KAPITEL 4
Da war sie schon wieder. Die Frage, die sie befürchtet hatte – und die immer kommen würde. Sie hatte sich die passende Antwort im Kopf schon aufgesagt. Auf dem Weg dorthin geübt. Hatte sich gut zugeredet, dass es dieses Mal funktionieren werde. Wichtig war, fast unbeteiligt zu wirken, fast schon unbefangen.
Die Frau mit dem runden Gesicht und den grauen Augen blinzelte über den Rand ihrer Brillengläser.
»Und, was haben Sie in den vergangenen zwei Jahren gemacht?«
Sofia bereitete sich innerlich auf die Antwort vor. Verdammt, ihre Zunge ließ sie im Stich, sie verhaspelte sich, ihre Stimme klang brüchig und schuldig, wie die einer Verwirrten, als wäre sie auf frischer Tat ertappt worden.
»Na ja, ich bin ein bisschen auf Abwege geraten. Und war Mitglied in einer Sekte.«
Die Frau zuckte zusammen.
»Die ich natürlich längst verlassen habe«, fügte Sofia schnell hinzu. »Ich bin kein Mitglied mehr.«
»Aha, und welche Sekte war das, wenn ich fragen darf?«
»Die kennen Sie wahrscheinlich nicht. ViaTerra.«
Aber natürlich hatte die Frau schon von ViaTerra gehört. Sie hob die Augenbrauen und schürzte die Lippen. Sah aus dem Fenster auf den Rasen. Es war ein grauer, wolkenverhangener Vormittag. Dunkle Wolken zogen über den Himmel, und durch den Fensterspalt drang kühle Luft in den Raum, die nach Regen roch. Sofia zitterte. Versuchte, Augenkontakt herzustellen, aber die Frau starrte auf die Tischplatte. Eine angespannte, nervöse, fast peinlich berührte Atmosphäre entstand hier gerade.
»Ich habe ja Ihren Lebenslauf da und werde mich melden, wenn wir Interesse haben.«
Einen Scheiß wirst du tun.
Sofort stellte sich dieses schwere Gefühl im Magen ein. Viele Vorstellungsgespräche waren genauso verlaufen. Und keiner der Arbeitgeber hatte sich danach mit einem Angebot bei ihr gemeldet. ViaTerra . Schon die Erwähnung des Namens führte automatisch dazu, dass sie disqualifiziert war. Jemand, der so dämlich gewesen war, sich auf diese kranke Sekte einzulassen, hatte garantiert nicht die Befähigung für einen solchen Job. Sofia hatte sich für unterschiedlichste Posten beworben, seit sie wieder in Lund lebte. Sie wollte in einer Bibliothek arbeiten. Aber einen Job zu finden war leichter gesagt als getan. Vor allem mit einer Vergangenheit als Sektenmitglied.
Die Frau hob den Kopf, wirkte irritiert.
»Gut, dann verbleiben wir so.«
Das war der Moment, in dem man normalerweise aufstand, sich für das Gespräch bedankte und sich bitte nie wieder melden sollte. Aber an diesem Tag war Sofia alles andere als normal. Sie hätte diesen Job als Bibliotheksassistentin an der Universitätsbibliothek so gern gehabt. Sie liebte diese Bibliothek. Den Geruch von sonnenwarmem Staub und Leder. Das Licht, wenn es durch die hohen Fenster in den Lesesaal fiel. Die bunten Farben der Bäume draußen im Hof.
Der Kloß im Hals wurde immer größer, bis sie nur noch heulen wollte. Das war alles so ungerecht .
Sie stand auf, um zu gehen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sollte sie sagen, wie es war, alles erzählen? Der Geschichte über die Ungerechtigkeit freien Lauf lassen? Vor ihr türmte sich ein ganzer Berg von Hindernissen auf. Es kam nie gut an, wenn man zu aufdringlich war. Am Ende ging es auf Kosten ihres Rufs, wenn sie sich zu viel beschwerte. Und damit wären dann auch alle Chancen vertan, einen Job in einer anderen Bibliothek zu bekommen.
Benimm dich nicht wie ein Opfer!
