KAPITEL 9
Es war purer Zufall, dass Anna-Maria den Artikel las. Ein Mandant hatte die Ausgabe vom Expressen in ihrem Wartezimmer liegen lassen. Sie erkannte Elvira auf den ersten Blick.
Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Sie nahm die Zeitung vom Couchtisch. Die Schlagzeile erzeugte eine solche Übelkeit, dass sie sich an der Wand abstützen musste.
SIE WAR OSWALDS SEXSKLAVIN
Jetzt muss sie seine Kinder zur Welt bringen
Während sie den Artikel überflog, löste sich alles um sie herum auf, und ihr wurde schwindelig. Das lag nicht an der Tatsache, dass das dumme Ding schwanger war, sondern vielmehr daran, dass es einen Blog gab, der schon seit mehreren Tagen online sein musste. Und eine der Vereinbarungen zwischen ihr und Oswald lautete, dass sie im Auge behalten sollte, was die Medien über ihn schrieben. Da war ihr ein großer Fehler passiert. Sie konnte nur hoffen, dass er keine Zeitung las, aber dafür kannte sie seine Routinen zu gut. Natürlich wusste er es längst. Sie konnte schon das Beben seiner Wut spüren, es schaffte den Weg vom Gefängnis in Skogome bis in ihr Büro.
Sie wusste sofort, dass sie keine Zeit verlieren durfte, alles Mögliche könnte passieren. Ganz bestimmt war er wahnsinnig wütend. Vielleicht würde er sie sogar schlagen. Oder sich eine neue Anwältin suchen. Sie malte sich die schlimmsten Settings aus – wie kleine Dämonen jagten sie ihr eine Riesenangst ein, und so rannte sie verzweifelt im Büro auf und ab. Das war wieder typisch, dass ausgerechnet ihr jetzt so etwas passieren musste. Alles hatte wie am Schnürchen geklappt. Oswalds Plan war aufgegangen, und ihr war es gelungen, die Deppen auf ViaTerra auf Kurs zu bringen. Franz hatte sogar Andeutungen gemacht, dass einer intimeren Beziehung in naher Zukunft nichts im Wege stünde. Mehrmals hatte er das getan. Und jetzt so etwas.
Sie sah auf die Uhr, halb acht, die Besuchszeit war längst vorbei. Aber sie hatte keine Wahl und rief trotzdem in Skogome an. Hela McLean war am Apparat. Anna-Maria wappnete sich innerlich für die Diskussion, die erforderlich sein würde, um die Besuchszeiten zu erweitern. Aber das war gar nicht notwendig.
»Es wird am besten sein, wenn Sie vorbeikommen«, sagte McLean, als Anna-Maria ihren Namen genannt hatte. »Ihrem Mandanten geht es im Augenblick nicht so gut. Er befindet sich in Einzelhaft.«
»Wie bitte? Aber … er ist doch nicht selbstmordgefährdet?«
»Nein, das nicht. Nur wütend. Stinkwütend. Er hat geschrien und uns gedroht und die gesamte Abteilung aufgemischt. Da waren wir gezwungen, ihn zu isolieren. Sie kennen wahrscheinlich den Auslöser?«
»Elvira Asplund.«
»Ganz genau. Er hat verlangt, sie zu sehen. Und zwar auf der Stelle. Aber Sie kennen ja die Regeln. Daraus wird natürlich nichts.«
»Ich bin schon unterwegs. Wie lange werden Sie ihn noch in Einzelhaft behalten?«
»Bis Sie da sind. «
Auf der Fahrt nach Skogome hörte sie die Stimme in ihrem Kopf. Es war ihre eigene Vernunftstimme, die auch bei Gericht zu Wort kam. Und die hatte einen Plan. Bleib einfach still stehen und warte, bis seine Wut abgeebbt ist. Irgendwann tut sie das. Dann unterbreitest du ihm deine Argumente, ohne irgendwelche Widerworte zu geben. Aber dann begann die Stimme sie zu verspotten. Und nun beschloss sie, dass sie sein unerbittliches Nachtreten nicht mehr akzeptieren würde. Schließlich war es nicht sie, die im Gefängnis saß. Allmählich war es an der Zeit, dass sie endlich zu sich kam und die Kontrolle übernahm.
Als sie alle Sperren und Tore passiert hatte und ihn hinter den Glaswänden seiner Einzelzelle sah, stutzte sie. Er wirkte viel zu ruhig und gelassen. Die Ellenbogen auf den Oberschenkeln abgestützt, lag sein Kopf in den gefalteten Händen. Nur sein zerzaustes Haar verriet, dass es wohl zu Handgreiflichkeiten gekommen war. Sie sah ihr Spiegelbild in der Glasscheibe und fand, dass sie richtig müde aussah, obwohl das eigentlich nicht sein konnte.
»Gehen Sie bitte in Besuchszimmer sieben, ich bringe ihn dorthin«, sagte der Wachmann.
Sie versuchte, ihren Atem zu beruhigen, während sie auf ihn wartete. Und als Oswald hereingeführt wurde, senkte sie den Blick. Der Wachmann ließ sie allein. Oswald setzte sich nicht zu ihr an den Tisch, sondern lehnte sich gegen die Wand.
»Ich möchte Elvira sehen«, sagte er ohne Einleitung.
»Franz, du weißt, dass das nicht geht, ich kann es versuchen, aber …«
»Dann will ich ihren Vater sehen«, unterbrach er sie. »Anders. «
Der fehlende Widerstand überraschte sie und schenkte ihr eine kurze Atempause.
»Das werde ich veranlassen können. Er ist ja nach wie vor Mitarbeiter von ViaTerra, oder?«
»Korrekt.«
»Wenn du dir wegen der Kinder Sorgen machst, dann kann ich …«
Ein kurzes, heiseres Lachen war seine Antwort. »Die Kinder? Bist du wirklich so beschränkt? Glaubst du allen Ernstes, dass es mir um die Kinder geht? Wie würde es aussehen, wenn der größte Führer einer spirituellen Gemeinschaft in Schweden seine Kinder im Stich ließe? Das ist eine PR-Angelegenheit. Reiß dich gefälligst zusammen. Ich dachte, wir hätten dasselbe Ziel?«
»Ja, natürlich haben wir das«, versicherte sie. »Das werde ich veranlassen, kein Problem.«
»Außerdem möchte ich das alleinige Sorgerecht haben. Der Grund ist allein meine Angelegenheit.«
»Okay, ich verstehe. Da kann ich dir helfen. Versprochen.« Sie behielt den beschwichtigenden Tonfall in ihrer Stimme bei. Zum Glück hatte er den Blog noch nicht erwähnt.
Plötzlich griff er nach ihrem Notizblock, nahm ihr den Stift aus der Hand und kritzelte ein paar Zahlen aufs Papier.
»Diese Nummer rufst du an«, sagte er und gab ihr den ganzen Block zurück. »Grüß ihn von mir. Er wird sich um den Blog und noch einiges andere kümmern. Du musst nicht mehr tun, als artig danke zu sagen und seine Hilfe anzunehmen, verstanden? Ich verlasse mich auf dich, Annie. Das weißt du.«
Er war der Einzige, der sie Annie nannte. Mit Betonung auf dem A, einem weichen A. Ein Wunder war geschehen. Er war nicht wütend auf sie .
Seine Worte wirbelten durch ihren Kopf und lösten Glücksgefühle aus. Ich verlasse mich auf dich, Annie.
»Danke, Franz. Brauchst du sonst noch was?«
»Nein, am besten, du gehst jetzt und kümmerst dich darum. Ich werde mein schönstes Lächeln aufsetzen und sie davon überzeugen, dass ich mich wieder beruhigt habe.« Er wedelte mit der Hand, um sie rauszuschicken.
Sie hatte Angst, dass die Magie verfliegen könnte – jederzeit war das möglich. Dass dieser kurze, vertrauliche Moment in einen erneuten Wutausbruch mündete. Schnell verließ sie das Besuchszimmer. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, holte sie tief und gierig Luft. Aus Erleichterung. Und der kleine, boshafte Teufel in ihrem Herzen schlug einen Rückwärtssalto.
Alles wird gut. Und alles wird sich wieder einrenken.