KAPITEL 5
Anna-Maria hatte große Schwierigkeiten, sich auf den Weg zu konzentrieren. Die Gewissheit, dass sie ihn gleich sehen würde, machte sie ganz schwindelig. Dieses Treffen war entscheidend. Sie würden die Basis ihrer Zusammenarbeit für die Zeit besprechen, die er im Gefängnis zu verbringen hätte. In gewisser Weise wurde sie so zu seinem Rettungsanker in die wirkliche Welt, und der Gedanke, dass er von ihr abhängig war, hatte etwas Berauschendes.
Den Stacheldraht konnte sie schon von Weitem sehen, kurz darauf tauchte im Tal die Haftanstalt Skogome auf. Umgeben von einem bernsteinfarbenen Herbstwald, selbst aber erschien sie im Betongewand – kahl. Grau, nichtssagend und hässlich. Sie war nicht zum ersten Mal hier. Sie war spezialisiert auf Sexualverbrecher. Sie konnte sich in sie hineinversetzen. Konnte ihren Gedankengängen, ihrer Logik folgen.
Der Parkplatz war überraschend leer – dafür, dass gerade Besuchszeit war. Sie parkte den Wagen, ging an die Pforte und wies sich aus. Das Tor öffnete sich mit einem dumpfen Surren. An der Hauptwache hinterlegte sie ihren Ausweis und verstaute ihr Handy in einem verschließbaren Fach. Mit der wachhabenden Beamtin tauschte sie ein paar Höflichkeitsfloskeln aus. Sie kannten sich. Es war Hela McLean. Sie arbeitete schon seit Jahren hier. Hart wie Stahl.
»Er erwartet Sie schon ganz ungeduldig«, sagte sie .
»Aber ich bin doch ganz pünktlich.«
»Sie wissen doch, wie er ist«, sagte McLean und lächelte. Callini musterte sie eingehender und stellte mit einem Stich im Herzen fest, dass sie sehr schöne Augen hatte. Aber so etwas würde hier doch nicht passieren? Obwohl man bei diesem Franz Oswald nie sicher sein konnte. Sie holte tief Luft und versuchte, diese unguten Gedanken zu verscheuchen.
Ein anderer Beamter führte sie in den Flur, von dem aus das Besuchszimmer abging. Sie hatten dieses Mal ein Zimmer, das eher mittig lag. Als der Beamte die Tür öffnete, raubte ihr der Anblick von Oswald den Atem. Er sah so klein aus, saß in seiner grauen Anstaltskleidung zusammengesunken in einem gelben Sessel. Franz Oswald in hässlichen Jogginghosen, eigentlich undenkbar. Das scharfe Neonlicht ließ ihn blass erscheinen. Aber dann erhob er sich und hatte augenblicklich wieder die vertraute Ausstrahlung. Sie fühlte sich sofort unbeholfen, wollte ihn eigentlich umarmen, wusste aber auch, dass Franz Oswald kein Freund von Liebesbezeugungen war.
»Ist das zu glauben?«, sagte er und zeigte auf die Sessel. »Dass wir in solchen Zwergensesseln sitzen müssen? Aber komm, setz dich.«
Sie stellte ihre Handtasche auf einen Beistelltisch. Ließ sich in den Sessel sinken. Er blieb stehen, musterte sie eindringlich, mit einem mürrischen Gesichtsausdruck.
»Wie sieht es aus? Wie geht’s dir, Franz?«, brachte sie mühsam hervor.
»Na, was glaubst du? Ich hab doch gesagt, dass ich ein mustergültiger Gefangener sein werde. Ich habe mich bei allen Lerngruppen und Ausbildungsangeboten angemeldet. Schufte wie ein Besessener in der Hitze unten in der Waschküche bei einem Monster von Waschmaschine, die sie für sechs Millionen Kronen gekauft haben. So weit also alles gut. Können wir jetzt diese Höflichkeitsfloskeln weglassen und zur Sache kommen?«
Da sah sie den enormen Papierstapel, der auf dem Tisch zwischen den beiden Sesseln lag.
»Das hier ist der Plan, von dem ich dir erzählt habe«, sagte er. »Da steht alles drin, bis ins kleinste Detail. Du kannst den Stapel mitnehmen, ich habe eine Kopie gemacht. Dann können wir die Details bei deinem nächsten Besuch besprechen. Da ist auch eine Liste drin von Dingen, die ich unbedingt brauche. Der Plan besteht aus drei Teilen. Der erste widmet sich den Idioten auf ViaTerra, die auf das niedrigste IQ-Niveau gesunken sind, die muss jemand unter Kontrolle behalten. Der zweite ist das Buch. Du kümmerst dich um den Kontakt zum Verleger und so was. Und der dritte Teil betrifft natürlich Bauman. Es ist an der Zeit, sie zu erledigen.«
Jedes Mal, wenn Oswald Sofia Bauman erwähnte, fühlte es sich wie ein Schlag in den Magen an. Sein Blick veränderte sich, wenn er ihren Namen aussprach. Die Schärfe in seinen Augen verschwand und wurde von einem unheimlichen, verträumten Glanz ersetzt. Natürlich wollte sie, dass die Schlampe fertiggemacht wurde. Je schlimmer, desto besser. Aber vor allem musste Oswalds fast manische Fixierung auf diese Frau ein Ende haben. Sie wusste nur noch nicht, wie sie das anstellen sollte.