Sie sah der Frau ins Gesicht.
»Ich weiß, dass Sie es furchtbar dämlich finden, dass ich Mitglied in dieser Sekte gewesen bin, aber Tatsache ist, dass ich superqualifiziert bin für diesen Job. Ich habe einen Abschluss in Literaturwissenschaften und habe die Einrichtung einer Bibliothek verantwortet. Ich kann Ihnen das Alphabet vorwärts und rückwärts aufsagen, wenn Sie das wollen. Und zwar in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Ich kann mit dem Computer umgehen und verspreche Ihnen, dass kein einziges Buch jemals am falschen Platz im Regal stehen wird.«
Die Lippen der Frau umspielte ein Lächeln.
»Ich melde mich heute Nachmittag bei Ihnen. Ich muss nur noch ein paar Dinge klären.«
Der Bus auf dem Nachhauseweg war voll, und Sofia musste stehen. Als sich ihr Handy mit sanfter Jazzmusik meldete, dachte sie zuerst, dass das Telefon von dem Typen neben ihr klingelte. Sie hatte das Klingelzeichen in letzter Zeit so häufig geändert. Zu grelle Laute hatten sie immer zusammenzucken lassen, weil sie befürchtet hatte, die Polizei wolle ihr mitteilen, dass Oswald ausgebrochen und hinter ihr her sei. Dieses Klingelzeichen hingegen war wie ein sanfter warmer Gedanke, und die Melodie verstummte gerade, als sie das Handy aus ihrer Tasche holte. Sie erkannte die Stimme sofort wieder, sachlich und etwas reserviert, aber jetzt mit einem warmen Unterton.
»Wann könnten Sie denn anfangen, Sofia?«
»Sofort. Morgen, wenn Sie wollen.«
»Morgen ist Samstag.«
»Das macht nichts.«
Sie begegnete ihrem Vater im Flur und wollte es ihm sofort erzählen, kam aber nicht zu Wort.
»Sofia, da ist eine ganz süße Einzimmerwohnung in Zentrumsnähe frei. Ich war da und habe sie mir angesehen. Ich weiß, dass du noch keinen Job gefunden hast, aber Mama und ich können dich unterstützen, bis du wieder auf eigenen Füßen stehst …«
»Ich habe einen Job!«
Und mit diesem Tag veränderte sich ihr Leben.
Alles, was zerstört war, wurde wieder heil. Details, die ihr vorher nie aufgefallen waren, bekamen auf einmal eine fast unnatürliche Schärfe. Wie die Sonne abends ihr glitzerndes Netz über die Stadt zog. Die himmlischen Düfte, die morgens aus den Bäckereien und Cafés auf die Straße strömten. Das eintönige, fast einschläfernde Geräusch der Autobahn in der Ferne, wenn sie abends im Bett lag.
Dinge, die sie zuvor als selbstverständlich betrachtet hatte, bekamen einen neuen Stellenwert. Am Wochenende frei zu haben, essen zu können, was man möchte, sich jederzeit mit Freunden und seinen Eltern treffen zu dürfen. Auch ausschlafen zu können bekam aufgrund der erzwungenen Schlaflosigkeit in der Zeit bei ViaTerra eine ganz besondere Bedeutung. An einem Sonntag stellte sie sich den Wecker auf sechs Uhr, stand auf, um dann wieder ins Bett zu kriechen und erneut einzuschlafen. Einfach nur, weil sie es durfte. Es hatte auch etwas Befreiendes, Mails und SMS abzuschicken, ohne dass sie vorher zensiert wurden, ganz zu schweigen von der Freiheit, ungehindert im Netz surfen zu können.
Die neue Wohnung war sehr klein, sie verfügte über einen Schlafalkoven, eine kleine Kochnische und ein Wohnzimmer, in dem gerade so ihr Sofa, die Musikanlage und ein paar Bücherregale Platz hatten. Aber sie richtete sie sich hübsch ein, mit einem Eifer, der ihr selbst ganz fremd war. Morgens wickelte sie sich in Decken und setzte sich auf ihren kleinen Balkon. Lund zeichnete sich wie eine Fata Morgana vor der aufgehenden Sonne ab. Mit jedem Atemzug genoss sie das Gefühl von Freiheit, das sich wieder eingestellt hatte, nachdem sie endlich einen festen Ort gefunden hatte.
