KAPITEL 15
Simon hielt die Luft an und blieb reglos an der Stelle liegen, an der er gestürzt war. Innerlich verfluchte er seine Tollpatschigkeit. Die Alarmanlage heulte, und er wollte gerade aufspringen und losrennen, als ihm klar wurde, dass die Wachleute ihn sehen würden, wenn er am Wachhäuschen vorbeistürmte. Da hörte er ein Motorrad, das angelassen wurde und in seine Richtung fuhr. Sein Herz schlug so laut, dass man es an diesem windstillen Morgen eigentlich hätte hören müssen. Die Kälte des Bodens drang durch seine Kleidung. Das Motorrad hatte angehalten. Er hörte, wie es aufgebockt wurde, dann Schritte. Es folgte ein Piepen, dann ein Knacken und eine Stimme aus einem Walkie-Talkie. »Kannst du was sehen? Der Alarm ist an dem zweiten Tor ausgelöst worden.«
»Nee, hier ist niemand.« Das war Bennys träge Stimme. »Das war ein Eichhörnchen oder ein Vogel.«
»Kannst du nicht mal rausgehen und nachsehen?«
»Nee, ich hab keinen Schlüssel.«
»Der hängt hier vorn im Wachhäuschen. Komm und hol ihn dir. Und dann nimmst du noch den Köter mit.«
Köter? Simon erinnerte sich an das Hundebellen, das er am Teufelsfelsen gehört hatte; er hatte es auf einen Hof im Inselinneren verortet. Auf einmal hatte er das Bild eines massiven, riesigen, knurrenden Rottweilers vor Augen, mit glühenden Augen und kräftigem Kiefer, gefletschten Zähnen und Geifer, der ihm aus dem Maul spritzte .
»Schon gut, ich komme und hol ihn.«
Das Motorrad wurde gestartet, es rutschte über den Kiesweg und fuhr davon. Simon begriff erst jetzt, dass er die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte und sein Körper quasi am Boden festgefroren war. Aber die Beine bewegten sich wie von allein, und er stürmte in den Wald. Trotz der schweren Stiefel flog er förmlich, ohne über das Ziel nachzudenken. Sein Herz raste, es brannte in der Lunge. Er hatte kein Gefühl dafür, wie lange er schon gerannt war, denn sein Gefühl für Zeit hatte sich aufgelöst. Das Bild von dem geifernden Hund hatte sich in seinem Kopf eingebrannt und trieb ihn immer weiter.
Er jagte zwischen den Bäumen hindurch, kleine Hügel hinauf, über Lichtungen hinweg und dann wieder durch ein Waldstück. Er hörte nur seinen eigenen, keuchenden Atem und das Knirschen und Knacken von Moos und Gestrüpp unter seinen Stiefeln.
Die Alarmanlage war ausgestellt worden. Auch die Natur hielt den Atem an. Als würde er durch ein Vakuum rennen. Er hielt erst an, als der Schmerz in seiner Brust unerträglich geworden war und er keine Kraft mehr hatte. Er war mitten im Wald, er sah nur Bäume, Unterholz und den gefrorenen, knisternden Waldboden.
Sein Körper dampfte vor Schweiß und Hitze. Er beruhigte seinen Atem und sah sich um. Er hatte sich verlaufen. Sofort musste er wieder an den Hund denken. Warum einen Hund? Hatten sie bemerkt, dass jemand das zweite Tor benutzte? Aber dann hätten sie doch längst das Schloss ausgetauscht. Wovor hatten sie solche Angst?
Er holte tief Luft und konzentrierte sich auf das aktuelle Problem und seine Bewältigung. Wie kam er wieder nach Hause? Er musste einen Hügel finden, von dem aus er über die Insel sehen und sich orientieren konnte. Sonst würde er nur im Kreis laufen. Zum Glück waren die Bäume noch kahl, ein paar Meter Höhe brauchte er nur, dann hätte er freie Sicht. Eine Weile irrte er umher, bis er auf einem Hang einen Felsblock entdeckte, der mit Moos bewachsen war. Die Oberfläche war vom geschmolzenen Raureif feucht, er fand keinen Halt, rutschte aus und fiel hin. Leise fluchte er. Ärgerte sich über seine Dämlichkeit. Was scherte ihn eigentlich diese blöde Sekte? Endlich fanden seine Hände in einer Felsspalte Halt, und er konnte sich nach oben ziehen.
Von dort konnte er durch die windgepeitschten Baumwipfel etwas sehen, zumindest einige Anhaltspunkte. Den Kirchturm im Ort, das Herrenhaus und das Meer, das still und grau in der Ferne lag. Er ließ sich vom Felsen gleiten und machte sich in Richtung Dorf auf. Murmelte mürrisch vor sich hin. Seine Stirn übernahm die Funktion eines Kompasses, der ihn lenkte. Er rannte nicht mehr, machte aber lange, schnelle Schritte.
Erst als er sich wieder beruhigt hatte, vermochte er die Schönheit der Landschaft zu bemerken. Die Luft war mild und feucht, und die Sonne hatte ihren Weg durch die Wolken gefunden und glitzerte in der Frostschicht, die auf den Tannenzapfen lag. Ab und zu zog sie sich hinter die Wolken zurück, dann kam ein frischer Wind auf.
Noch nie in seinem Leben war er so schnell gerannt. Wie ein Besinnungsloser. Er fühlte sich großartig. Marschierte weiter und pfiff dabei. Nach einer Weile wurde der Wald lichter, er hatte den Weg in die Stadt erreicht, der sich wie ein Wurm durch die Landschaft wand. Ein Teil von ihm war noch aufgewühlt, ein anderer, der vertrautere, beschimpfte ihn leise, was für ein Idiot er war.
