KAPITEL 26
Oswald war bester Laune, freundlich und liebevoll. Er wollte nicht über die Geschäfte sprechen, sondern über ihre Zukunft. Deshalb nahm er etwas aus seiner Jackentasche. Anna-Maria zuckte zusammen, befürchtete wieder Lebensmittelreste, wie die Wurst. Aber es war eine Wäscheklammer.
»Die habe ich seit meiner Ankunft hier in meiner Tasche«, sagte er. »Die Alte hatte sie überall im Haus herumliegen. Und sie erinnert mich daran, wie ärmlich das Leben werden kann, wenn man nicht zugreift. Wir hatten damals nicht mal eine Waschmaschine.«
»Welche Alte denn?«
»Meine Mutter. Sie war ein Mensch, ohne den die Welt eine bessere gewesen wäre.«
»Ist sie schon tot?«
Er hatte noch nie über seine Familie gesprochen, also wollte sie mehr wissen.
»Nein, aber so gut wie. Und für mich ist sie tot. Du wirst mich doch jetzt nicht ausfragen, oder?«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte sie und senkte den Blick.
»Außerdem ist sie hervorragend geeignet, um den gestörten Insassen hier das Maul zu verschließen.«
Er lachte und tat so, als drückte er ihre Lippen mit der Wäscheklammer zu.
»Aber ehrlich gesagt, es hat auch schöne Zeiten gegeben.«
Und dann erzählte er ihr von seiner Kindheit auf Dimö.
Von der wunderbaren Natur. Von Orten, die er ihr zeigen wollte. Davon, dass er schon als Kind gewusst hatte, dass das Leben große Pläne mit ihm hatte. Dann ließ er sich über seine Analogie der Spinne aus. Und wie er als Kind einer Hummel die Flügel ausgerissen hatte. Und selbstverständlich klang das jetzt scheußlich, aber machten so was nicht alle kleinen Jungen? Wie hätte er sonst je begreifen sollen, dass es zwei Sorten von Insekten gab. Die gefährlichen, wie zum Beispiel Skorpione. Ob sie wisse, dass jährlich etwa fünftausend Menschen am Stich eines Skorpions starben? Oder die lebensgefährliche japanische Riesenhornisse, die im Schwarm ein ganzes Tier in wenigen Minuten vertilgen kann. Und dann gäbe es da noch die Spinne, die Alleinherrscherin in ihrem Netz. Die kleine dicke Hummel war so gutgläubig, sie ließ sich so leicht überlisten. Und da habe er begriffen, dass es sich so ähnlich auch in der Welt der Menschen verhielt. Man müsse sich entscheiden, wie man sein Leben gestalten wolle, sonst endete man unter Umständen auch eines Tages so und hatte keine Flügel mehr.
»Das fühlt sich an, als wäre es erst gestern gewesen«, sagte er und lächelte wehmütig. »Das Traurige sind nicht die schrecklichen Dinge, die einem passieren, sondern dass unser Leben an uns vorbeizieht, ehe wir darüber nachdenken. Im Vergleich zur Ewigkeit leben wir nur einen Atemzug lang auf dieser Erde. Deshalb ist es auch so wichtig, die Lehre von ViaTerra zu verbreiten. Sie zu einem Teil der Ewigkeit zu machen.«
Anna-Maria war so berührt, dass ihr Hals wie zugeschnürt war. Er hatte sich geöffnet. Und sie war sich ganz sicher, dass er das noch nie zuvor bei jemandem getan hatte.
Eine Stunde lang saßen sie zusammen und unterhielten sich
.
Er nahm ihre Hand, zog sie zu sich hoch und umarmte sie. Dann knöpfte er ihr die Bluse auf, aber als sie ihren Kopf in den Nacken warf, um geküsst zu werden, wandte er sein Gesicht ab.
»Es ist bestimmt besser, jetzt nichts auf Spiel zu setzen. Wir haben doch noch ein ganzes Leben vor uns, wenn ich entlassen werde.« Er lächelte sie an und knöpfte die Bluse wieder zu. Zwinkerte ihr vielsagend zu.
Schließlich verabschiedete er sich, er wollte an seiner Biographie weiterarbeiten, kam gut voran. Sie konnte berichten, dass es schon mehrere Verlage gab, die sich um die Rechte rissen. Diese Neuigkeiten schienen ihn tief zu berühren.
»Du bist eine Perle, Annie. Wie gut, dass ich dich habe.«
Als sie in ihre Wohnung zurückkam, war sie so fröhlich, dass sie das Piepen zuerst gar nicht bemerkte. Erst als sie Schuhe und Jacke ausgezogen hatte, hörte sie einen schwachen, aber durchdringenden Ton, wie ein Pfeifton in Dauerschleife. Fieberhaft durchsuchte sie ihre Wohnung, bis ihr das Aufnahmegerät wieder einfiel. Das Geräusch war das Alarmsignal. Und tatsächlich, die rote Lampe leuchtete. Es dauerte eine Weile, bis ihr dämmerte, was das Signal bedeutete.
Verdammte Riesenscheiße!
Mit zitternden Händen nahm sie das Gerät und legte es in ihre Handtasche im Flur. Dann zog sie sich die Schuhe wieder an und warf sich einen Mantel über. Im Treppenhaus bemerkte sie zu ihrem Entsetzen, dass sie zwei verschiedene Schuhe trug, aber sie hatte es jetzt eilig und keine Zeit dafür.
Sie wusste nicht, wo sie hinfahren sollte, kurvte ziellos durch die Gegend, dann erinnerte sie sich an den kleinen See, an den sie manchmal mit dem Fahrrad fuhr. Die Stimme in ihrem Kopf lenkte sie ab, fast wäre sie von der Straße abgekommen
.
Das ist die Strafe. Jetzt ist dein Leben zerstört.
Keine Menschenseele war am See. Das Wasser unter dem kleinen Steg war tiefblau und spiegelglatt. Sie nahm das Gerät aus der Tasche und warf es auf den Boden, zertrat es mit ihren Hacken, bis es nur noch eine unförmige Blechkiste war. Dann lief sie bis ans Ende des Stegs und warf sie ins Wasser. Sah, wie sie langsam versank und in der Tiefe des Sees verschwand. Reglos stand sie dort eine ganze Weile. Ihr Atem ging schnell. Dann sah sie sich nervös um, aber sie war allein.
An diesem Abend blieb alles ruhig. Am nächsten Morgen, es war ein Samstag, stand sie am Fenster und sah über die Stadt. Die Sonne glitzerte auf den Dächern von Göteborg, und sie atmete tief aus. Die Polizei arbeitete nicht am Wochenende. Dass sie gestern Abend nicht gekommen waren, ließ den Schluss zu, dass sie die Kamera nicht zurückverfolgen konnten. Jetzt musste sie sich nur noch überlegen, wie sie es Franz erklärte. Er musste die DVDs beseitigen. Sie beschloss, im Gefängnis anzurufen und um eine Sonderbesuchszeit zu bitten. Hela McLean war schon misstrauisch geworden. Ihr rutschten Kommentare heraus wie: »Wozu braucht er so häufigen Besuch von seiner Anwältin?« Aber diesen Besuch konnte sie nicht aufschieben. Sie musste Franz warnen.
Doch ehe sie ihr Handy nehmen konnte, klingelte es an der Tür. Sie wusste sofort, was jetzt kam. Sie hatte die Tür noch nicht geöffnet, da hatte sich in ihrem Inneren schon ein Großteil des bevorstehenden Gesprächs durchgespielt. Entscheidend war, dass sie überzeugend wirkte.
Es waren zwei Polizeibeamte. Der eine zeigte seinen Ausweis und stellte sich und den Kollegen vor.
»Sind Sie Anna-Maria Callini?
«
»Ja, das bin ich.«
»Dürfen wir bitte reinkommen?«
Sie öffnete die Tür. Machte ein überraschtes Gesicht.
»Ist etwas passiert? Oh Gott, es ist doch niemand gestorben?«
»Nein, nichts dergleichen«, sagte der eine Beamte und setzte sich auf ihr weißes Sofa. Der andere lehnte sich gegen die Wand.
»Können Sie sich bitte setzen, wir wollen Ihnen etwas zeigen«, sagte der erste und zeigte auf den Sessel gegenüber vom Sofa. Sie setzte sich. Drückte die Beine zusammen und zog ihren Rock über die Knie, damit niemand sehen konnte, wie sehr sie zitterten.
»Kennen Sie eine Sofia Bauman?«
Anna-Marie spielte die Verdutzte. Runzelte die Stirn und tat so, als würde sie nachdenken.
