KAPITEL 19
Sofia las Simons SMS erst mehrere Tage später. Normalerweise reagierte sie immer zeitnah auf Nachrichten, aber die letzten Tage waren chaotisch gewesen. Abends hatte sie nur noch Kraft, ins Bett zu fallen und sofort einzuschlafen.
Zum einen ging es um die Vorbereitung von Markus Strids Besuch. Er hatte sie gebeten, bestimmte Dokumente über das Gerichtsverfahren zu besorgen und sich um die Fotografiererlaubnis in der Bibliothek zu kümmern. Zweiteres hatte allerdings einen positiven Effekt, denn Edith Bergman war regelrecht begeistert, als sie hörte, dass eine der größten Tageszeitungen, Dagens Nyheter, einen zweiseitigen Bericht über Sofia veröffentlichen wollte. Sie wirkte sogar fast ein bisschen beschämt und war vermutlich dankbar, dass sie ihrer Mitarbeiterin nicht gekündigt hatte.
Zum anderen war da die Polizei, über die sich Sofia wahnsinnig aufgeregt hatte – sie stattete den Beamten fast täglich einen Besuch ab. Beim ersten Versuch war sie von der Insektenfrau beim Empfang abgewiesen worden, die ihr mitgeteilt hatte, dass gerade keiner der Beamten mit ihr sprechen könne. Am nächsten Tag hatte sie sich geweigert, die Dienststelle zu verlassen, bevor sie mit einem Beamten gesprochen hatte. Zwei Stunden lang musste sie warten, zwei Stunden lang warfen sie und die Insektenfrau sich böse Blicke zu. Der Beamte, der dann endlich kam, war Anfang zwanzig und besonders nervös. Sein Adamsapfel hüpfte beim Sprechen so
stark auf und ab, dass Sofia Schwierigkeiten hatte, nicht wie gebannt dorthin zu sehen. Aber das bemerkte er gar nicht, denn er starrte während des Gesprächs unentwegt aus dem Fenster. Nachdem sie ihm alles dargelegt und ihm die Kopie aus dem Blog gezeigt hatte, saßen sie eine Weile schweigend beieinander.
»Gut, und was wollen Sie jetzt? Was sollen wir tun?«
»Das müssen Sie doch entscheiden. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich Ihre Hilfe brauche.«
Der Beamte kratzte sich am Kopf. Es war unverkennbar, dass er es noch nie mit einem Cybermobbing-Fall zu tun gehabt hatte.
»Na ja, wir haben ja auch einen Computerspezialisten.«
»Na, sehen Sie, der kann doch bestimmt die Herkunft der Seite ermitteln und feststellen, wer sie hochgeladen hat.«
»Ja, das hoffe ich«, sagte er und seufzte.
Sofia kochte innerlich vor Wut. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und knallte es auf den Schreibtisch. Aber auch das lockte ihn nicht aus der Reserve.
»Sind Sie schon einmal im Netz gemobbt worden?«, fragte sie ihn.
»Was? Nein, noch nie.«
Sofia nahm ihr Handy, schaltete die Kamera ein und hielt das Gerät hoch. »Dann mach ich jetzt ein Foto von Ihnen, und wenn ich zu Hause bin, kopiere ich Ihr Gesicht auf nackte Körper und gestalte eine Pornoseite mit Ihnen. Vielleicht nehmen Sie das hier dann ein bisschen ernster.«
Sein gleichgültiger Gesichtsausdruck verschwand augenblicklich. Er räusperte sich und schnaufte. Dann versicherte er ihr, dass er die Situation durchaus ernst nehme und sich eingehend damit beschäftigen werde. Er schickte sie nach Hause. Sie ging, noch wütender als zuvor
.
Dann gab es noch Benjamin. Er hatte ihr mitgeteilt, dass er doch nicht übers Wochenende kommen könne, weil seine Schwester eine Party feierte und Leute eingeladen hatte, die Sofia und ihn unbedingt kennenlernen wollten. Sie sollten von ihrer Flucht und von der Sekte erzählen, aber Sofia hatte überhaupt keine Lust, die Fragen wildfremder Leute zu beantworten. Diesen Typ von Menschen kannte sie. Die hatten ein mitfühlendes Lächeln auf den Lippen, aber in ihren Augen sah man genau, was sie wirklich dachten. Du bist leichtgläubig und dämlich.
Sie taten nur so, als hätten sie Mitleid.
Benjamin hatte sich über das Cybermobbing nicht besonders aufgeregt. Er meinte, Ellis solle das in Ordnung bringen, außerdem gebe es so viel Scheiß im Internet, dass das niemand lesen werde. Er selbst war nicht auf Facebook und benutzte das Internet auch nur, um für die Firma Material zu bestellen. Als Sofia aber die Einladung zur Party ablehnte, wurde er ärgerlich. Und als sie ihm von Strid und dem Artikel erzählte, steigerte sich sein Unmut noch.
»Warum machst du dich für diese Idioten selbst zur Zielscheibe? Lass Oswald doch seine widerliche Sekte auf der Insel haben. Wann können wir endlich anfangen, wie normale Menschen zu leben?«
»Er lässt mich nicht in Frieden!«
»Weil du ihn mit deinem Blog provoziert hast. Das ist doch seine Sache, was er mit ViaTerra anstellt. Ignorier ihn einfach, dann wird sich das alles in nichts auflösen.«
Das klang für Sofia, als würde Benjamin Oswald verteidigen, sie flippte vollkommen aus und warf ihm schreckliche Sachen an den Kopf, die nur so aus ihrem Mund strömten.
»Versau dir dein eigenes Leben, aber lass mich damit in Frieden!«, schnauzte er sie an und drückte das Gespräch weg.
Erst am nächsten Tag versöhnten sie sich. Vorläufig. Er
brauchte nicht so viel, um zufrieden zu sein, nur seinen Job und die Wochenenden mit Sofia. Das genügte ihm. Wenn ihn jemand im Netz diffamieren würde, wäre seine Reaktion ein Achselzucken. Er hatte ViaTerra mit einer solchen Leichtigkeit und Nonchalance hinter sich gelassen, die Sofia neidisch machte.
Und da gab es noch den Zwischenfall mit dem Brief, der eines Morgens bei ihr im Briefkasten lag. Ein weißer Umschlag ohne Absender. Sie versuchte, den Inhalt von außen zu ertasten. Ein länglicher, dünner Gegenstand. Sie schlitzte den Umschlag auf, schob ihre Hand hinein und holte einen Bleistift heraus. Hinten am Griff sah man deutliche Beißspuren, vorne an der Mine war ein Gummiband um den Stift gewickelt. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie musste sich setzen. Den Stift hatte sie benutzt, als sie in Oswalds Büro gearbeitet hatte. Sein trauriges Äußeres weckte sofort den Stress in ihr, den sie damals empfunden hatte. Kein Brief lag in dem Umschlag. Warum hatte sich jemand die Mühe gemacht, ihr so etwas Bescheuertes zu schicken?
Sie hatte gerade den Stift auf den Couchtisch gelegt, als ihr Handy den Eingang einer neuen SMS meldete. Eine kurze Nachricht von einer unbekannten Nummer.
Schreib tausendmal Entschuldigung, wegen der Lügen, die du über uns verbreitest.
Sie sprang auf, rannte zum Fenster und sah hinaus, aber dort war niemand. Sie öffnete die Wohnungstür, doch auch das Treppenhaus war leer und friedlich, hell erleuchtet von den Sonnenstrahlen, die durchs Fenster fielen. Die Stille war so beklemmend, dass es sich wie ein Vakuum anfühlte. Sie riss sich zusammen und ging zur Arbeit. Aber die Gedanken an den Stift ließen sie den ganzen Tag nicht los
.
All das geschah also in ihrem Leben, während die Anzahl der ungelesenen und unbeantworteten SMS zunahm. Als sie sich nach einem langen Arbeitstag in den Park unterhalb der Bibliothek setzte und ihr Handy aus der Tasche nahm, stellte sie fest, dass sie dreißig ungelesene SMS hatte.
Der Frühling war in diesem Jahr früh gekommen. Es war erst Anfang April, aber das Gras wuchs schon üppig, und die Osterglocken leuchteten in den Beeten. Alles war in ein fahles, dunstiges Licht gehüllt. Hoch oben am Himmel zog ein Flugzeug vorbei. Sie war allein im Park, die Stille schien ihr unnatürlich. Als sie den Blick zum zarten Frühlingshimmel hob, durchfuhr sie ein Gefühl von großer Erleichterung. Bald war es Sommer. Der Jahrestag ihres Ausstiegs aus der Sekte näherte sich. Und sie war noch immer frei.
Sie klickte sich durch die Nachrichten, Simons las sie zuletzt. Die anderen waren weniger bedeutsam, obwohl eine von Strid war, in der er seine Ankunftszeit am nächsten Tag mitteilte. Als sie Simons SMS las, zog sich alles in ihr zusammen. Kurz und knapp wie sonst auch, ohne ausführliche Erläuterungen, aber unzweideutig.
Oswald hat die Leitung von ViaTerra wieder übernommen, in Gestalt von Madeleine. Es gibt Naziregeln und Strafen, schlimmer als früher. Benny hat ein neues Projekt, das dir dein Leben vermiesen soll. Ruf mich an, wenn du Zeit hast. Aber nicht jetzt sofort. Ich bin auf dem Landsitz und schreibe dir von hier. Der Hund ist übrigens ein alter, fetter Bernhardiner, kein Wachhund.
Bisher war ihre Angst noch auszuhalten. Während ihrer Zeit in der Sekte war das anders gewesen. Damals war ihre Angst diffus und schwer zu ertragen. Sie hatte sie gelähmt. Jetzt aber fühlte sich Sofia eher davon aufgefordert, nach Lösungen zu suchen. Denn die Zeit vor ihrem Ausstieg hatte
sich hauptsächlich darum gedreht, Auswege und Lösungen zu finden. Und darin war sie immer besser geworden. Sie hatte ihren Schlafmangel ausgeglichen, indem sie sich auf die Toilette gesetzt hatte. Sie hatte sich aus der Küche Essen gestohlen, wenn der Gedanke an Reis und Bohnen zu ekelerregend wurde. Sie war in der Lage gewesen, sich innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde eine glaubwürdige Ausrede einfallen zu lassen, wenn sie Oswald beim Schnüffeln erwischt hatte. Die Erfahrung hatte ihr gezeigt, es gab immer einen Ausweg. Und der nächste Schritt bestand dann darin, aus der Angst seine Vorteile zu ziehen. Auch darin war sie immer besser geworden.
Und genau das musste sie auch jetzt tun. Wie würde man mehr über dieses Projekt in Erfahrung bringen können, von dem Simon geschrieben hatte? Um dann dieses Wissen zu nutzen und Oswald und seine Anhänger zu überführen. Oder um ihnen zumindest einen Schritt voraus zu sein.
Sie rief Simon an, der zum Glück sofort ans Telefon ging.
»Woher weißt du das alles?«, fragte sie.
»Dir auch einen schönen Tag. Doch, mir geht es gut, vielen Dank der Nachfrage.«
»Ach, jetzt komm schon, Simon, sei nicht so förmlich. Natürlich geht es dir gut. Aber mir geht es schlecht, weil mich diese Idioten nicht in Ruhe lassen. Also, komm, erzähl.«
Sofia machte sich auf den Nachhauseweg, während Simon ihr alles erzählte. Kaum war er damit fertig, wurde ihr ganz weich in den Knien, sie musste sich auf die nächste Parkbank setzen. Nicht etwa das Projekt löste das in ihr aus, sondern vielmehr, dass die ganze Maschine in Gang gesetzt worden war.
Nach einem langen Schweigen räusperte sich Simon vorsichtig
.
»Bist du noch dran?«
»Ja, ja, ich hab nur nachgedacht. Glaubst du, es gibt einen Weg, um an diese Projektaufzeichnungen zu kommen?«
»Klar, ich gehe einfach zu Benny ins Wachhäuschen und frage ihn, ob er mir eine Kopie machen kann.«
»Schon gut. Aber ich habe eine Idee, wie wir da rankommen könnten. Ellis kann ihre Rechner hacken. Mit meinem haben sie das ja auch gemacht. Dann sind wir quitt!«
»Und wie willst du erklären, wo du das Zeug herhast?«
»Ach, du bist halt bei einem Spaziergang dort vorbeigekommen, und eine Kopie ist vom Wind über die Mauern geweht worden, so wie es doch mit dem anderen Dokument auch passiert ist. Wir können es ja ein bisschen zerknittern und schmutzig machen, damit es noch glaubwürdiger erscheint.«
»Du bist echt ein Spaßvogel.«
»Ich rufe gleich Ellis an und melde mich später noch mal. Aber, bevor ich es vergesse, geht es dir gut?«
»Könnte nicht besser sein. Der Frühling ist da, und ich bin in meinem Element.«
Eigentlich hatte sie geahnt, dass es so weit kommen würde. Sie hatten was mit ihr vor, das war zu erwarten gewesen. Wenn sie nur herausbekommen könnte, was.
Sie sah das Chaos vor ihrem Wohnhaus schon von Weitem. Jemand hatte Mülltüten aus dem Container genommen und sie überall verteilt. An der einen Seite des Containers war etwas hingesprayt worden:
HIER WOHNT EINE HURE
Sie konnte nur mit Mühe den Brechreiz unterdrücken. Am
liebsten hätte sie sich an derselben Stelle übergeben wie letztes Mal, als sie den aufgeschlitzten Müllbeutel gefunden hatte. Sie konnte sogar noch die eingetrockneten Essenreste im Beet sehen. Sie ging in die Hocke, presste die Hände auf den Bauch und schluckte ein paarmal. Dann zwang sie sich zum Stehen und machte mit ihrem Handy Fotos von dem Container und den Mülltüten. Sie sammelte alle Tüten wieder ein. Einige waren aufgeplatzt, die Reste aus den Milchtüten, Dosen und Limonadenflaschen waren ausgelaufen, ihre Finger wurden ganz klebrig.
Als sie ins Haus ging, sah sie den Schriftzug auf ihrer Wohnungstür.
SCHLAMPE
Das Wort war in schwarzen krakeligen Buchstaben gesprayt worden und bedeckte die halbe Tür. Und auch auf Almas Tür stand etwas, in noch größeren Buchstaben.
MISTSTÜCK