Als er in der Pension ankam, war bereits Mittagszeit. Er entschied, die Mahlzeit zu überspringen und stattdessen ins Gewächshaus zu gehen. Er hoffte inständig, dass ihn niemand vermisst hatte. Dann zog er eine Karotte aus dem Beet und knabberte an ihr, während er sich an die Arbeit machte und schnell in seinen alltäglichen Trott fiel.
Die Mail an Sofia, in der er alles erzählte, schrieb er am Abend. Er trug ein bisschen dicker auf, und als er sich das Geschriebene noch einmal durchlas, musste er laut lachen. Sein Schlusssatz war eine Frage: Ein Hund?
Sofia antwortete umgehend. Das sei die lustigste Mail gewesen, die sie jemals gelesen hätte. Sie vermutete, dass der Wachhund mit Oswalds Paranoia zu erklären sei und mit Elviras Rückkehr nach ViaTerra zu tun habe. Dann schickte sie ihm den Link zu ihrem neuen Blog. Als er ihn las, beschlich ihn ein komisches Gefühl, obwohl ihn die Geschichte nicht überraschte. Er fand aber, dass sie gut schreiben konnte. Trotzdem würde er ihr später antworten, die Ereignisse des Tages hatten ihn doch ziemlich erschöpft. Seinen letzten Gedanken, bevor er einschlief, widmete er dem Hund, und er fragte sich, ob es tatsächlich ein Rottweiler gewesen war.
Simon hatte seine Morgenroutine. Und die war ihm heilig und unverrückbar. Eine Stunde vor Arbeitsbeginn ging er in den Frühstücksraum hinunter. Dann konnte er das Frühstück genießen, wenn es am besten war. Frisch zubereitet und noch dampfend heiß. Während er aß, las er das Lokalblatt und die überregionale Göteborgsposten. Die Zeitungen waren seine Verbindung zur Außenwelt, seine Art, an den Geschehnissen außerhalb der kleinen Insel teilzunehmen. Sie waren auch seine einzigen Informationsquellen, außer den sporadischen Gesprächen mit den Gästen der Pension und dem Kontakt zu Sofia .
Nachdem er aufgegessen und mindestens drei Becher Kaffee getrunken hatte, fühlte er sich gestärkt und satt – sowohl physisch als auch psychisch – und hatte an nichts anderem Interesse als an seinen Pflanzen.
Die Annonce sah er eine Woche nach dem Zwischenfall. Er hatte die Zeitung bis zu den Todesanzeigen durchgeblättert. Normalerweise übersprang er die, aber manchmal überflog er sie auch, um zu sehen, ob er jemanden von den Verstorbenen kannte. An diesem Tag aber blieb er auf der Seite mit den Geburtsanzeigen hängen.
Die Zwillinge Thor und
Invictus Oswald-Bärenstein
Die Eltern Elvira Asplund &
Franz Oswald-Bärenstein
Simon sah sich die Anzeige sorgfältig an, denn da fehlte etwas. Es gab kein Foto der Kinder. Kein Willkommen im Leben! Oder Wir heißen Invictus und Thor willkommen! Die Anzeige war nur mit einer grünweißen Flagge und dem Logo von ViaTerra versehen. Darin sah man die Kontur eines geöffneten Mundes. Das war das Bild für Oswalds Motto »Wir wandern auf dem Weg der Erde«. Alle Angestellten von ViaTerra wussten aber, dass sich dahinter noch eine zweite, weit wichtigere Bedeutung verbarg: Oswalds Überzeugung, dass er eines Tages die Weltherrschaft übernehmen würde.
Simon musste an Elvira und Oswald denken und an die Kinder, die keine Ahnung hatten, was sie erwartete. Ihn schauderte, er legte die Zeitung beiseite.
Abends telefonierte er mit Sofia. Sie fand Flagge und Logo gar nicht so bemerkenswert. »So ist er doch. Alles muss mystisch und besonders sein. Weißt du eigentlich, warum das Logo wie ein geöffneter Mund aussieht?«
»Nein, keine Ahnung.«
Sofia lachte. »Er hat es mir mal erzählt. Es soll an den Todeskuss erinnern. Da siehst du mal, wie krank im Kopf der ist.«
Simon ging ein Licht auf. Er hatte dieses merkwürdige Symbol nie verstanden, das auch auf den Briefköpfen von ViaTerra und auf einigen der Anweisungen an die Belegschaft prangte.
»So, jetzt weißt du es. Aber diese Namen, ich bitte dich! Wer nennt sein Kind Invictus? Oder Thor mit h? Das ist so verrückt, dass ich mich ausschütten könnte. Da ist doch das Mobbing in der Schule vorprogrammiert. Die armen Dinger.«
»Ja, obwohl sie wahrscheinlich auf irgendeine private Angeberschule geschickt werden, auf die nur Kinder mit Namen aus dem schwedischen Adel gehen. Benedictus von Krusenstjerna und so was.«
Sofia lachte wieder, aber er hörte trotzdem den Schmerz in ihrer Stimme. Kaum wahrnehmbar, aber er hörte ihn.
»Ist irgendetwas passiert?«, fragte er.
»Nein, nicht direkt. Oder vielleicht doch, aber das ist eher so ein Bauchgefühl, nichts Konkretes. Ich melde mich, wenn es was Neues gibt.«
Er ließ es auf sich beruhen, aber ihn beschlich ein ungutes Gefühl, nachdem er aufgelegt hatte.