KAPITEL 10
Alles fing damit an, dass der Blog plötzlich weg war.
Es geschah in der zweiten Woche im Februar. Auf ihrem Nachhauseweg durch den Park stellte Sofia fest, dass es heller geworden war. Auch die Luft war milder. Die Kondensstreifen der Flugzeuge zeichneten weiße Striche in den blassen Himmel. Ein paar dicke Wolken hingen dazwischen, und ihre Unterseiten wirkten dunkelrosa.
In ihrem Leben war viel in Bewegung gekommen. Tagsüber hatte sie in der Bibliothek zu tun, abends kümmerte sie sich um den Blog. Über drei Millionen Klicks hatte es bisher gegeben. Und jeden Tag kamen jede Menge neue Kommentare dazu, sodass sie gar keine Zeit hatten, sie alle zu lesen. Elvira war in fast alle Talkshows eingeladen worden. Kugelrund und wunderschön saß sie in den Studios, und niemand bezweifelte, dass sie die Wahrheit sprach. Ab und zu streifte Sofia schon der Gedanke, dass es sonderbar war: Von Oswald hatte es noch keine einzige Reaktion gegeben. Einen ganzen Monat war das jetzt her. Und es war noch nichts passiert.
Elvira wartete im Treppenhaus auf sie. Stöhnend schleppte sie sich nach oben in Sofias Wohnung.
»Ich weiß nicht, ob ich das noch einen ganzen Monat lang aushalte«, sagte sie. »Ich bekomme keine Luft, und die beiden Nervensägen treten mich die ganze Zeit. Ich will am liebsten nur schlafen und essen – essen – essen.
«
»Es ist doch bald vorbei. Hast du eigentlich schon entschieden, was du machen willst?«
Elvira antwortete nicht.
»Wollen wir was für den Blog schreiben? Danach kannst du ja nach Hause gehen und schlafen.«
»Okay, aber du musst es schreiben, ich mach immer so viele Fehler.«
Sofia setzte sich an den Rechner und loggte sich ein. In der Favoritenliste fand sie den Blog und wollte ihn öffnen. Aber das ging nicht. Komisch, dachte sie. Vielleicht hatte ihn Ellis für Wartungsarbeiten kurz geschlossen, weil er zu groß geworden war und die zulässige Gigabyte-Grenze überschritten hatte? Sie beschloss, das sofort zu klären und ihn anzurufen.
»Was ist los?«, fragte Elvira vom Sofa aus.
»Der Blog ist weg. Strange. Aber wahrscheinlich macht Ellis grad irgendwas damit. Keine Sorge. Ich ruf ihn gleich mal an.«
Elvira streckte sich der Länge nach auf dem Sofa aus. Ihre Augenlider zuckten, sie war dabei einzuschlafen. Sofia setzte Kaffee auf, aber als er fertig war, schlief Elvira schon. Sofia rief Ellis auf dem Handy an, aber er sagte, er habe nichts mit dem Blog gemacht, und schien genauso überrascht wie sie zu sein.
»Jemand muss ihn gehackt und gelöscht haben. Was für eine Scheiße!«, sagte er.
»Kannst du herausbekommen, wer das war?«
»Ich versuch’s. Ich ruf zurück.«
In der Zwischenzeit suchte sie nach den Interviewclips, die sie auf YouTube hochgeladen hatten, aber dort fand sie nur die Meldung des Portals, dass man leider gezwungen war, die Videoclips zu löschen.
Sofia wusste sofort, dass hier etwas nicht stimmte. Es war
nur ein Gefühl, aber es war so stark, dass sich ihr der Magen umdrehte.
Ellis rief eine Stunde später an. »Jemand hat den Blog gehackt und gelöscht. Ich könnte ihn aber heute wieder hochstellen.«
»Kannst du sehen, wer das getan hat?«
»Das ist nicht so einfach, aber es müsste möglich sein herauszufinden, wo sie gesessen haben.«
Sofia erzählte ihm von den Clips auf YouTube.
