KAPITEL 11
In der darauf folgenden Nacht träumte Sofia wieder von Franz Oswald, aber in diesem Traum berührte er sie liebevoll, so wie er es am Anfang getan hatte. Massierte ihre Schultern und den Rücken.
Sie war erregt, als sie aufwachte, und schämte sich dafür. Sie hatte sich nie verziehen, dass sie sich zu ihm hingezogen gefühlt hatte. Allein der Gedanke daran, wie beeinflussbar sie gewesen war, ekelte sie nachträglich. Wahrscheinlich konnte sie Oswald nicht aus ihrem Kopf verbannen, weil sie noch nicht begriffen hatte, wie er zu dem hatte werden können, der er war. Es existierte eine Familienchronik, nach der sie damals gesucht hatte. Aber die war in Oswalds Besitz, und darum würde sie das niemals erfahren.
Mit einem tiefen Seufzer stand sie auf. Elvira hatte sie schon seit drei Tagen nicht mehr gesehen. Kaum hatte sie das gedacht, entdeckte sie den kleinen, zusammengeknüllten Zettel, den jemand durch den Briefschlitz geschoben haben musste. Unverkennbar Elviras Handschrift. Offensichtlich hatte sie die Nachricht in großer Eile hingekritzelt.
Tschuldige, muss an die Kinder denken.
Sonst nichts weiter. Nicht einmal ihren Namen. Natürlich wusste Sofia, was das zu bedeuten hatte. Die Ahnung hatte sie schon gehabt, als sie Elvira hinterhergesehen hatte, wie sie im Dunkeln die Straße hinuntergelaufen war.
Sofia war enttäuscht und gekränkt. Am liebsten würde sie mit Simon darüber sprechen. Aber wahrscheinlich war er bei der Arbeit und nicht zu erreichen, vielleicht würde sie ihm eine kurze Mail schreiben, bevor auch sie das Haus verließ.
Es fiel ihr schwer, sich an diesem Tag auf die Arbeit zu konzentrieren. Elviras Vertrauensbruch tat weh und trieb ihr die Tränen in die Augen. Es quälte sie aber auch die Vorstellung, dass Oswald seine Klauen in das Leben eines unschuldigen Kindes geschlagen hatte, sowie die Verzweiflung darüber, dass er so was wie einen Sieg errungen hatte.
Als sie abends nach Hause kam, hing eine Plastiktüte an ihrer Tür. Sie sah in die Tüte, erkannte aber den Inhalt nicht und widerstand auch dem Impuls, ihre Hand hineinzustecken. Stattdessen schüttete sie die Tüte auf dem Boden im Flur aus und schrie so laut, dass es von den Wänden hallte. Es war eine Kröte. Plattgeschlagen und mausetot. Sie benutzte die Tüte, um das Tier aufzunehmen, lief damit vor die Tür und warf sie in die Büsche, während sie vor Ekel geschüttelt wurde. Zuerst vermutete sie einen Jungenstreich aus der Nachbarschaft dahinter. Sie ging in ihre Wohnung zurück und wusch sich die Hände.
Dann öffnete sie ihren Rechner, um nachzusehen, ob Simon ihr geantwortet hatte. Im Ordner Unbekannt war eine Mail, die bestätigte, dass ihre Bestellung im Wert von fünfhundert Kronen eingegangen sei. Aber sie hatte nichts bestellt. Die Waren wurden als adult contents bezeichnet und nicht weiter spezifiziert. Wahrscheinlich war das einfach nur Spam, also öffnete sie die nächste Mail, denn die war von Simon. Er hatte mit einer Frage auf eine Mail von ihr geantwortet: Ist die von dir? , die von ihrem Account geschickt worden war und nur aus Kraftausdrücken und Flüchen bestanden hatte. Dass er überhaupt auf die Idee kam, sie könnte so etwas schreiben. Das war schon eine Beleidigung. Jemand hatte ihren Account gehackt.
Sie öffnete den Ordner mit den gesendeten Mails, was ihre Befürchtungen bestätigte. Mehrere obszöne Nachrichten waren an Freunde und Bekannte geschickt worden. Schnell überprüfte sie ihr Bankkonto und stellte fest, dass tatsächlich fünfhundert Kronen an eine Firma gezahlt worden waren, die adult contents verkaufte und in England saß.