»Aber diese Sofia, ist das denn wirklich notwendig? Sie hat doch seit dem Gerichtsverfahren nichts mehr veranstaltet oder irgendwie Ärger gemacht. Warum sollen wir überhaupt einen Gedanken an so eine pathetische …«
»Hast du meine Thesen schon gelesen?«, unterbrach er sie .
»Wie bitte?«
»Ich habe dich gefragt, ob du meine Thesen durchgelesen hast. Ich hatte dich darum gebeten.«
»Nein, aber ich … das ist doch erst eine Woche her, und ich dachte …«
»Das erklärt auch deine naive Haltung zu Sofia Bauman. Du hast keine Ahnung, wofür ViaTerra steht, habe ich recht?«
»Nein, ich meine, doch natürlich, ich werde das alles durcharbeiten, versprochen. Wenn du willst, können wir die Bauman auch verklagen.«
»Verklagen? Warum um alles in der Welt sollte ich das tun? Das macht doch gar keinen Spaß.«
»Na, wegen Verleumdung.«
Er lachte laut auf. Sein Gelächter hallte durch den kleinen Raum.
»Bist du wirklich so dämlich? Solche wie Sofia Bauman bearbeitet man ganz langsam, Annie. Am Anfang nur eine Andeutung, aber aussagekräftig genug, dass sich einem die Nackenhaare aufstellen. Ich dachte, ich hätte dir das alles schon erklärt. Sieh dir einfach die Thesen an. Und auch Über die Kriegskunst von Sun Tsu. Oder hast du das etwa auch noch nicht gelesen?«
Verwirrt schüttelte Anna-Maria den Kopf.
»Was bist du eigentlich für eine Stümperin von Anwältin?« Dann zitierte er langsam und mit ruhiger Stimme aus dem Buch: »Wir müssen den Feind anlocken, Verwirrung stiften und ihn dann zerstören.«
Voller Eifer nickte sie. Obwohl sie nicht wirklich verstand, was es mit Sofia Bauman zu tun hatte.
»Bevor du gehst, möchte ich nur noch einmal deutlich machen, worum es hier geht«, sagte er. »Du bist meine Anwältin, und das bedeutet: Niemand sonst kann eine Zeile über unser Gespräch lesen, es mithören oder auf andere Weise daran teilhaben, ist das richtig?«
»Richtig.«
»Und du hältst dich an die Schweigepflicht und hast alle notwendigen Verschwiegenheitsklauseln unterschrieben, ja?«
»Selbstverständlich.«
»Sehr gut, dann haben wir also eine Abmachung.«
Er griff ihr unter die Arme und zog sie hoch. Er war ihr so nah, dass sie den Geruch der frisch gewaschenen Gefängniskleidung riechen konnte. Das duftete ganz anders als sein Rasierwasser. Da fiel ihr ein, dass sie ihm ja eine Flasche mitgebracht hatte, und sie streckte die Hand nach ihrer Tasche aus.
»Ich habe dir dein Rasierwasser mitgebracht.«
Er zog ihren Arm weg, schüttelte den Kopf.
»Lass es. Ich werde es sowieso nicht benutzen dürfen. Vielleicht kann ich eine Erlaubnis beantragen, aber das wird dauern. Außerdem zwingen sie einen nach jedem Besuch, sich auszuziehen. Aber das weißt du ja.«
»Oh je, verzeih mir, das hatte ich vergessen.«
»Splitterfasernackt. Auch die weiblichen Wachen«, fügte er hinzu und grinste.
Er hatte ihre Handgelenke gepackt, wie in einem Schraubstock. Schob sie mit dem Rücken gegen die Wand. Er war jetzt so nah, dass sie kaum Luft bekam. Dann spürte sie die Erregung, ihr schoss das Blut in den Kopf. Als er endlich seinen Körper gegen ihren drückte, wimmerte sie vor Verlangen. Er legte eine Hand auf ihren Mund, die andere an ihre Kehle.
»Es ist noch zu früh, um die Regeln zu brechen. Du musst dich noch ein bisschen gedulden«, flüsterte er ihr ins Ohr .
»Ich will …«, stieß sie hervor.
»Schhh«, sagte er und drückte ihr den Hals zu. »Ich weiß genau, was du willst.«