»Die muss jemand unter Druck gesetzt haben, damit sie die Clips löschen. Das könnten wir herausbekommen, wenn wir uns an YouTube wenden. Aber da ist noch was anderes, das du dir ansehen solltest. Ich hab dir einen Link geschickt.«
Der Link öffnete einen neuen Blog, eine Art Imitation ihres Blogs. Aber auf diesem Foto waren Elviras Mundwinkel nach unten gezogen worden, außerdem hatte sie Hörner auf dem Kopf. Die Überschrift Sektenkind
hatten sie zwar stehen lassen, dafür aber einen Untertitel hinzugefügt: »Die Wahrheit über Elvira«. Jeder, der nach Elviras Blog googelte, landete automatisch auf dieser Seite. Der Text war eine einzige, sprachlich zweitklassige Tirade darüber, was sie alles veranstaltet habe, um Franz Oswald um den Finger zu wickeln. Die Sprache war vulgär, der Text abstoßend. Sie hatten die Schweigepflichterklärung eingescannt mit Elviras Unterschrift und Aussagen vom Personal auf ViaTerra hochgeladen, in denen sie als unterirdisch
geschildert wurde. Kein Mensch bei Verstand würde das glauben, was dort stand, davon ging Sofia aus. Aber es tat trotzdem weh, es zu lesen. Und die Leute würden es lesen. Vielleicht würden sie nicht alles glauben, aber es würde ihren Blick auf Elvira verändern.
Sie beobachtete das schlafende Mädchen auf dem Sofa. Elvira hatte den Mund leicht geöffnet und schnarchte. Sie
träumte, ihre Augen zuckten unter den Lidern. Plötzlich wurde Sofia von einer grenzenlosen Zuneigung übermannt. Elvira war nicht in der Lage, einen Krieg gegen Franz Oswald zu führen. Sie hatte mit sich und den Kindern genug zu tun. Vielleicht war es am besten, den Blog gelöscht zu lassen, dem Ganzen endgültig den Rücken zu kehren und sich auf das richtige Leben zu konzentrieren.
Da klingelte ihr Handy, es war Ellis.
»Also, die Person, die das Löschen des Videoclips veranlasst hat, hat sich auf Dimö befunden. Mehr müssen wir nicht wissen, oder?«
Sofia bemerkte nicht, dass sie darauf gar nichts erwiderte. Ihre Aufmerksamkeit war zwischen ihrem Kopf und dem Handy stecken geblieben. Sie spürte aber, wie ihr schwindelig wurde.
»Hallo? Bist du noch dran? Willst du nach wie vor, dass ich den Blog wieder öffne?«
Sofia riss sich zusammen. »Ja, aber ich möchte, dass du mir noch einen Gefallen tust.«
»Alles, was du willst.«
»Kannst du einen Kommentar unter ihr Bild setzen, in dem steht, dass sie in Mutterschutz gegangen ist? Und dann schreibst du, dass sich ihre Freundin Sofia Bauman um den Blog kümmern wird. Dass ich ab jetzt alle Fragen beantworten werde.«
»Bist du dir sicher, dass dein Name da stehen soll?«
»Absolut sicher.«
»Okay. Da ist noch was anderes, Sofia.«
»Ja?«
»Erinnerst du dich an die Nacht damals, als ich auf Dimö vor der Mauer gestanden habe und geschrien habe, dass sie dich freilassen sollen?
«
»Wie sollte ich das vergessen?«
Damals hatte Sofia bei ViaTerra gearbeitet. Ellis war eines Abends mit der Fähre nach Dimö gekommen, bis obenhin voll, und hatte sich vor das Tor von ViaTerra gestellt und geschrien. Er hatte gefordert, dass sie Sofia gehen lassen sollten. Das war furchtbar peinlich gewesen.
»Ich habe recht behalten.«
»Jetzt hör auf! Erinnerst du dich auch an die Blog-Einträge, in denen du mein Gesicht auf nackte Körper kopiert hast? Sehr hübsch! Nee, so leicht kommst du mir nicht davon. Für den Rest deines Lebens schuldest du mir was.«
Ellis lachte. Es war schon sonderbar, fand Sofia, wie das Leben den Menschen verändern kann – und dass der größte Feind eines Tages zum rettenden Strohhalm werden kann.
Elvira war aufgewacht und stöhnte.
»Was ist los?«
Sofia setzte sich neben sie. Elvira war ganz verschwitzt, ihre Beine waren geschwollen und voller Besenreißer. Sie war erst fünfzehn und sah schon so aus. Eigentlich sollte sie in die Schule gehen, gleichaltrige Jungs kennenlernen und an die Zukunft denken.
»Sie haben deinen Blog gelöscht und einen neuen gemacht, der einfach widerlich ist. Ich finde, du solltest ihn dir nicht ansehen. Ellis ist schon dabei, alles wieder in Ordnung zu bringen.«
»Habe ich mir schon gedacht. Dass sie mich nicht in Ruhe lassen, meine ich. Ich will den Kram gar nicht lesen. Ich möchte nur meine Ruhe haben, die Dinger in meinem Bauch loswerden und endlich mein eigenes Leben führen.«
»Das verstehe ich.«
»Ich muss nach Hause und mich für das Interview vorbereiten. Das wird aber das letzte sein. Ich kann nicht mehr.
«
»Okay, willst du, dass ich dich nach Hause bringe?«
»Warum denn? Glaubst du, dass die hinter mir her sind? Dass die eine Schwangere angreifen? Obwohl, das würde mich auch nicht überraschen.«
»Nein, darum ging es eigentlich nicht. Ich wollte dir nur Gesellschaft leisten. Es ist schon so dunkel draußen.«
»Nee, alles in Ordnung. Aber ich muss dir noch was erzählen, bevor ich gehe.«
Elvira wurde plötzlich rot im Gesicht, und ihr Blick wich Sofias aus.
»Papa hat mich gestern angerufen.«
»Was? Ist das ein Scherz?«
»Nein. Er hat gesagt: Franz will, dass ich auf die Insel komme, mit den Kindern. Er baut mir ein kleines Haus auf dem Anwesen, und ich bekomme fünfhunderttausend pro Jahr. Ein Kindermädchen und alles. Außerdem einen Privatlehrer, damit ich die Schule fertig machen kann. Ich muss nichts mit Franz zu tun haben, wenn ich nicht will. Er will nur das alleinige Sorgerecht für die Kinder. Papa hat auch gesagt, dass er nicht an einer sexuellen Sache interessiert ist, weil so eine Schwangerschaft den Körper so verändert. Du weißt ja, er mag lieber schmale, unberührte Körper von jungen Mädchen, auf so was steht er.«
Sofia hatte das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Ihr Mund wurde ganz trocken, und ihr Herz zog sich zusammen. Elvira fing an zu weinen. Stumme Tränen, die ihr die Wangen hinunterliefen.
»Aber Elvira! Das kannst du nicht machen!«
»Nein, allerdings
nicht. Papa hat nämlich auch gesagt, dass dieses Angebot nur unter einer Bedingung gilt. Ich muss den Kontakt zu dir und Benjamin abbrechen.«
Elvira drückte den Rücken gegen die Wand im Flur und
rutschte langsam auf den Boden. Sie umschlang ihren Bauch mit den Armen und schaukelte hin und her, als wollte sie ihre ungeborenen Kinder in den Schlaf wiegen. Sie war leichenblass geworden, die dunklen Augenringe traten noch stärker hervor. Die Tränen tropften ihr auf den Bauch.
Auch Sofia lehnte sich gegen die Wand, die Neuigkeiten hatten ihr das Gleichgewicht genommen. Sie starrte Elvira an, und in ihr breitete sich Hoffnungslosigkeit aus. Was hatte das hier alles noch für einen Sinn?
»Elvira, unter keinen Umständen kannst du dorthin zurückgehen.«
»Für dich ist das alles so einfach«, schniefte Elvira. »Aber ich bin es, die kein Leben mehr hat. Keine Zukunft. Alles ist zerstört.«
»Er hat dich vergewaltigt!«
»Das stimmt nicht ganz. Am Anfang fand ich es ja auch gut, aber dann lief alles schief.«
»Du warst vierzehn!« Sofia spürte, wie ihre Verzweiflung überhandnahm. Das Rauschen in den Ohren, gleich verlor sie die Kontrolle.
»Du kannst bei mir wohnen. Ich helfe dir mit den Kindern. Ich mache alles, Hauptsache, du gehst da nicht zurück.«
Mühsam war Elvira wieder aufgestanden. Sie umarmte Sofia so fest, dass die kaum Luft bekam. »Du bist so lieb zu mir. ViaTerra ist der letzte Ort auf der Welt, an dem ich sein will. Das musst du mir glauben. Vielleicht kann ich zu dir kommen, wenn die Kinder auf der Welt sind. Dann kann er seine Kinder behalten und ich bekomme mein Leben zurück.«
»Das wird er niemals zulassen.«
»Weißt du doch nicht. Sofia, ich will da in Ruhe drüber nachdenken, okay?
«
»Natürlich, das ist auch deine Entscheidung.«
Sofia half ihr, Jacke und Stiefel anzuziehen. Sie sah ihr hinterher, wie sie langsam die Straße hinunterschlurfte und wankte. Von hinten konnte man ihren enormen Bauch nicht sehen. Sie sah wie ein ganz normales Mädchen aus. Keine Menschenseele war unterwegs, nur Elvira, die im Schatten der Bäume verschwand und wieder auftauchte. Das Licht der Straßenlaternen färbte ihre langen Haare blau.
Es war das Letzte, was Sofia für eine sehr lange Zeit von Elvira sah.