KAPITEL 24
»Nein, danke!«, sagte Simon und knallte Benny die Tür vor der Nase zu, als wäre er ein aufdringlicher Vertreter.
Aber Benny hämmerte weiter gegen die Tür.
»Mach auf, Simon! Ich möchte dich nur um Hilfe bitten.«
Dann hatte dieser Besuch also nichts mit dem Paket zu tun, das er Jacob nach ViaTerra geschickt hatte? Neugierig öffnete Simon die Tür einen Spalt breit.
»Und, worum geht es?«
»Ich möchte nur reden, Simon. Wir glauben, dass du uns helfen kannst.«
»Ich habe ViaTerra für immer und ewig verlassen.«
»Das wissen wir doch. Darum geht es auch nicht. Darf ich bitte kurz reinkommen?«
In Simon brüllten zwei gegensätzliche Stimmen los. Die eine schrie, er solle Benny zum Teufel schicken, und die andere forderte ihn auf, ihn reinzulassen. Weiterschnüffeln. Herausfinden, was die im Herrenhaus für Pläne hatten. Simon hatte keine Angst vor Benny. Er war viel größer und stärker als er.
»Warte, ich muss kurz aufräumen«, sagte er und schob die Tür zu, ohne auf eine Antwort zu warten. Er stellte die Schuhe im Flur ordentlich hin, hängte eine Jacke auf, die vom Bügel gerutscht war, und sah sich dann im Zimmer um. Es war so aufgeräumt wie immer. Er hatte nur einen Augenblick Zeit benötigt, um durchzuatmen und nachzudenken .
Benny räusperte sich ungeduldig. Simon öffnete die Tür. Bennys Blick scannte den Raum, als suchte er nach etwas. Er hatte einen vollen Ordner unterm Arm. Ohne Schuhe und Jacke auszuziehen, stapfte er über den Teppich, und Simon bereute sofort, ihn hereingelassen zu haben, als er das Laub und die Flecken sah. Er wollte ihn so schnell wie möglich wieder loswerden.
»Setz dich ruhig, ich hab aber nichts, was ich dir anbieten könnte.«
»Alles gut.«
Ärgerlicherweise ließ sich Benny auf Simons Lieblingssessel fallen. Simon nahm missmutig auf einem Stuhl Platz. Er fand, dass Benny ziemlich müde und abgekämpft aussah. Seine Haare waren wie immer fettig und strähnig, seine Haut blass. Offenbar hatte er in letzter Zeit nicht so oft mit seinem Motorrad herumfahren dürfen, um an die frische Luft zu kommen. Außerdem war sein Gesicht voller Pickel.
»Also, was willst du von mir?«
»Folgendes. Wir haben schon kapiert, dass du nicht zurückkommen willst und den Job hier hast. Aber wir wissen auch, dass du doch eigentlich an unsere Sache glaubst, oder? Zumindest glaubt Franz das. Er meint, du hättest nur gegen ihn ausgesagt, weil dich Sofia Bauman unter Druck gesetzt hat.«
In Simon gingen sofort alle Alarmglocken an. Benny wusste von Oswalds Plänen.
»Und was genau willst du von mir?«
»Na ja, alles, was Elvira und Sofia vor Gericht gegen Franz ausgesagt haben, ist eine Lüge. Nur, dass du es weißt. Ich habe Dokumente dabei, die das beweisen können …«
Er blätterte in seinem vollen Ordner. Simon hob abwehrend die Hand .
»Hör auf mit dem Scheiß und komm zur Sache.«
»Wir wollen wissen, ob du Kontakt zu Sofia hattest?«
»Warum?«
»Franz möchte die Missverständnisse zwischen ihnen aus dem Weg räumen. Dinge klären.«
Simon seufzte. Die dachten wirklich, dass er so dämlich war. Ein Depp, den sie für dumm verkaufen konnten.
»Wir wissen, dass Sofia dich gemocht hat.«
»Und was soll ich machen?«
Benny rieb sich nervös die Hände. Er schwitzte stark. Und er roch streng, wahrscheinlich aufgrund von Stress und Nervosität. Simon konnte sich gut vorstellen, was passiert war. Oswald hatte sich in einem Gespräch mit Madeleine darüber echauffiert, dass es keine nennenswerten Fortschritte im Sofia-Bauman-Projekt gab. Woraufhin Madeleine Benny eine Abreibung verpasst hatte.