Ihr Job bestand hauptsächlich daraus, die ausgeliehenen Bücher zurück in die Regale zu räumen. Aber sie entwickelte schnell eine Routine und genoss die Ruhe und Vertrautheit. Oft wanderten die Gedanken zurück nach ViaTerra. Sie versuchte zu begreifen, warum sie so lange geblieben war, kam aber immer wieder zu demselben Ergebnis. Es spielte eigentlich keine Rolle. Sie würde diesen Fehler kein zweites Mal begehen, und das war das Einzige, was zählte.
Sie nahm auch wieder Kontakt zu Wilma auf, die vor der Zeit in der Sekte ihre beste Freundin gewesen war. Wilma hatte sich ziemlich verändert, seit sie in der Modebranche arbeitete. Sie trug nur noch naturfarbene, ausgeblichene, knittrige Sachen, die aber gleichzeitig unfassbar teuer und edel aussahen. Die Haare waren zu einem kurzen, pechschwarzen Pagenkopf geschnitten worden. Ihre schönen, weichen Kurven waren weggehungert worden, und wenn sie essen gingen, stocherte sie stundenlang in ihrem Salat herum. Sofia überlegte manchmal, ob sie sich vielleicht einfach auseinandergelebt hatten, aber Wilma war wild entschlossen und bestand darauf, sich einmal in der Woche zu treffen. Die ersten Verabredungen bestanden daraus, dass Sofia alles erzählen musste, und zwar bis ins kleinste Detail. Besonders von Franz Oswald war Wilma fasziniert.
»Irgendwie verstehe ich, dass du dich so zu ihm hingezogen gefühlt hast«, sagte sie eines Tages. »Er sieht verdammt gut aus, das kann man nicht leugnen. Weißt du, wo er seine Sachen kauft? Denn alles, was er trägt, ist richtig stylish.«
»Er steht über solchen Dingen wie Mode, Wilma. Seine Sachen sind alle maßgeschneidert. Bisher ist er der einzige Mensch, den ich kenne, der sogar maßgeschneiderte Jeans trägt.«
»Das ist ja unglaublich.«
»Du kannst ihn finden, wie du willst, aber er hat seine Leute echt schlecht behandelt.«
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass er ein solches Monster ist.«
»Da irrst du dich gewaltig«, sagte Sofia. »Solche Typen wie Oswald sind leider viel zu leicht zu verstehen und zu durchschauen. Auf den ersten Blick wirkt er wie ein ganz normaler, netter Kerl, und genau das ist das Problem.«
»Ich frage mich, ob man so einen nicht ändern kann …«
»Glaub mir, Wilma. Er lässt sich nicht ändern, das würde dir niemals gelingen.«
»Und der war verrückt nach dir! Sei mir nicht böse, aber …«
»Wilma, kannst du jetzt bitte mal damit aufhören? «
»Okay, okay, ich bin ja schon still, aber eine Sache noch. Wenn so ein verdammt geiler Typ wie Oswald dich gut findet, versteh ich einfach nicht, warum du mit so einem langweiligen, rückgratlosen Typen wie diesem Benjamin abhängst?«
»Du kennst ihn doch gar nicht, Wilma. Benjamin tut mir gut. Er ist alles, was ich brauche.«
Wilma verzog das Gesicht und stocherte weiter in ihrem Salat herum.
Sofia war Benjamin treu. Wenn sie ihn sah, hatte sie sofort Schmetterlinge im Bauch. Er war in Göteborg geblieben, wohnte bei seiner Schwester und arbeitete in einer Speditionsfirma. Aber er kam jedes Wochenende nach Lund. Jeden Freitagabend gegen acht Uhr stand er vor ihrer Tür. Und sie bereitete sich jede Woche wieder auf seinen Besuch vor. Schon mittwochs fing sie an, an den Sex mit ihm zu denken, und wenn sie freitags von der Arbeit nach Hause ging, war sie so erregt, dass sie mindestens eine halbe Stunde vor seiner Ankunft ziellos durch die Wohnung lief. Als könnte der Zug plötzlich viel früher ankommen. Sie trug dünne Negligés und sexy Unterwäsche, und kaum stand er in der Wohnung, fielen sie übereinander her, trunken vor Verlangen. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie gleich im Flur Sex hatten, mit dem Rücken zur Wand oder auf dem Boden. Ihre Beziehung war nie frei von Krisen und Problemen gewesen, aber der Sex war immer gut. Sogar besser als gut.
