?«
»Für zwei lächerliche Jahre«, sagte Sofia. »Für das, was er den Leuten angetan hat. Das wird ihn kein bisschen verändern. Für ihn wird das wie Urlaub sein. Er kann sich ausruhen und wiederauferstehen, noch böser als je zuvor. Und er wird unendlich viele Liebesbriefe bekommen. So einem wie ihm kann nichts etwas anhaben.«
»Aber wenigstens ist ViaTerra aufgelöst worden«, sagte Elvira.
Simon raufte sich die Haare. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, etwas zu sagen, aber er war auch nicht besonders gut darin, Dinge für sich zu behalten. Also erzählte er alles, was seit dem Tag auf der Insel passiert war. Von dem Tag an, als die Polizei die Razzia durchgeführt und Oswald festgenommen hatte, bis zu dem Tag, an dem das ganze Personal mit der Fähre zurück ans Festland übergesetzt war.
Simon war gerade dabei gewesen, ein Spalier für Weinreben aufzustellen, als die Polizei aufgetaucht war. Ein sonniger Tag. Die Luft im Gewächshaus war so warm und feucht gewesen, dass man kaum Luft holen konnte. Wie in einer Sauna. Die Pflanzen kämpften um den Sauerstoff. Er hatte wahnsinnig geschwitzt. Plötzlich ging die Tür auf, und wie eine Armee stürmten die Polizisten mit gezogenen Waffen herein. Übernahmen die Gewalt über das Herrenhaus. Drehten jeden Stein um. Am Anfang stand Simon mit offenem Mund daneben, starrte umher und versuchte alles zu verstehen. Er sah Elvira, die in eine Decke gewickelt und in Begleitung einer Polizeibeamtin aus dem Haus geführt wurde. Erst da begriff er. Sein Herz machte einen Satz. Das war ernst. Die Mauern waren eingestürzt. Reglos blieb er vor dem Gebäude stehen, bis eine Polizistin auf ihn zukam .
»Sie müssen mitkommen«, sagte sie, ihr Blick klebte an seinem schmutzigen Overall. »Vielleicht sollten Sie sich sauber machen und etwas anderes anziehen. Wir wollen das gesamte Personal befragen.«
Die Vernehmung dauerte drei Tage lang an, Simon erzählte ihnen alles. Von den Strafen, der erzwungenen Schlaflosigkeit und dass sie wie Gefangene gehalten wurden. Die Worte flossen nur so aus ihm heraus, wie ein rauschender Bach. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er so viel geredet.
Nach den drei Tagen wurden sie alle nach Hause geschickt, auch jene, die kein anderes Zuhause mehr hatten als ViaTerra. Aber der Landsitz war ein Tatort, wurde abgesperrt, der Zutritt war verboten.
So kam es, dass sie alle zusammen auf der Fünfuhrfähre über den Sund zum Festland saßen. Achtundvierzig Menschen, ohne Oswald, der so viele Jahre lang ihr leuchtender Anführer gewesen war. Sie waren ohne Job, ohne Zukunftspläne. Verraten und verkauft. Einige von ihnen waren verwirrt und traurig. Andere insgeheim froh und erleichtert.
Madeleine ergriff als Erste das Wort. Die mit den farblosen Augen, die Simon Angst machten.
»Das hier ist ein ganz großer Irrtum, ich werde Franz niemals im Stich lassen«, sagte sie. »Sofia ist nicht mehr ganz bei Trost.«
Anna, die von Anfang an in Oswald verliebt gewesen war, stimmte ihr zu.
»Habt ihr Elvira gesehen? Sie hat wie ein Baby geweint. So eine falsche Schlange.«
»Die werden Franz bald wieder freilassen«, sagte Madeleine. »Er wird zurückkommen, versteht ihr? Wir müssen zusammenhalten, bis alles wieder so ist wie vorher. «
Nur Mira, die in ihrer Zeit bei der Sekte hauptsächlich Strafarbeiten hatte ausführen müssen, sah unentschlossen aus.
»Ich werde nach Hause fahren und über all das hier nachdenken«, murmelte sie.
