KAPITEL 14
Zwei Wochen lang passierte nichts. Keine Mail, kein Paket oder andere unerfreuliche Überraschungen.
Als hätte die ganze Welt die Luft angehalten. Eine sonderbare Stille umgab sie. Alles fühlte sich so anders an. Die Zeit war zerrissen, immer wieder unterbrach sie ihren Tagesablauf, um sich umzusehen, aus dem Fenster zu spähen oder ihre Mails nach neuen Sachen zu checken. Nervös war sie vor allem, wenn sie draußen herumlief. Schatten, die sie vorher nie bemerkt hatte, versteckten sich auf einmal hinter den Büschen und folgten ihr. Und die Tatsache, dass nichts passierte, jagte ihr irgendwie eine noch größere Angst ein. Als behielte sie jemand aus der Ferne im Auge. Sie überprüfte die Müllcontainer zweimal, ob jemand die Tüten durchsucht hatte. Stellte sich vor, wie dämlich das aussah, dass sie im eigenen Müll wühlte. Aber die Mülltüten blieben unberührt.
Die Adressaten der Ekel-Mail nahmen es gelassener als erwartet. Ihre Chefin Edith Bergman hatte nur verlegen gelacht und Sofia gesagt, dass sie sofort wusste, dass die Mail nicht von ihr sein konnte. Sofias Eltern hatten die Mail noch gar nicht gelesen, sie bevorzugten das Telefon. Und Wilma rief sie an und fragte, ob sie vor Sehnsucht wahnsinnig geworden sei.
Sie war häufiger bei ihren Eltern, aber wenn sie versuchte, über die Zeit in der Sekte zu sprechen, geriet alles aus den
Fugen. Ihre Mutter versuchte sofort abzulenken. »Denk nicht mehr dran. Du hast doch noch dein ganzes Leben vor dir!«
Die Stimme ihrer Mutter wurde ganz schrill und überschlug sich. Wie eine Schauspielerin in einem Theaterstück.
»Ich finde, du solltest hier bei uns eine Party feiern«, schlug sie fröhlich vor. »Lade doch all deine Freunde von früher ein und finde wieder Anschluss.«
Sofia bekam zuerst kein Wort heraus, so idiotisch fand sie den Vorschlag. »Vielen Dank, aber ich möchte eigentlich nur meine Ruhe haben.«
Danach unterhielt sie sich mit ihrer Mutter nie wieder über ViaTerra.
Manchmal machte sie sich Vorwürfe, den Blog ins Leben gerufen zu haben. Warum war sie nur immer so dickköpfig und stur? Warum konnte sie nicht das tun, was ihr alle gesagt hatten. Oswald und ViaTerra einfach vergessen. Aber das funktionierte für sie nicht, sondern arbeitete im Stillen weiter.
Benjamin hatte ihre Wohnung sicherer gemacht. Ein Extraschloss mit Kette eingebaut und schwarze Jalousien angebracht, die Sofia zwar furchtbar fand, die aber verhinderten, dass jeder reinsehen konnte. Als er allerdings eine Alarmanlage installieren wollte, sagte sie stopp. Die Schikane hatte doch schon aufgehört.
Trotzdem fiel es ihr schwer einzuschlafen. Sie hatte Angst vor den Alpträumen, die größer und gewaltiger geworden waren. Oft wachte sie davon auf, dass sie am ganzen Körper zuckte und schweißnass war. Manchmal lag sie noch mit fest zusammengekniffenen Augen wie versteinert im Bett und hatte Angst, im Schlafsaal auf ViaTerra zu sein
.
Eines Morgens, der Traum hatte sich besonders klar und echt angefühlt, versuchte sie wieder in den Körper zurückzutauchen, den Franz Oswald mit seinem ganzen Gewicht gegen eine Wand drückte. Freiwillig stellte sie sich der Angst, die ihr durch den Körper gefahren war. Sie versuchte sich umzudrehen und ihm in den Schritt zu treten. Aber seine Gestalt hatte sich bereits aufgelöst, ihr Bewusstsein war hellwach und der Weg zurück in den Traum verstellt.
Sie stand auf und ging zum Fenster. Die Straßenlaternen waren schon aus, und der Raum war in das Licht einer blassen Morgendämmerung gehüllt. Ein sonderbares, unwirkliches Gefühl beschlich sie. Der Morgen war fast vollkommen still, außer einer schwachen Brise, die das Espenlaub erzittern ließ. Jemand lief über den Rasen vor dem Haus, drehte sich um und sah sie an. Sie erstarrte, aber der Mann drehte sich noch mal um und ging weiter, Richtung Zentrum. Er trug einen Rucksack und war wahrscheinlich auf dem Weg zur Arbeit. Und trotzdem schoss es ihr durch Mark und Bein, wie eine Warnung, wie die Musik im Hintergrund eines Horrorfilms.
Spätabends rief Ellis unerwartet an. »Was willst du mit dem Blog machen?«
»Shit, den hatte ich schon fast wieder vergessen.«
Sofia hatte Ellis nichts von dem gehackten Mail-Account erzählt, aber ihr wurde klar, dass es ein Fehler gewesen war. Denn wenn ihr einer helfen konnte, dann war es Ellis. Und dann tat sie etwas, das sie sich geschworen hatte, dass sie es niemals machen würde. Sie lud ihn zu sich in die Wohnung ein, was sich allerdings als richtig erwies. Er installierte ihr mehrere Sicherheitssysteme auf dem Rechner, Firewalls, Verschlüsselungen und Dinge, von denen sie keine Ahnung hatte
.