Jetzt war Eile geboten. Ihre Hände zitterten. Mehrmals verwählte sie sich, bis es ihr gelang, jemanden bei der Bank zu erreichen und das Konto sperren zu lassen. Dann schickte sie eine Entschuldigungsmail an alle Betroffenen, dazu gehörten auch ihre Eltern und ihre Chefin. Sie erschauderte bei dem Gedanken, was wohl ihre Chefin Edith Bergman dachte, wenn sie die anzüglichen Zeilen las. Danach richtete sie sich einen neuen Mail-Account ein und schickte die neue Adresse an ihre Kontakte. Schließlich sank sie erschöpft aufs Sofa.
Da stimmte was nicht. Wenn sich jemand die Mühe machte, ihr Konto zu hacken, begnügte der sich doch nicht mit fünfhundert Kronen. Und dann die Kröte in der Tüte. Hier ging es um etwas ganz anderes. Und sie hatte nur einen einzigen Feind in der Welt.
Die Gewissheit, dass etwas Entsetzliches losgetreten worden sein konnte, erdrückte sie geradezu. Sie sah aus dem Fenster, hatte das Gefühl, draußen einen Schatten gesehen zu haben. Sie wohnte im Erdgeschoss, was in einem Haus ohne Fahrstuhl ganz angenehm war, aber dafür konnte ihr auch jeder in die Wohnung sehen.
Sie trat ans Fenster, aber niemand war zu sehen. Was passierte hier gerade? Warum sollten sie ihr ausgerechnet jetzt etwas antun wollen? Nach über einem halben Jahr? Sie hatten Elvira doch schon gekauft, was wollten sie denn noch? Allerdings, es stimmte schon, sie war die Hauptverantwortliche des Blogs.
Sie hatten diese widerliche Mail in ihrem Namen nur geschrieben, um sie in den Dreck zu ziehen. Das hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Der Verfasser war alles andere als smart, sondern so dämlich, dass er oder sie sich nicht scheute, solche Mittel einzusetzen. Sofort musste sie an die beiden Wachen von ViaTerra denken, Benny und Bosse.
Sie hatte sich gerade wieder gesammelt und beruhigt, als es an der Tür klingelte. Sie zuckte zusammen. Durch den Spion sah sie, dass ihre Nachbarin draußen stand, eine Frau um die achtzig, die sie immer freundlich anlächelte, wenn sie sich im Treppenhaus begegneten. Alma Petersson stand an ihrer Tür. Jetzt sah sie allerdings alles andere als freundlich aus. Eher wütend.
Sofia öffnete die Tür.
»Ich finde das überhaupt nicht witzig!«, sagte Alma und hielt Sofia einen Karton unter die Nase.
»Entschuldigung, aber ich verstehe nicht …«
»Jetzt stellen Sie sich bloß nicht dumm.«
Sofia sah in den Karton. Auf einem Bett aus Seidenpapier lag ein großer, maßstabsgetreuer Dildo. Alma nahm eine Karte aus dem Karton und gab sie Sofia.
Von Sofia aus dem Ersten, wenn es abends zu einsam ist.
Ihr Magen zog sich zusammen, und gleichzeitig hatte sie einen bitteren Geschmack im Mund, die Vorboten von Brechreiz.
»Oh mein Gott! Das ist alles ein einziges großes Missverständnis, mein Konto ist gehackt worden …«
Aber die Nachbarin schien nicht zu wissen, was ein gehacktes Konto war. Sie warf Sofia den Karton vor die Füße, drehte sich um und hinkte in ihre Wohnung zurück. Sofia schämte sich, ihre Wangen glühten. Sie stürmte ihr hinterher und konnte im letzten Augenblick einen Fuß in die Tür stellen. Es war ihr unmöglich, den Gedanken zu ertragen, dass ihre Nachbarin der Überzeugung war, sie könnte etwas so Widerliches tun. Ihr liefen die Tränen übers Gesicht, sie fühlte sich schrecklich und gedemütigt. Schluchzend erklärte sie Alma, dass sie von einer Sekte drangsaliert werde und sie ihr niemals solche Pakete schicken würde. Immer wieder bat sie um Verzeihung.
Es endete damit, dass Alma Kaffee kochte, Sofias Lebensgeschichte fasziniert anhörte und versprach, die Augen nach verdächtigen Typen offen zu halten. Sie saßen in der gemütlichen Küche zusammen, tranken Kaffee und unterhielten sich. Und Sofia ging es allmählich wieder besser.