»Was gibt es da nachzudenken?«, erwiderte Bosse, Oswalds rechte Hand. »ViaTerra ist die einzige Wahrheit, natürlich versuchen die nur, Franz zum Schweigen zu bringen. Wir müssen zusammenhalten.«
Und so ging das weiter. Entweder machte man mit oder man war raus.
Simon nahm an dieser sonderbaren Unterhaltung nicht teil, er war zerstreut. Er hatte die Insel seit drei Jahren nicht mehr verlassen. Als sie alle auf die Fähre gegangen waren, hatte es sich richtig angefühlt. Er würde auf den Hof seiner Eltern in Småland fahren und dort auch mit seinen Händen arbeiten, denn auf Dimö gab es für ihn nichts mehr zu tun. Zum Glück wusste niemand, was er dachte und fühlte und dass er Sofia zur Flucht verholfen hatte. Und so sollte es auch bleiben. Als das Festland aber immer näher kam wie ein schmaler Streifen am Horizont, wuchs der Zweifel in ihm. Die grelle Stimme seiner Mutter hallte in seinem Kopf. Er sah Daniels traurige Augen an diesem verhängnisvollen Abend. Er hatte sich geschworen, nie wieder zurückzukehren. Seiner Mutter niemals zu verzeihen. Seine Erinnerung an die Zeit auf dem Bauernhof ganz tief unter seinen anderen Gedanken zu vergraben. Und da saß er nun, war auf dem Weg von dem einen Übel weg in die Klauen des anderen Übels geraten. Er wusste keinen Ausweg. Konnte keinen Entschluss fassen.
Mit Gewalt beendete er sein Grübeln und betrachtete die Gruppe, die sich in zwei Lager gespalten hatte. Die einen waren dabei, die anderen waren raus. Das Lager mit den treuen Anhängern war bedeutend größer. Anders und Mona, Elviras Eltern, saßen schweigend an der Reling der Fähre. Auch Madeleine hatte bemerkt, dass die beiden noch kein Wort gesagt hatten.
»Was ist mit euch? Was werdet ihr tun?«
Mona presste die Lippen aufeinander und wandte den Kopf ab. Aber Anders stand auf und legte beim Sprechen eine Hand auf die Schulter seiner Frau.
»Wir bleiben bei dir, Madeleine. Was passiert ist, hat Elvira selbst zu verantworten. Sie hat von Anfang an für Franz geschwärmt. Ihretwegen werden wir ViaTerra nicht im Stich lassen. Stimmt’s, Mona? Wir verstoßen Elvira.«
Madeleine quietschte vor Freude.
»Genau, so will ich es hören!«
In Simon aber stieg langsam die Wut hoch. Auch er stand auf, ging auf Anders zu. Ihn überkam der Impuls, Anders zu schlagen und dann über Bord zu werfen. Aber in dieser Sekunde rief ihn der Kapitän Edwin Björk aus dem Ruderhaus.
»Da will dich jemand sprechen, hat auf meinem Handy angerufen. Kommst du mal eben?«
Simon zögerte und nahm das Handy, das Björk ihm hinstreckte.
Eine ihm unbekannte Frauenstimme stellte sich als Inga Hermansson vor, sie leitete die Pension auf der Insel. Nach einem kleinen Sermon aus Entschuldigungen und Beteuerungen, wie schrecklich das alles mit der Sekte gewesen sei, sagte sie schließlich, dass sie von Simons Pflanzen- und Gemüsezucht gehört habe. Sie würde ihm gerne eine Stelle bei sich in der Pension anbieten, weil sie in Zukunft nur noch Lebensmittel aus lokalem und ökologischem Anbau verwenden wolle. Sie gab ein bisschen an, erzählte von den begeisterten Gästen von ViaTerra, die Simon in den höchsten Tönen gelobt hätten. Sein Herz schwoll vor Stolz an. Unwillkürlich dachte er an die Gewächshäuser und Felder von ViaTerra. Er dachte an die Weinreben und Tomaten, die jetzt alle verdorren würden. Die Felder, die zuwuchsen und verödeten. Vor seinem inneren Auge sah er, wie alles, was er in den letzten Jahren erschaffen hatte, vergehen würde. Plötzlich tauchte die Stimme seiner Mutter auf, aber sie verstummte schnell wieder und wurde von dem Glucksen des Wassers ersetzt, das gegen den Rumpf der Fähre schlug. Er wurde ganz ruhig.