Es folgte ein kalter und schneereicher Winter. Aber im Januar wurden die Tage langsam wieder länger und heller. Nur die Nächte waren dunkel und schwer. Sie träumte nach wie vor von Oswald, und die Träume waren noch schlimmer, wenn Benjamin da war. Vielleicht erinnerte er sie stärker an die Zeit auf der Insel. Manchmal ertrug er ihre nächtlichen Schreie nicht und weckte sie zaghaft.
»Du hattest schon wieder einen Alptraum.«
Meistens war sie schweißgebadet und wie benommen, wenn das geschah.
»Du hast ganz laut gebrüllt.«
»Oh, entschuldige!«
»Ich kann das nicht aushalten, dass du so leidest.«
»Das wird bestimmt bald besser. Das muss daran liegen, dass es noch etwas Ungeklärtes gibt, was ich bisher nicht verstanden habe.«
»Was gibt es denn da zu verstehen? Irgendwann musst du es loslassen, Sofia.«
»Was denn?«
»Na, dein Trauma.«
Sie klammerte sich an ihm fest, bis sich ihr Puls wieder beruhigt hatte.
»Hast du denn nie Alpträume, Benjamin?«
»Doch, manchmal schon. Aber die nerven mich eher nur. Die sind nicht wie deine.«
»Und wovon träumst du?«
»Es ist immer derselbe Traum. Ich bin in einer Stadt. Es ist Göteborg und doch nicht, weil es da Hügel gibt und eine Klippe, die hoch über das Meer hinausragt.«
»So wie auf Dimö?«
»Ganz genau. Ich bin nervös und durcheinander. Laufe rum und suche etwas, weiß aber nicht, was. Dann komme ich zu einem Tunnel, und es kribbelt am ganzen Körper. Da stehen Leute, alle von ViaTerra. Manchmal ist es Madeleine, oder Bosse oder Benny. Dann fällt mir ein, dass ich nach dir suche, und frage sie, wo du bist. Und immer bekomme ich die gleiche Antwort: ›Du weißt es noch nicht? Sie ist zurück. Sie arbeitet wieder mit Franz zusammen.‹ Ich bin dann super verzweifelt, weiß, dass ich dich da rausholen muss, habe aber keine Ahnung, wie. Und wenn ich dann aufwache, dauert es eine ganze Weile, bis ich begreife, dass ich zu Hause bin. Und dass mit dir alles in Ordnung ist.«
»Warum können wir nicht einfach aufhören, davon zu träumen? Worin stecken wir denn fest?«
»Ach, meine Träume lösen sich schon irgendwann auf. Die sind ein Klacks, verglichen mit deinen. Kannst du bitte zu einem Psychologen gehen, mein Herz? Oswald hat dich schließlich fast vergewaltigt. Du brauchst professionelle Hilfe.«
»Die sagen doch bloß, dass ich am Stockholm-Syndrom leide, weil ich ihn nicht aus meinem Kopf kriege. Ich kann mir diesen Quatsch nicht anhören.«
»Das weißt du doch gar nicht.«
»Doch, das weiß ich. Warum sagt eigentlich niemand: ›Wie gut, dass du es geschafft hast, zu fliehen und ihn ins Gefängnis zu bringen.‹? Nein, sie wollen alle nur wissen, wie oft er mich im Büro genommen hat.«
»Aber das hat er doch gar nicht, oder?«, fragte Benjamin verstört.
»Nein, und das weißt du doch sowieso schon alles.«
»Bitte, geh zu einem Psychologen, Liebes. Versuch es doch wenigstens.«
Sie versprach es ihm zwar, tat es aber nie.