Aber die Angst kam zurück, als sie in ihre Wohnung zurückkehrte. Der Himmel draußen hatte seine Farbe verloren und das Wohnzimmer in ein düsteres Halbdunkel getaucht. Es war so still, dass der Kühlschrank klang, als würde eine Autobahn durchs Zimmer führen. Sie rief Benjamin an, der sich aufregte, Oswald verfluchte und sofort zu ihr kommen wollte. Aber Sofia versicherte ihm, dass sie schon zurechtkomme und es vollkommen ausreichen würde, wenn er wie geplant erst am Freitag käme.
Ich muss das Beste aus dem ganzen Scheiß machen, dachte Sofia. Ich habe mich mit meiner Nachbarin angefreundet und eine neue Mail-Adresse, ohne Spam. Mich werden sie niemals unterkriegen.
Trotzdem fühlte es sich in der Wohnung verlassen und einsam an.
Sie rief Wilma an, die jetzt bei einer Modezeitschrift in Stockholm arbeitete, aber sie erreichte nur die Mailbox. Zum ersten Mal, seit sie der Sekte den Rücken gekehrt hatte, fühlte sie sich einsam. Die ständige, erzwungene Nähe zu anderen in der Sekte hatte sie eingeengt, und sie genoss es sonst sehr, allein zu sein. Vielleicht sollte sie doch mit Benjamin zusammenziehen? Obwohl sie noch nicht wieder bereit dazu war, seine Planlosigkeit in ihrem Leben zu dulden. Sie stellte sich bildlich vor, wie seine Klamotten überall verstreut herumlagen, wie sämtliche Türen und Schubladen offen standen und wie sein Schnarchen ihren Schlaf begleitete.
Sie entschied sich, Simon stattdessen eine Mail zu schreiben und sich so die Angst aus dem Körper zu tippen. Sie erzählte ihm von der Schikane und schlug vor, am nächsten Tag zu telefonieren. Da sah sie, dass es schon nach zwölf war. Schnell zog sie sich den Schlafanzug an und bürstete sich die Zähne, während sie dabei in ihre angsterfüllten Augen im Spiegel über dem Waschbecken sah. Sie spürte eine große Müdigkeit. Dann ging sie zur Wohnungstür, versicherte sich, dass alles verschlossen war, und schaltete sämtliche Lampen aus, bis auf die auf dem Wohnzimmertisch.
Erst als sie unter die Decke gekrochen war, konnte sie über alles nachdenken. Alles war so schnell gegangen. Erst ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag. Das Leben hatte sich vollkommen normal angefühlt, bis sie die Tüte an ihrer Wohnungstür gefunden hatte. Das ist alles vollkommen geisteskrank. Wer schickt einer Achtzigjährigen einen Dildo? Mit was für Leuten habe ich es da zu tun? Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Was ihr aber richtig Angst einjagte, war der Wahnsinn dahinter. Die Gewissheit, dass solche Typen vor nichts zurückschreckten. Der Karton mit dem Dildo tauchte vor ihren Augen auf. Verdammt! Der stand ja noch draußen vor der Tür. Wenn jemand aus dem Haus den dort findet? Sie warf sich einen Morgenmantel über, schnappte sich den Karton und lief zu den Müllcontainern, die hinterm Haus standen. Es war so kalt, dass die Luft auf der Haut brannte. Und obwohl es Winter war, hörte sie in der Ferne Donnergrollen. Es kribbelte ihr im Nacken, und sie drehte sich um. Aber da war niemand.
Als sie den Müllcontainer öffnete, fiel ihr Blick sofort auf die Mülltüte, die sie morgens auf dem Weg zur Arbeit weggeworfen hatte. Die Tüte war in der Mitte aufgeschlitzt worden, wie bei einem Kaiserschnitt. Jemand hatte ihren Müll durchsucht. Die Reste der Nudeln vom Vortag krochen, zusammen mit einer leeren Tamponpackung, aus der Öffnung. Ihr wurde augenblicklich kotzübel, sie krümmte sich zusammen. Der Anblick war so abstoßend und persönlich, dass sie nicht anders konnte, als sich am Container festzuhalten und auf das Beet zu erbrechen.