»Wann soll es losgehen?«, fragte er.
»So schnell Sie können.«
»Ich nehme die nächste Fähre zurück auf die Insel«, sagte er und beendete das Telefonat, ohne auf eine Antwort von Inga Hermansson zu warten.
Noch am selben Tag kehrte er auf die Insel zurück und fing sofort mit seiner Arbeit in der Pension an. Die Erinnerungen an die Zeit in der Sekte lösten sich auf, sobald er wieder mit seinen Händen in der Erde arbeiten konnte. Aber der Gedanke, dass ViaTerra auferstanden war – wie etwas Lebendiges, ein Wesen, das sich bewegte und atmete –, ließ ihn nicht mehr los.
Die anderen saßen schweigend beisammen, nachdem er seine Geschichte beendet hatte.
»Aber glaubst du, dass sie auf die Insel zurückkommen werden?«, fragte Elvira ängstlich.
»Wer weiß das schon«, antwortete Simon. »Ich finde, es fühlt sich an, als wäre da was im Gange.«
»Ach komm, wenn Madde den Laden schmeißen würde, wäre es das totale Chaos«, sagte Benjamin. »Und was interessiert es uns denn? Sie können uns doch nichts anhaben. «
»Ich will da gar nicht drüber nachdenken«, sagte Sofia. »Aber du kannst für uns doch die Augen offen halten, Simon, oder?«
Simon nickte. Noch war er sich nicht sicher, deswegen war es wohl besser, den Mund zu halten, bis er etwas Konkretes hatte.
»Was machst du jetzt?«, fragte Sofia Elvira. »Hast du jemanden, der sich um dich kümmert?«
»Ich wohne bei meiner Tante in Lund. Werde wieder zur Schule gehen. Dann werden wir weitersehen.«
Ein Schatten fiel über Elviras Gesicht. Zwischen ihren hellen Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte. Etwas beschäftigte sie, und Simon war sich nicht sicher, ob es mit dem Gerichtsverfahren zu tun hatte.
Die schwarzen Augenringe hatte sie schon lange, die roten Augen erst seit dem Morgen. Elvira ging es nicht gut.
»Bist du sicher, dass du keine Hilfe brauchst? Und bist du traurig darüber, wie sich Anders und Mona dir gegenüber verhalten?«, fragte er sie.
»Nein, alles in Ordnung. Wir haben uns nie wirklich nahgestanden. Ich mochte sie schon und alles, aber wir haben immer in religiösen Gruppen gelebt, und ich habe einfach die Nase voll davon. Mein Vater hat nie aufgegeben. Er wollte immer, dass wir alle auf das Materielle verzichten. Versteht ihr? Dann spielt es nämlich auch keine Rolle, wo man wohnt und wo man zur Schule geht.«
»Oder ob ein sadistisches Schwein die eigene Tochter vergewaltigt«, brach es aus Sofia hervor. Unwillkürlich sog sie die Luft wieder ein, um die Worte zurückzunehmen.
Elvira schien es jedoch nichts auszumachen. Sie nickte und rollte mit den Augen, wobei ihre langen Wimpern gegen ihre Augenlider tippten .
»Aber eine Sache habe ich noch nicht verstanden«, sagte Benjamin. »Wie kann es sein, dass Anders und Mona zugelassen haben, dass du gegen Oswald aussagst? Du bist doch noch gar nicht volljährig?«
»Sie haben gesagt, ich soll machen, was ich will. Sie haben mich verstoßen. Für sie existiere ich nicht mehr.«
»Das ist alles so krank!«, sagte Sofia.
»Aber es ist besser so. Ich möchte einfach nur ein normales Leben führen und kein Kind einer Sekte mehr sein. Ich möchte normale Freunde finden und nach der Zehnten von der Schule gehen.«
Simon saß Sofia gegenüber. Sie hatte ein bisschen Farbe im Gesicht bekommen. Und ihre Augen leuchteten wieder. Sie würde schon zurechtkommen, jetzt nachdem das Urteil gefällt war.
»Und was machst du?«, fragte er sie. »Hast du einen neuen Job?«
»Ich suche noch«, sagte sie und senkte den Blick, wirkte plötzlich wieder verschlossen.
Simon wusste sofort, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte.