KAPITEL 25
Der Juni begann mit einer Hitzewelle. Die Temperaturen stiegen auf Werte über dreißig Grad, es war windstill. Die Hitze lag wie ein flirrendes Gewand über der Stadt, den Straßen und Parks. Die Gerüche des Frühsommers eiferten mit dem Gestank des Verkehrs um die Wette. Sogar im Schatten war es heiß und stickig. Viele alte Menschen erlitten einen Hitzeschlag. Das junge, grüne Gras wurde trocken und gelb, was die Stadt in ein ganz bleiches Licht hüllte. Um sich abzukühlen, dachten sich die Menschen die wildesten Sachen aus. Sie sprangen in Brunnen, gingen mit Regenschirmen spazieren und aßen so viel Eis, dass es zu Lieferschwierigkeiten kam und in den Medien sogar eine Eiskrise
ausgerufen wurde. Und am Strand bei Lomma lagen sie wie die Ölsardinen in der Sonne. Wer sich nicht ans Meer retten konnte, suchte Kühle in klimatisierten Räumen. Die Besucheranzahl der Bibliothek verdoppelte sich, weil die dicken Mauern des Gebäudes die Hitze abhielten.
Sofia hatte so viel zu tun, dass sie keine Zeit fand, sich dunkle Gedanken zu machen. Sogar Wahlin hatte offenbar vor den Temperaturen kapituliert, sein Wagen war wie vom Erdboden verschwunden. Nach der Arbeit war sie so erschöpft, dass sie die Abende damit verbrachte, Eistee zu trinken und neue Blogeinträge zu schreiben.
Aber sie schlief unruhig. In ihrer Wohnung war es warm, aber sie traute sich nicht, nachts das Fenster offen stehen zu
lassen. Stattdessen kaufte sie sich einen Ventilator, der die warme Luft aber nur im Raum verteilte und sie mit seinem Surren beim Schlafen störte. Oft wachte sie nachts auf, bekam schlecht Luft und war verschwitzt und klebrig.
Die Hitze hatte noch einen weiteren unheilvollen Effekt: Ihr Alptraum meldete sich mit neuer Intensität zurück. Es war immer derselbe. Oswald, der sie gegen die Wand drückte. Nur die Details variierten. Manchmal spürte sie seinen keuchenden Atem, dann war er röchelnd und heiser. Ihre Sinne schienen im Traum empfänglicher zu sein. Alles wurde verstärkt. Der Schmerz, wenn er sie in den Hals biss. Das Geräusch der Knöpfe, die auf den Boden fielen, wenn er ihre Bluse aufriss. Wenn sie aufwachte, war sie vollkommen erschöpft. Sie versuchte sich damit zu beruhigen, dass dieser Alptraum eines Tages aufhören würde.
Über dieses Erlebnis hatte sie nie ein Wort verloren, keine Zeile geschrieben. Nur Benjamin und Simon wussten, was damals passiert war. Aber sie war sich sicher, dass der Schlüssel zu Oswalds kranker Jagd nach ihr in seiner Erregung, seinem keuchenden Atem von damals lag. Vielleicht sollte sie doch einen Blogpost darüber schreiben.
Anfänglich zögerte sie noch, war davon überzeugt, ein Muster entdeckt zu haben. Jedes Mal, wenn sie öffentlich über diese Zeit sprach, fand eine neue Attacke statt, die an Heftigkeit zunahm. Benjamin und Simon hatten mit ihren Bedenken recht. Sie müsste einfach nur den Mund halten und aufhören, die alten Sachen aufzuwärmen, dann würde Oswald sie in Ruhe lassen. Aber nicht die Alpträume und die Schuldgefühle. Auf ViaTerra lebten noch Menschen, die ihr was bedeuteten. Die in Zukunft wieder gezwungen werden würden, bei Regelverstößen vom Felsen ins eiskalte Wasser zu springen und jeden Tag Reis und Bohnen zu
essen. Sie wusste, dass es Elvira nicht gut ging. Und sie hörte Markus Strids Worte. Einige Menschen können es eben nicht ertragen, dass die großen Arschlöcher die Schwachen zerdrücken.
An einem ausgesprochen heißen und stickigen Nachmittag lud sie den besagten Blogpost hoch. Sie hatte lange daran geschrieben, Dinge gelöscht, lektoriert und korrigiert. Mit besonders kritischen Augen hatte sie sich den Text so oft durchgelesen, bis sie nichts mehr darin finden konnte, was sie ändern musste. Da schlief Dilbert bereits seit Stunden auf ihrem Bett und schnarchte.
Als sie am nächsten Morgen die Reaktionen darauf überprüfte, fand sie ganz unterschiedliche Einträge. Die meisten schrieben Du Arme
und Wie mutig von dir, deine Geschichte zu teilen
. Aber es gab auch Kommentare, die wehtaten. Du hättest dem Sack in die Eier treten sollen. Das ist doch deine Schuld, dass du nicht nein gesagt hast.
Der Absender dieses Kommentars nannte sich ultrafemina
. Sofia regte sich wahnsinnig darüber auf, vor allem, weil die Autorin nicht ganz unrecht damit hatte. Aber dann entschied sie, dass diese ultrafemina
sie mal gernhaben konnte, außerdem hatte die doch keine Ahnung, wie das Leben auf der Insel gewesen war. Welche Konsequenzen Sofia hätte befürchten müssen, wenn sie gegen Oswald aufbegehrt hätte. In ihren Augen war ultrafemina
eine alte Tante, die ihren Frust im Netz loswerden musste.
Was Sofia nicht erwartet hatte, war, dass die Zeitungen ihre Geschichte nutzen würden und Artikel mit reißerischen, verdrehten Schlagzeilen druckten.
FRANZ OSWALDS BRUTALE VERGEWALTIGUNG VON SOFIA
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SOFIA BAUMAN SPRICHT OFFEN ÜBER IHRE VERGEWALTIGUNG
Sie hatten ihren Text fast vollständig kopiert und ihn um knallige Überschriften und ein Foto von ihr ergänzt. Benjamin rief sie bei der Arbeit an, obwohl er wusste, dass es verboten war.
»Was soll das jetzt bitte?«
»Das kannst du die Zeitungen fragen. Die haben einfach meinen Beitrag kopiert. Ich kann doch auf meinem Blog schreiben, was ich will.«
»Hat er dich wirklich vergewaltigt?«
»Nein, und das habe ich auch nicht geschrieben.«
Am anderen Ende der Leitung hörte sie ein erleichtertes Seufzen.
»Du weißt schon, dass er dich anzeigen kann?«
»Nein, er kann die Zeitungsredaktionen anzeigen. Kannst du bitte aufhören, auf mir rumzuhacken? Das ist doch nicht meine Schuld, dass die Medien einem immer alle Worte im Mund herumdrehen. Ich muss jetzt weiterarbeiten. Wir sehen uns am Wochenende.«
»Pass auf, da ist was dazwischengekommen …«
»Was denn?«
»Am Samstag haben wir Betriebsfeier. Du kannst ruhig auch kommen, allerdings ist es eher ausschließlich für Mitarbeiter.«
Das Bild der leicht bekleideten Sienna tauchte wieder auf, da sah sie den ermahnenden Blick von Edith Bergman. An ihrem Tresen hatte sich auch schon eine kleine Schlange gebildet.
»Ich muss jetzt weitermachen. Viel Spaß auf der Betriebsfeier.
«
Sie drückte das Gespräch weg, bevor Benjamin antworten konnte.
Nur eine Frage der Zeit …
Sie lächelte dem Mann ganz vorn in der Schlange entschuldigend zu.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin auf der Suche nach einem bestimmten Buch und kann es nicht finden. Aber sagen Sie, Sie sind doch die auf der Titelseite des Expressen von heute?«
Und so ging es den ganzen Tag weiter.
Endlich ließ die Hitze nach, und kühlere Luft strömte durch die Stadt. Im Gepäck hatte sie feuchte Luft, dann begann es zu regnen. Zuerst ein paar Tropfen am Abend, gefolgt von einem kräftigen Platzregen am darauffolgenden Morgen. Aber gegen Mittag hatte der Himmel wieder aufgeklart, und die Luft war klar und frisch.
Es war Freitag. Sie hatte den Ärger über das Telefonat mit Benjamin verdrängt, aber jetzt meldete er sich wieder. Er hatte nicht mehr angerufen, und sie würde garantiert nicht darauf kommen, ihm hinterherzulaufen. Die Spannung zwischen ihnen erstreckte sich wie eine Stromleitung von Göteborg bis Lund. Sie lief durch den Park nach Hause und kickte gedankenversunken kleine Steine mit der Schuhspitze. Als Sofia sich dem Haus näherte, stand Alma am Fenster ihrer Wohnung. Sie konnte Almas Gesicht nicht sehen, spürte aber sofort, dass etwas nicht stimmte, und rannte los.
»Was ist passiert?«
»Dilbert, jemand hat ihn mitgenommen.«
»Was?«
»Alles ist meine Schuld. Ich wollte nur ein bisschen Milch kaufen und habe ihn vor dem Laden angebunden. Das hätte
normalerweise nur ein paar Minuten gedauert, aber die Schlange war so lang, und dann gab es Probleme mit dem Kartengerät. Und als ich wieder rauskam, war er weg.« Sie weinte. »Ich hätte doch nie gedacht, dass … Die Leine war auch weg.«
Wahrscheinlich hatte Alma ihn nur nicht richtig festgebunden, dachte Sofia. Wahrscheinlich saß Dilbert jetzt vor dem Laden und wartete.