Du fährst jetzt auf der Stelle zu diesem Idioten – Simon! Vorher gehst du nicht ins Bett! Benny hatte es ganz bestimmt nicht leicht auf ViaTerra.
»Hast du Kontakt zu Sofia?«, wiederholte er seine Frage.
»Natürlich nicht. Du kennst mich doch. Ich bin am liebsten allein.«
»Also, wir haben uns gedacht, dass du dich mal bei ihr melden könntest. Sie ein bisschen aushorchen. Du hast doch Mail?«
Simon ignorierte Bennys abfälligen Tonfall.
»Du willst also, dass ich sie ausspioniere?«
»Nein, nicht direkt, du sollst dich nur mal bei ihr melden. Und uns Informationen geben.«
»Das nennt man, glaube ich, Informant sein, richtig?«
Benny lachte, es klang eher wie ein Bellen – und außerdem falsch .
»Du kannst es nennen, wie du willst. Pass auf, wir wissen, dass von einem Gehalt als Gärtner nicht viel übrig bleibt. Das hier ist deine Chance, eine schöne Summe klarzumachen. Sieh es doch als Nebenjob.«
»Ich habe immer noch nicht begriffen, was du eigentlich von mir willst. Was genau soll ich denn machen?«
»Rausbekommen, was Sofia vorhat. Und wenn Franz nächstes Jahr zurückkommt, könntest du sie zu dir einladen. Ich bin sicher, dass sie sich gern deine Pflänzchen ansehen möchte. Und du warst doch gerade in der Zeitung. Wenn sie dann hier ist, kann Franz sich mit ihr treffen. Verstehst du es jetzt?«
»Warum ruft er sie denn nicht einfach an? Er kann im Gefängnis doch das Telefon benutzen?«
»Ihm ist ein direkter Kontakt lieber, wenn du verstehst, was ich meine.«
Simon wollte keine Fragen mehr stellen. Er wollte kein weiteres Wort mehr hören. Am liebsten würde er diesem verschwitzten, stinkenden Etwas, das da in seinem schönen Sessel saß, eine reinschlagen. Aber er beherrschte sich. Stattdessen sprang er vom Stuhl, worauf auch Benny sofort aufstand.
»Weißt du was, darüber muss ich erst in Ruhe nachdenken. Hast du eine Nummer, unter der ich dich erreichen kann?«
Benny strahlte ihn an, grinste.
»Ja, na klar. Hast du Papier und Stift?«
Simon hielt ihm Notizblock und Stift hin.
»Das bleibt aber unter uns, verstanden?«
»Mit wem sollte ich schon darüber reden?«
»Ja, stimmt.«
Kurz darauf hörte Simon, wie Benny sein Motorrad anwarf. Er trat ans Fenster, um sich zu vergewissern, dass er auch wirklich wegfuhr. Dann ließ er sich in seinen Sessel fallen und stöhnte. Sein Gesicht glühte. Die spinnen doch alle, die haben doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, rief er Sofia an.
Kaum hörte sie seine Stimme, fing sie an zu weinen.
»Was ist los? Ist was passiert, Sofia?«
»Diese Schweine haben mir eine Rauchbombe durch den Briefschlitz geworfen.«
Es sprudelte nur so aus ihr heraus, dann holte sie tief Luft und brach wieder in Tränen aus.
»Vielleicht möchtest du jetzt lieber deine Ruhe haben, ich meine …«, sagte Simon.
»Es gibt niemanden, mit dem ich jetzt lieber reden würde als mit dir. Ich bin bei meinen Eltern. Ich habe mich nicht wieder in meine Wohnung getraut und war schon seit zwei Tagen nicht mehr bei der Arbeit.«
»Ist ja nicht zu fassen! Und was sagt die Polizei?«
»Die hatten die Hausverwaltung überredet, eine Überwachungskamera aufzuhängen, aber der Täter hat etwas über die Linse gehängt. Und zwar von der Seite, man konnte nichts erkennen.«
»Ich fasse das nicht.«
»Ich auch nicht. Aber das ist noch gar nicht das Schlimmste. Die haben ein Foto von meinen Eltern gemacht und es mir geschickt. Was hat das zu bedeuten? Soll das eine Drohung sein? Was meinst du?«
»Ich weiß nicht. Aber ich finde, du solltest den Blog löschen. Dir tut das nicht gut. So kann das doch nicht weitergehen.«
»Das werde ich auf keinen Fall tun.« Sie hatte sich wieder beruhigt, ihre Stimme klang etwas stabiler. »Aber was haben die vor? «
»Die wollen dir Angst einjagen, das Leben zur Hölle machen.«
»Ja, aber eine Rauchbombe. So etwas machen Hooligans.«
»Das stimmt. Apropos Bomben, bist du bereit für eine zweite?«
Er erzählte ihr von Bennys Besuch. Aus einem ihm unerfindlichen Grund fing Sofia schallend an zu lachen. So war das immer bei ihr, man konnte nie vorhersagen, wie sie auf die Dinge reagieren würde. Ihre Stimmung war so schwankend wie ein voll ausschlagendes Metronom. Gerade diese Gefühlsschwankungen fand Simon unwiderstehlich an ihr. Aber ihr Lachen fand er beängstigend.
»Großartig! Das können wir doch ausnutzen.«
»Und … bitte … wie?«
»Siehst du das nicht? Du kannst ihnen doch vormachen, dass du mir nachspionierst, gibst ihnen aber falsche Informationen.«
Er wusste nicht, ob ihm diese neue Rolle gefiel. Er hatte so viel zu tun. Der Sommer kam gerade, und seine ganze Energie hatte er auf den Wettbewerb konzentriert, den er unbedingt gewinnen wollte. Aber sie hatte natürlich recht. Und er würde sich gar nicht besonders anstrengen müssen. Nur den Dummen spielen und alles falsch verstehen.
»Bist du noch dran, Simon?«
»Klar. Ich hab nur nachgedacht.«
»Weißt du was, ich finde, das klingt, als ob er meine Entführung plant.«
»Ist so etwas überhaupt möglich, heutzutage, in Schweden?«
»Das hat er doch schon mal versucht. Weißt du nicht mehr? Als ich mich oben in Norrland versteckt hatte und er Benny und Bosse geschickt hat? «
»Doch, aber ich glaube nicht, dass er es wieder tun würde. Das Risiko ist doch viel zu groß, direkt nach der Entlassung.«
»Oswald kann machen, was er will. Er ist Gott und allmächtig.«
»Warum klingst du auf einmal so fröhlich, gerade eben warst du noch so traurig?«
»Ich bin immer nur dann so verzweifelt, wenn ich nicht weiß, was als Nächstes passieren wird. Aber wir müssen das einfach zu unserem Vorteil nutzen!«
Noch vor einer Stunde war sie am Boden zerstört gewesen. Jetzt war sie Feuer und Flamme und sprudelte vor Leben. Für Simon wäre dieser Wechsel viel zu extrem, er hatte das doofe Gefühl, in eine ganz unangenehme Sache reingezogen zu werden. Wie in einen Strudel.
»Darf ich da kurz drüber nachdenken und zurückrufen?«
»Natürlich.«
Eine Weile saß er reglos in seinem Sessel. Draußen hing ein Halbmond über den Tannenwipfeln. Es war ganz still, auch die Luft hatte sich wieder beruhigt, nachdem Benny gegangen war. Simon schloss die Augen. Ließ seinen Gedanken freien Lauf. Ging das Gespräch mit Benny immer wieder durch. Wurde wütender. Über die Art und Weise, wie Benny ihn behandelt hatte. Wie einen Dorftrottel, dem sie was vormachen konnten.
Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, an dem Oswald ihn vor dem gesamten Personal zusammengeschlagen hatte. Jetzt bereute er, dass er nicht zurückgeschlagen hatte. Oswald windelweich geprügelt hatte. Schon damals hätte er diesen Wahnsinn beenden sollen. Alle Aktivitäten in letzter Zeit wirkten so planlos. Der gehackte Mail-Account, die besprayten Türen und Müllcontainer und die Rauchbombe. Oswald war um einiges systematischer. Trotzdem stand er hundertprozentig dahinter, aber das konnte nur ein Teil eines größeren Plans sein. Aber was wollte Oswald eigentlich von Sofia? Warum war sie so wichtig für ihn? Er wusste, dass es dafür eine Erklärung gab, die er nur noch nicht kannte.
Und allein bei dem Gedanken daran lief ihm ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter.