KAPITEL 18
Simon konnte einfach nicht aufhören, sich Gedanken über den Hund zu machen. Ausnahmsweise fiel es ihm schwer, sich auf seine Arbeit in den Gewächshäusern zu konzentrieren. Es hatte ihn so neugierig gemacht. Wenn es einer dieser Kampfhunde war, konnte er unmöglich weiterspionieren, das wäre viel zu gefährlich.
Und wenn er nicht an den Hund dachte, wanderten seine Gedanken zu Sofia. Er hatte schon seit Tagen nichts mehr von ihr gehört, was nicht weiter ungewöhnlich war. Trotzdem beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Er hatte keine Anhaltspunkte, es war nur ein Bauchgefühl. Aber es erinnerte ihn an den Tag, als sein Bruder verschwunden war. Er hatte sich schon während des Gerichtsverfahrens Sorgen um Sofia gemacht. Benjamin und sie hatten die Sache fast leichtfertig gehandhabt. Als würde danach einfach alles vorbei sein. Aber Simon kannte solche Menschen wie Oswald. Die ließen sich nicht ohne Gegenwehr erniedrigen. Da war was im Gange. Die Mannschaft, die wieder im Herrenhaus eingezogen war. Der Hund. Elvira, die so traurig ausgesehen hatte. Aber wie sollte er Sofia warnen, ohne ihr eine Riesenangst einzujagen? Normalerweise lösten sich solche grübelnden Gedanken von allein auf, wenn er mit den Händen in der Erde arbeitete. Aber an diesem Tag funktionierte das nicht
.
Nach dem Abendessen ging er in sein Zimmer und holte die Schrotflinte aus dem Schrank. Mit der hatte er auf dem Hof in Småland Hasen und Fasanen geschossen. Es war eine Selbstverständlichkeit gewesen, rauszugehen und sich sein Abendessen selbst zu schießen. Jetzt hatte er nicht einmal mehr Munition. Die Flinte hatte lange unbenutzt im Schrank gestanden, aber nun würde sie wieder Verwendung finden. Denn wenn ihn jemand beim Herumschleichen entdeckte, könnte er immer sagen, dass er auf der Jagd war. Es war zwar keine Jagdsaison, aber so etwas wussten doch die Idioten auf ViaTerra nicht. Da war er sich ganz sicher.
Er zog sich seinen dicksten Overall und Anorak an. Aus dem Gewächshaus holte er sich ein Messer, das er sich in die Tasche steckte. Er hatte mal einen Spielfilm gesehen, in dem ein Typ einem Schäferhund, der ihn angefallen hatte, die Kehle durchschnitt. Das war Notwehr. So gerüstet machte er sich auf den Weg. Zu Fuß dauerte es, wenn man schnell lief, eine gute halbe Stunde. Das Dorf lag im südlichen Teil der Insel, das Anwesen von ViaTerra an der nördlichen Spitze. Er nahm die Küstenstraße. Der Abend war kühl, eine frische Brise wehte. Die Aussicht von dort oben war fast schwindelerregend schön. Das ganze Jahr über. Die Felsen fielen neben der Straße senkrecht ab, bis ins Meer. Der Wind war stärker geworden, aber nicht stark genug, um die Wellen anzutreiben, sodass sie schäumten und Gischt in die Luft spritzten. Die Sonne ging langsam unter, man konnte sie von der Straße aus nicht sehen, nur das rote Licht am Himmel.
Simon lief mit schnellen Schritten. Er schob seine Hände in die großen Taschen seines Anoraks. Die Straße war menschenleer. Kein Auto, keine Seele weit und breit. Er bog am Kiesweg ab, der zum Herrenhaus führte. Kurz vor der Pforte bog er in den Wald ab. Es war mittlerweile fast dunkel, aber
seine Beine waren diesen Weg schon so oft gegangen, dass sie ihn von ganz allein fanden. Sein Zeitgefühl war richtig, denn er hörte hinter der Mauer die Stimmen der Belegschaft. Es war bald Zeit für die Versammlung. Das hieß, es war sieben Uhr. Mit ein bisschen Glück würden sie den Hund dabeihaben.
Er traute sich nicht, das Gelände zu betreten, denn er wollte dort nicht erwischt werden. Vor der Mauer konnte er immer sagen, dass er auf der Jagd war, aber auf dem Anwesen selbst würde diese Lüge nicht standhalten. Deswegen lehnte er den Birkenstamm, den er schon einmal verwendet hatte, gegen die Mauer und stieß sein Messer in die Rinde, um es als Handgriff zu benutzen. So kletterte er nach oben und hielt sich an der oberen Mauerkante fest. Wahrscheinlich sah es vollkommen idiotisch aus, wenn sein Kopf plötzlich zwischen dem Stacheldraht auftauchte. Aber niemand sah ihn. Der Hof badete im Licht der Scheinwerfer. Die Mitarbeiter standen aufgereiht mit kerzengeradem Rücken und wirkten angespannt, so wie damals, als Oswald noch da war. Er ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen, sah ein paar bekannte Gesichter. Aber Elvira war nicht dabei.
Madeleine und Bosse standen vor dem Personal, aber noch hatte niemand ein Wort gesagt. Auch nach dem Hund sah er sich vergeblich um. War der in seinem Zwinger? Doch genau in dem Moment entdeckte er ihn. Er lag, ein Stück von der Anhängerschar entfernt, ausgestreckt auf dem Rasen und hatte seinen Kopf auf die Pfoten gelegt. Riesengroß war er. Simon musste ein Lachen unterdrücken. Die Situation war so absurd. Er spionierte einer Sekte hinterher, die sich besonders schlau fand und sich einen Wachhund angeschafft hatte. Aber einen großen, zotteligen Bernhardiner. Simon grinste. Noch nicht mal das konnten diese Idioten richtig machen
.
Sein Mut erwachte wieder. Er entschied sich, doch aufs Gelände zu schleichen. Die Pforte öffnete er leise und vorsichtig. Dann nahm er wieder seine Position hinter der dicken Eiche ein.
Die Versammlung hatte gerade begonnen. Madeleine hatte das Wort ergriffen. Ihre Stimme war so klar und kräftig, dass Simon fast jedes Wort verstehen konnte. Madeleine hatte eine neue Aura bekommen. Sie sprach laut und durchdringend, machte auch viele Gesten, aber die waren resolut und sicher. Das kleine, dünne Mädchen von früher gab es nicht mehr. Sie hatte ein Kraftfeld, das auch die anderen erreichte. Die Scheinwerfer erzeugten eine Art Heiligenschein auf ihrem Kopf, und aus ihrem Mund kamen dichte Wolken, als sie ihre Anordnungen vortrug.
Simon hörte sofort, dass Oswald aus ihr sprach. Auf sonderbare Weise war Oswald in ihrem Körper und wies wie früher seine Belegschaft zurecht. Auf diesen Augenblick hatte sie bestimmt lange gewartet. Endlich war sie Oswalds Stellvertreterin. Simon wollte gar nicht wissen, was für ein Dasein die armen Teufel führten, die dort alle in Reih und Glied standen.
Seine Vermutungen wurden bestätigt, als er sie sprechen hörte. »Franz hat gesagt …« und »Franz will, dass dieses und jenes erledigt wird«. Franz vorne und Franz hinten.
Es folgten die neuen Regularien und Strafen für schlechtes Benehmen, die ab sofort in Kraft treten würden. Das klang alles noch schlimmer als das, was sich Oswald damals ausgedacht hatte. Reis und Bohnen, Strafarbeit und Wiedergutmachungsprojekt. Und dazu sollten sich die Mitglieder auch wieder ins eiskalte Meer stürzen, wenn sie bestimmte Regeln gebrochen hatten.
Das war alles vollkommen unbegreiflich, fand Simon. Das waren genau die gleichen Dinge, die der Organisation fast
das Genick gebrochen hätten. Für die sich Oswald vor Gericht rechtfertigen musste. Ein Skandal, an dem sich die Medien ein Jahr lang ergötzt hatten. Und trotzdem verhielten sie sich so, als wäre nichts passiert.
Erst da begriff Simon, dass er der Auferstehung der Sekte ViaTerra beiwohnte. Dass die armen Anhänger dort hinten bald durch die Hölle gehen würden, durch die er vor gar nicht allzu langer Zeit selbst gegangen war. Und dass alle, die es bereits erlebt hatten, sich trotzdem in die Reihe gestellt hatten und zustimmend nickten.
Offenbar war mehr dazu nötig als ein Skandal in der Presse und ein Gerichtsverfahren, um eine Sekte unschädlich zu machen. Vor allem war Oswald in vollem Umfang mit von der Partie. Ob er tatsächlich physisch anwesend sein konnte, spielte dafür gar keine Rolle.
Madeleines Predigt war zu einem Surren in seinem Kopf geworden, aber dann sagte sie plötzlich etwas, was seine Aufmerksamkeit weckte. Sie wies Benny zurecht, der sein Desinteresse unverhohlen zeigte.
»Du hast kein Recht, hier so herumzuhängen«, sagte sie. »Franz hat gesagt, dass das Sofia-Bauman-Projekt oberste Priorität hat.«
Benny zuckte zusammen.
»Wir haben alles unter Kontrolle«, erwiderte er.
»Das ist auch besser für dich. Franz will deinen Bericht haben. Du gehst erst schlafen, wenn er auf meinem Schreibtisch liegt.«
Mit diesen Worten beendete sie die Versammlung.
Das Personal ging auseinander, Simon blieb an seinem Posten.
Dann tat er etwas, was er noch nie zuvor gewagt hatte. Er schickte Sofia von dem Anwesen aus eine SMS.