»Komm, Alma. Wir gehen ihn suchen. Vielleicht hat er sich losgerissen und ist längst wieder zurück und sitzt vor dem Laden.«
Aber dort saß kein Hund. Alma zeigte ihr den Fahrradständer, an dem sie Dilbert festgebunden hatte. Da bekam auch Sofia langsam Angst, versuchte aber, nicht panisch zu werden. Sie war nach wie vor davon überzeugt, dass Almas Knoten nicht fest genug gewesen war. Der Hund hatte sich losgerissen, etwas Spannendes gewittert, war abgehauen und hatte sich dann verlaufen.
Die Panik nahm zu, nachdem sie Alma nach Hause gebracht und weiter nach Dilbert gesucht hatte. Ihr wurde bewusst, wie sehr sie das kleine Wesen inzwischen liebte. Vor ihrem inneren Auge tauchten die schlimmsten Bilder auf. Dilbert, der sich mit der Leine irgendwo verheddert hatte und nicht freikam. Dilbert, der auf der Landstraße von einem Auto überfahren wurde. Dilbert, der vergiftetes Fleisch gegessen hatte und Höllenqualen litt. Dilbert, der von einer Gruppe von Halbstarken gesteinigt wurde.
Sie rief ihren Vater an, der sofort mit dem Auto vorbeikam. Stundenlang fuhren sie durch die Gegend und suchten nach Dilbert. Sofia heftete ihren Blick an den Straßenrand, weil sie befürchtete, dass sein lebloser Körper irgendwo dort
liegen könnte. Am Ende brachte ihr Vater sie zur Polizei, um das Verschwinden des Hundes zu melden, und versuchte vergeblich, sie zu beruhigen, als er sie wieder zu Hause absetzte.
»Mach dir keine Sorgen. Er wird wiederauftauchen. Hunde haben einen unglaublich guten Orientierungssinn und finden immer den Weg nach Hause. Und Dilbert hat einen besonders guten Geruchssinn.«
Kaum war sie in ihrer Wohnung, postete sie Suchanzeigen auf Instagram und Facebook. »Hat jemand meinen kleinen Hund gesehen?«
Es war schon dunkel, trotzdem druckte sie ein unscharfes Foto von Dilbert aus und klebte es an den Kiosk und an Bäume und Hauswände in der unmittelbaren Umgebung. Die Erkenntnis, dass sie nur ein verschwommenes Foto zur Erinnerung an ihren Hund hatte, schnürte ihr die Kehle zu.
Sie konnte nicht einschlafen. Lag mit aufgerissenen Augen im Bett und starrte bis tief in die Nacht an die Decke. Bildete sich ein, Hundegebell zu hören, rannte ans Fenster und sah hinaus in die Dunkelheit, die sich auf das trostlose Wohngebiet gelegt hatte. Sie hatte Benjamin nicht angerufen, war noch zu ärgerlich, dass ihm seine Betriebsfeier wichtiger gewesen war als sie.
Am nächsten Tag ging die Suche weiter. Mit dem Fahrrad. Sie sprach mit den Anwohnern. Alle waren freundlich und hilfsbereit, aber niemand hatte Dilbert gesehen. Sie vergaß zu essen, betete und versprach Gott, dass sie alles tun würde, wenn ihr kleiner Hund wiederkäme.
Es war ein grauer Tag, und der schiefergraue Himmel hing tief über der Stadt, was alles nur noch trauriger und aussichtsloser machte. Als es auch noch zu regnen anfing, setzte sie sich auf eine Parkbank und weinte. Sie zog sich die
Kapuze ins Gesicht, biss die Zähne zusammen und beschloss, noch einmal zu dem Laden zu gehen, wo Alma ihn angebunden hatte.
Sie pfiff nach ihm und rief seinen Namen. Da klingelte ihr Handy, eine neue SMS. Ihr erster Impuls war es, das zu ignorieren. Aber dann nahm sie es doch aus der Jackentasche. Es war ein Foto. Von Dilbert. Auf einer Treppe. Ihr Herz schlug wie wild. Hatte ihn jemand gefunden? Warum hatte er keinen Text dazugeschrieben? Aber es war nur das Foto, die Nummer war unterdrückt. Ihre Hoffnung fiel in sich zusammen. War das eine weitere Drohung? Da kam eine zweite Nachricht. Zuerst verstand sie nicht, was sie da sah, dann ließ sie vor Schreck das Telefon fallen. Es war ein Gesicht mit Sturmhaube, man konnte nur die Augen sehen. Und darunter die unmissverständliche Nachricht. AUF JEDE LÜGE FOLGT EINE NEUE VERSTÜMMELUNG.
Sie schnappte sich das Handy und rannte los, denn sie wusste, wo das erste Foto aufgenommen worden war. Sie hatte den Hintergrund wiedererkannt: die Tür ihres Wohnhauses. Sie war sich jetzt ganz sicher, dass sie Dilberts leblosen Körper dort finden würde, und wimmerte und schluchzte bei jedem Schritt.
Von Weitem schon sah sie etwas Weißes. Sie konnte die braunen Flecken auf seinem Fell sehen. Das Tier bewegte sich, hob den Kopf, als Sofia auf ihn zugestürmt kam. Sie fiel auf die Knie, vergrub ihr Gesicht in seinem Fell und weinte vor Freude. Aber irgendetwas stimmte nicht. Dilbert hatte sich kaum gerührt, war nicht an ihr hochgesprungen. Und sein Schwanz, der sonst ständig wedelte, lag schlaff auf dem Treppenabsatz. Sein kleiner Körper zitterte vollkommen unkontrolliert.
Da spürte sie etwas Warmes und Klebriges an ihrer Hand.
Ihre Hand war voller Blut, es tropfte auf ihre Jeans. Sie hatten ihm die Spitze seines hochgestellten Ohres abgeschnitten. Das Blut an der Wunde war getrocknet. Sie wollte sich das gar nicht vorstellen. Dazu musste ihn jemand festgehalten haben. Dilbert musste furchtbare Schmerzen gehabt haben. Und er hatte sich bestimmt gefragt, warum sie ihn nicht gerettet hatte.
Nach und nach begriff der Hund, dass er wieder zu Hause war. Er leckte ihr übers Gesicht und hörte auf zu zittern. Sie hob ihn hoch und hielt ihn krampfhaft im Arm, während sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel kramte. In der Wohnung ließ sie alles fallen und setzte sich mit ihm aufs Sofa, streichelte ihm unentwegt übers Fell. Nach einer Weile schaffte sie es, die Tierärztin anzurufen, die ihr erklärte, wie sie die Wunde versorgen sollte, und mit ihr einen Termin für den nächsten Tag vereinbarte. Sofia reinigte vorsichtig das verletzte Ohr, dabei musste sie so laut weinen und schluchzen, dass Dilbert sich unruhig in ihren Händen wand und sie sich zusammenriss und auf die Lippen biss.
Die nächste SMS wollte sie nicht mehr lesen, tat es dann aber doch. Vielleicht war es ein Hinweis auf die Täter.
Es war eine Aufnahme, auf der sie zu sehen war. Halb nackt und im Begriff, sich eine Jeans anzuziehen. Sie sah ihr Sofa und die schwarzen Jalousien, dann die Nachricht: WIR SEHEN DICH. IMMER. Sie hatte die wenigen Worte noch nicht ganz gelesen, da war sie schon aufgesprungen. Das Foto war aus der Vogelperspektive aufgenommen, und zwar in ihrer Wohnung.
Sie legte eine Decke über Dilbert, der vor sich hin döste, sie aber mit einem Auge beobachtete. Dann suchte sie die Decke nach einem Ventil ab, schließlich kannte sie die Vorgehensweise auf ViaTerra. Wusste, wo die wachsamen
Augen angebracht worden waren. Sie zog einen Stuhl unter das Ventil und stellte sich darauf. Die Kamera war schnell entdeckt. Außer sich vor Wut riss sie das Gerät aus seiner Halterung, es fiel ihr aus der Hand und landete auf dem Boden. Als sie vom Stuhl stieg und die Kamera aufheben wollte, verlor sie fast das Gleichgewicht. Sie hatte schwarze Punkte vor den Augen, ihre Beine zitterten, und ein starker Schwindel packte sie und zwang sie in die Knie. Alles drehte sich. Sie hörte sich lachen, unheimlich, schrill, dann schrie sie laut, Dilbert sprang vom Sofa und wollte auf ihren Schoß klettern, aber sie konnte ihn nicht in den Arm nehmen. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Die Arme hatten sich wie in einem spastischen Krampf um ihren Körper geschlungen. Ihre zitternden Beine fühlten sich wie Gelee an. Ihr Blut schien heißer zu sein als sonst, und es pochte in ihren Adern. Sie versuchte sich zusammenzureißen. Den Kontakt zu ihrer inneren Stärke aufzunehmen. Die eine letzte Reserve, auf die sie sich immer verlassen konnte.
Aber es war unmöglich.
In ihr war alles in sich zusammengestürzt, lautlos und qualvoll zerbrochen.