KAPITEL 8
Simon wurde von den Sonnenstrahlen geweckt, die durchs Fenster fielen. Er versuchte die Splitter eines schon verblassenden, angenehmen Traums in einem grünen Gemüseparadies festzuhalten, in dem alles wuchs und gedieh. Aber dann sah er den Raureif am Fenster und erkannte schweren Herzens, dass es noch Winter war.
Sein Handy meldete eine neue Nachricht, er wusste, dass sie von Sofia kam, beschloss aber, sie erst abends nach der Arbeit zu lesen. Er freute sich über ihre Nachrichten, allerdings war sie auch unberechenbar. Außerdem erforderten die SMS seine ungeteilte Aufmerksamkeit, und jetzt wollte er einfach mit seinem Tag beginnen und zur Arbeit gehen.
Aber ein paar Stunden später siegte doch seine Neugier. Die SMS bestand nur aus einem Link. Das Foto, das dort auftauchte, verschlug ihm den Atem, so erschütternd war es. Elvira hatte die Arme vor der Brust verschränkt und war nackt. Ihr Bauch war groß und rund. Sie trug die Haare offen, eine Strähne reichte bis zum Nabel hinunter. Der Rest fiel wie eine goldene Welle über Schultern und Rücken. Ihre Augen waren geschminkt und wirkten riesig, der Mund stand leicht offen, man sah ihre Schneidezähne, mit denen sie sich auf die Unterlippe biss. Sektenkind
, lautete die Überschrift.
Normalerweise surfte Simon in seiner Arbeitszeit nicht
im Internet, aber jetzt machte er eine Ausnahme, setzte sich auf einen umgedrehten Eimer und las den Blog-Eintrag. Es war Elviras Geschichte, fürchterlich und ausführlich. Besonders schrecklich klangen die Details über die Dinge, die Oswald mit ihr auf dem Dachboden gemacht hatte, wie er sie zu Sexspielen gezwungen und dabei fast erwürgt hatte.
Der Text klang kindlich, den hatte Elvira eindeutig selbst geschrieben, denn er war mit Rechtschreibfehlern und derben Ausdrücken gespickt. Aber das machte ihn nur authentischer. Es gab schon mehrere Kommentare auf der Seite.
In seinem Magen kribbelte es, und ihm lief der Schweiß runter, obwohl es im Gewächshaus überhaupt nicht warm war. Das wird noch eine große Sache, dachte er. Der Blog würde wie eine Bombe einschlagen. Und er war sich nicht sicher, ob das gut oder schlecht war, aber eines wusste er mit Bestimmtheit. Hier war die Wahrheit ans Tageslicht gezerrt worden, und Franz Oswald würde niemals sein Einverständnis zu diesem Blog-Eintrag geben. Er hoffte sehr, dass Sofia und Elvira wussten, worauf sie sich da eingelassen hatten.
Die Fahrt nach Lund verlief unkomplizierter als erwartet. Er verreiste nicht gern. Unbekannte Gesichter, unangenehme Gerüche und Geräusche. Seine Eltern waren nie mit ihm verreist, man konnte doch die Tiere auf dem Bauernhof nicht alleine lassen. Aber er wollte Sofia unbedingt sehen, er hatte ihr einiges zu erzählen. Im Hauptbahnhof von Göteborg kaufte er sich am Kiosk eine Tageszeitung und las die Schlagzeilen.
GEWÜRGT UND VERGEWALTIGT VOM SEKTENFÜHRER
Eine Vierzehnjährige erzählt die ganze Wahrhei
t
SIE WAR OSWALDS SEXSKLAVIN
Jetzt muss sie seine Kinder zur Welt bringen
VON DER SEKTE FÜRS LEBEN GEZEICHNET
Der Bericht einer Vierzehnjährigen
Die Abendzeitungen hatten die Story auf den Titelseiten, und sogar in der Göteborgsposten stand ein Artikel über Elvira. Die Zeitungen hatten das Foto aus dem Blog verwendet, auf dem sie mit großen, unschuldigen Augen in die Kamera sah.