Dann sprachen sie über den Blog. Das große Interesse hatte abgenommen. Elvira war weg und würde mit Sicherheit nicht mehr auftauchen. Es gab immer wieder Leser, die noch neue Kommentare posteten. Am häufigsten fragten sie nach Elvira. Wo sie jetzt war. Ob die Kinder schon auf der Welt waren.
Ellis und Sofia unterhielten sich, tranken ein Glas Rotwein. Ihr war es nach wie vor unmöglich, ihm ohne Vorbehalte zu begegnen und offen in die Augen zu sehen. Er hatte sich damals wie ein Kotzbrocken benommen, und so fiel es ihr schwer, ihm vollkommen zu vertrauen. Sie fragte sich, ob seine geradezu überwältigende Hilfsbereitschaft nur ein Weg war, um sich wieder in ihr Leben zu schleichen. Offenbar konnte er ihre Gedanken lesen, denn plötzlich brach er in schallendes Gelächter aus.
»Na, schwelgst du in Erinnerungen? Weißt du was, ich habe mich total verändert. Du schuldest mir nichts dafür, dass ich dir jetzt helfe. Und hey, ich kann hier mit dir ein Glas Wein trinken, ohne mich gleich volllaufen zu lassen. Trotzdem musst du entscheiden, was du mit dem Blog anstellen willst.«
Es war verlockend, ihm einfach zu sagen, dass er den Blog auflösen sollte. Alles hatte sich wieder beruhigt. Benjamin und Ellis hatten ihre Wohnung in eine Art Hochsicherheitstrakt verwandelt. Niemand würde unbemerkt hineinkommen, und ihr Konto war jetzt viel schwerer zu hacken. Es schien angemessen, sich beizeiten aus dem Kampf zurückzuziehen.
Aber die himmelschreiende Ungerechtigkeit machte ihr zu schaffen.
Niemand, überhaupt niemand wird mich davon abhalten, die Wahrheit zu sagen.
»Sofia, jetzt sag schon, wollen wir den Blog auflösen?
«
»Nein, das will ich nicht.«
»Ist das ein Scherz?
»Nein, wir machen ihn zu meinem
Blog. Ich werde nicht so viele Follower haben wie Elvira, aber das ist egal. Ich erzähle meine Geschichte. Wenn ich dadurch auch nur eine einzige Person davon abhalten kann, einer Sekte zu folgen, hat es sich schon gelohnt.«
»Das ist ein ziemlich großes Risiko, das du da eingehst …«
»Darum geht es doch, oder?«
Sie blieben die ganze Nacht auf. Zuerst änderten sie den Namen des Blogs in Mein Leben nach der Sekte
. Sie nahmen Elviras Foto raus und ersetzten es durch eine düstere Fotografie von dem Herrenhaus im Nebel und hinter Stacheldraht. Das Foto hatte auch der Journalist Markus Strid in seinem Artikel über ViaTerra benutzt. Elviras Geschichte behielten sie und fügten lediglich Sofias hinzu. Ellis übernahm Design und Layout. Sofia zitierte aus dem Tagebuch, das sie heimlich auf der Insel geschrieben hatte. Die letzten Einträge datierten von ihrer Flucht im Zug von Lund nach Haparanda. Der Text eignete sich sehr gut, weil sie aufgeregt und wütend gewesen war, als sie ihn geschrieben hatte. Darin standen detaillierte Schilderungen von Oswalds Übergriffen auf seine Mitarbeiter, von den schrecklichen Bestrafungen auf ViaTerra, von der Gewalt und allem, was vor der Flucht passiert war. Mithilfe des Tagebuches schrieb sie einen langen Beitrag, den Ellis dann in den Blog einfügte.
»Wir müssen noch erzählen, was mit Elvira passiert ist«, sagte er.
»Ja, wir schreiben, dass Oswald sie gekauft hat. Dass er ihr so viel Geld angeboten hat, dass sie nicht Nein sagen konnte. Die Leute werden sicher stinksauer sein. Vielleicht kommt es sogar zu einer Demonstration auf der Insel. Eine Gruppe
stellt sich mit einem Plakat Lasst Elvira frei
vor das Tor. Das wäre doch cool.«
»Stimmt. So wie damals, als ich gebrüllt habe ›Lasst Sofia frei‹.«
In den frühen Morgenstunden waren sie fertig, der Blog ging online.
»Hammer, wie der aussieht«, sagte sie. »Total gruselig. Du bist richtig gut.«
»Was, meinst du, wird Benjamin dazu sagen?«
»Ehrlich gesagt, das ist meine Angelegenheit. Ich kann mein Leben so weiterführen und alles verleugnen oder etwas dagegen tun. Gegenwind werde ich akzeptieren müssen.«
Es war schon viel zu spät, um schlafen zu gehen, nachdem Ellis gegangen war. Sie würde in ein paar Stunden zur Arbeit müssen, setzte sich auf den Balkon und betrachtete den Mond, der durch eine dünne, zerrissene Wolkendecke schien. Der Morgen graute, am Horizont stieg sicher bald die Sonne auf.
Sie ging ins Badezimmer und zog sich aus. Die Kacheln waren kalt. Sie drehte die Dusche an, auf ganz heiß, so heiß, dass sich bald ein dichter Nebel aus Dampf im Zimmer ausbreitete und ihr Gesicht im Badezimmerspiegel verschwand. Lange stand sie unter dem Strahl, ließ das Wasser auf den Körper prasseln und die Müdigkeit wegspülen, die sich doch gemeldet hatte. Sie trocknete sich ab, zog sich an und machte sich einen starken Kaffee. Damit setzte sie sich wieder auf den Balkon und sah zu, wie die Sonne über Lund aufging.
Sie spürte und genoss den Kampfgeist, der in ihr wieder zum Leben erweckt worden war.