Simon setzte sich auf eine Bank und raufte sich die Haare. War das jetzt gut oder schlecht? Er konnte sich nicht entscheiden. Was ihn aber freute, war, dass Oswald im Gefängnis was zu tun bekam. Außerdem war er ziemlich erleichtert, denn die Sachen, die er Sofia erzählen wollte, waren im Vergleich zu dieser Geschichte gar nichts.
Sie trafen sich im Bahnhof. Gut sah sie aus. Ihre Haare waren lang geworden, sie reichten ihr bis zur Taille. Sie war ungeschminkt und trug einen Anorak mit riesigem Fellkragen, dazu Jeans mit großen Löchern auf den Knien. Und das mitten im Winter. Ihre Wangen waren rot, er fragte sich, ob es an der Kälte oder an der Freude lag, ihn wiederzusehen.
»Komm, wir gehen eine Kleinigkeit essen, du hast doch bestimmt Hunger?« Das hatte er immer – wie sie wusste.
»Ihr habt da was losgetreten«, sagte er, als sie im Restaurant saßen.
»Es war aber auch an der Zeit, oder?«
Er ließ sie zuerst reden, und ihr Mund stand nicht still. Über hunderttausend Besucher hatten sie schon auf der Seite gehabt. Einige hatten ihnen geschrieben, um ihre
persönliche Geschichte zu erzählen. Elvira war schon in eine Talkshow eingeladen worden, und es würden bestimmt weitere Anfragen kommen.
Solange sie noch schwanger war, würde das noch eine Weile so gehen. Und wahrscheinlich würde die Geburt der Kinder noch einmal große Aufmerksamkeit erzeugen. Aber was dann? Wie lange würde sie das aushalten?
Sofia spürte sofort, dass Simons Gedanken mitten in einem Satz abgeschweift waren. »Hörst du mir überhaupt noch zu?«
»Klar. Das ist nur ganz schön viel. Wird sie die Kinder zur Adoption freigeben?«
»Hat sie noch nicht entschieden. Aber sie kann sie nicht behalten. Sie werden sie doch immer an das Geschehene erinnern.«
»Ich glaube nicht, dass es so sein wird. Kinder sind doch – sozusagen – nur sie selbst, wenn sie auf die Welt kommen.«
Sofia nickte. Dann griff sie nach Simons Hand. »Es ist so schön, dich wiederzusehen.«
»Das finde ich auch. Ich finde es gut, dass ihr das gemacht habt. Und ich hoffe, dass Oswald den Blog lesen wird.«
»Aber du wolltest mir auch etwas erzählen?«
»Ja, kommt Benjamin noch? Dann kann ich es euch beiden erzählen.«
»Nein, dieses Wochenende nicht. Nur wir beide sind da.«
Er konnte es nicht länger hinauszögern. Darum erzählte er ihr alles. Dass sie wieder in ViaTerra eingezogen waren und wer alles mit von der Partie war, und dann erwähnte er das Tor und das Schloss. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich kein bisschen, während er sprach. Sie nickte nur ab und zu. Blinzelte, als versuchte sie, seine Worte in Bilder umzuwandeln
.
»Aber das ist doch großartig!«, sagte sie, als er mit seinem Bericht fertig war. »Toll, dass du das Schloss ausgewechselt hast. Aber das hättest du mir alles auch mailen können. Damit komm ich klar. Und Elvira hatte mir auch erzählt, dass sie wieder eingezogen sind, das wusste ich also schon.«
»Und dann habe ich noch das hier.«
Er holte das Dokument aus der Tasche, legte es vor ihr auf den Tisch und beobachtete sie, während sie es las. Er sah, wie sie zusammenzuckte, als sie die letzte Zeile las. Sie legte ihren Finger darauf und sah zu ihm hoch.
»Und was – glaubst du – hat das zu bedeuten?«
»Keine Ahnung. Alles Mögliche. Dass sie dir deine Sachen schicken wollen, aber auch, dass sie dich töten wollen.«
Er bereute seine Worte sofort.
»Die Polizei hat mir mein Zeug vorbeigebracht, weil ich es nicht vor Ort abholen wollte.«
»Okay, dann bezieht es sich also nicht darauf.«
Simon war von ihrer Schönheit fasziniert, wie sie dort vor ihm saß und versuchte, das Ausmaß der kleinen Notiz zu begreifen. Sie starrte wie in Trance in die Leere, ihre Gesichtszüge waren weich und ebenmäßig. Sofia hatte schon immer den Hang gehabt, bei Gesprächen abzuschweifen. In der einen Sekunde war sie noch voll da, in der nächsten schon ins Grübeln geraten. Er verstand sehr gut, warum sich Männer von ihr angezogen fühlten und warum Oswald regelrecht besessen von ihr gewesen war. Sie strotzte vor Leben, das war in ihren Augen, in ihrem Körper, bis in die Spitzen ihrer wilden Haare. Gleichzeitig sah sie so ruhig aus, wenn sie nachdachte. Sie war wie der Nebel auf der Insel. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit vollkommen auf etwas, umschloss es dann und ließ es erst wieder frei, wenn sie damit fertig war
.
»Simon, was zum Teufel soll das bedeuten?«
»Vielleicht hat es ja gar nichts zu bedeuten«, erwiderte er. »Du weißt doch, wie es damals war. Eine Katastrophe hat die nächste abgelöst. Sie brauchten doch über ein halbes Jahr, um dich zu finden. Und trotzdem ist nichts passiert, oder?«
»Nein, aber das mit dem Blog ist was anderes.« Wieder versank sie in Gedanken. »Simon, du warst doch immer so gut darin, Sachen herauszufinden. ›Du musst wie Oswald denken‹, hast du oft zu mir gesagt. Was glaubst du denn, was er vorhat?«
Simon dachte an den Blog-Eintrag, dann an Oswald – und bekam eine Gänsehaut.
»Ehrlich gesagt, ich glaube, dass er stinksauer ist. In den Medien wird er als Schwein dargestellt und erfährt auf diese Weise, dass er Vater wird. Seine Gedanken konzentrieren sich im Moment wahrscheinlich nicht auf dich. Aber wenn ihr mit dem Blog so weitermacht, müsst ihr auf Konsequenzen gefasst sein, befürchte ich.«
Der Tag wurde noch schöner, als er es sich vorgestellt hatte. Die Wolkendecke lockerte auf, und Lund erstrahlte in einem fantastischen Licht mit einer Klarheit, die der Sonnenschein nach grauem Regenwetter häufig mit sich bringt. Stundenlang liefen sie durch die Stadt. Sofia zeigte ihm die Domkirche, die so beeindruckend war, dass Simon am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam. Am Ende musste sie ihn hinter sich herziehen, weil er vor der astronomischen mittelalterlichen Uhr am Haupteingang hängen geblieben war und sich nicht davon losreißen konnte. Den Text, in dem erklärt wurde, wie diese Uhr funktioniert, las er mehrmals durch. Saugte alle Details in sich auf: Wie man dort die Mondphasen
und den Stand der Sonne ablesen konnte, die Uhrzeit und den Kalender, der bis in das Jahr 2123 reichte.
»Und was passiert danach, ab 2123?«, hatte er Sofia gefragt.
»Woher soll ich das wissen? Dann sind wir doch sowieso tot. Komm, lass uns gehen.«
Sie schlenderten durch das Univiertel, Sofia zeigte ihm die Bibliothek, in der sie arbeitete, und konnte ihm berichten, dass dort über eine halbe Million Bücher im Jahr ausgeliehen wurden. Den Sonnenuntergang betrachteten sie auf einer Parkbank im Lundagården, und dort erzählte er ihr noch mehr Details von dem, was er auf dem Landsitz gesehen hatte. Einige Dinge musste er auf ihr Drängen hin mehrmals wiederholen. Am Ende einigten sie sich darauf, dass diese neue Gruppe ein einziger Witz war. Ein Haufen gestrandeter Individuen, die nicht mal in die Nähe einer potenziellen Bedrohung kamen.
Zurück in Sofias Wohnung, kochte sie ihnen was. Er schlief auf ihrem Sofa und fuhr am nächsten Morgen mit dem Zug zurück. Er versprach, die neue ViaTerra-Gruppe im Auge zu behalten. Und mindestens einmal in der Woche zu schreiben.
Als er sich in seinen Sitz sinken ließ und die nackte Winterlandschaft draußen vorbeiziehen sah, dachte er bei sich, dass Verreisen eigentlich gar nicht so verkehrt war.