»Meinen Sie die junge Frau, die gegen einen meiner Mandanten ausgesagt hat?«
»Ganz genau. Jemand hat in ihrer Wohnung eine Überwachungskamera installiert. Jetzt wurden ihr Aufnahmen davon zugespielt.«
Er zeigte ihr ein Foto auf dem Display seines Handys, auf dem sich Sofia Bauman eine Jeans anzog. Sie starrte das Foto an, bis sie die Details aus Baumans Wohnung wiedererkannte. Die Jalousien. Das billige Sofa.
Während ihr die verschiedensten Szenarien durch den Kopf gingen, verlor Anna-Maria die Fassung. Die Geschichte mit der Kamera und die damit verbundene Lüge war die eine Sache. Aber die Erkenntnis, dass diese Aufnahme ausschließlich auf eine einzige erklärliche Weise weitergeleitet worden sein konnte, war so überwältigend, dass es ihr in der Kehle stecken blieb und sie einen Hustenanfall bekam. Sie
bekam keine Luft mehr. Der Beamte, der sich gegen die Wand gelehnt hatte, klopfte ihr auf den Rücken.
»Alles in Ordnung?«
»Das ist einfach so unfassbar und schrecklich«, fiepte sie. »Aber warum kommen Sie damit zu mir?«
»Weil die Kamera von unseren IT-Experten zurückverfolgt wurde, und zwar zu Ihrer Wohnung.«
»Das ist vollkommen unmöglich. Das ist doch total absurd! Sie glauben ja wohl nicht, dass ich damit etwas zu tun habe? Sie können gerne meine Wohnung durchsuchen.«
»Das hatten wir auch vor«, sagte er und hielt ihr den Durchsuchungsbeschluss hin.
Über eine Stunde lang durchsuchten die beiden Beamten ihre Wohnung. Sie öffneten sämtliche Schubladen und Schränke, während sie zusah und ihre Tränen zurückhielt. Und jedes Mal, wenn sie sich verteidigen wollte, hielt einer der Polizisten abwehrend die Hand hin und ließ sie verstummen.
»Wir besprechen das später«, sagte er.
Ihre Gedanken jagten durcheinander. Hatte sie vielleicht einen Fehler gemacht? Hatte sie noch Teile von der Kamera oder eine vergessene DVD aufbewahrt? Die Polizisten stellten ihre Wohnung buchstäblich auf den Kopf. Am Ende setzte sich einer zu ihr aufs Sofa.
»Wir haben nichts gefunden. Sie haben das Aufnahmegerät nicht irgendwo versteckt oder entsorgt?«
Sie hatte die Zeit genutzt, um ihre Fassung zurückzugewinnen. Und hatte auch wieder Zugang zu ihrer Anwaltshaltung gefunden.
»Ihr Verdacht und Ihre Anschuldigungen sind in der Tat ungeheuerlich. Warum sollte ich denn um alles in der Welt
eine Kamera in der Wohnung einer Person installieren, die ich gar nicht kenne? Himmel! Ich bin Anwältin. Wissen Sie, was das bedeutet?«
»Natürlich, aber es ist ja nicht so, dass Sofia Bauman zu den Lieblingsmenschen Ihres Mandanten gehört.«
»Begreifen Sie das denn nicht? Das hier ist ein abgekartetes Spiel. Irgend so ein Computerfreak hat das gemacht, um mich anzuschwärzen. Jeder weiß, dass ich Franz Oswald verteidige. Sie sollten lieber überprüfen, was Sofia Bauman für Kontakte hat.«
»Sie wurde in letzter Zeit ziemlich viel schikaniert, wussten Sie das?«
»Nein, davon wusste ich nichts. Aber es überrascht mich auch nicht, in Anbetracht der Lügen, die sie über Franz Oswald verbreitet hat. Mein Mandant erfreut sich in bedeutenden Kreisen großer Beliebtheit und genießt hohes Ansehen.«
Der Beamte seufzte geräuschvoll.
»Ja, verstanden. Wir haben nichts gefunden. Aber Sie haben bestimmt Verständnis dafür, dass wir dem nachgehen mussten. Wollen Sie, dass wir alles wieder aufräumen?«
»Nein, darum kümmere ich mich selbst.«
Sie sah dem Streifenwagen hinterher, wie er den Parkplatz verließ und die Straße hinunterfuhr. Sie fühlte sich wie ausgehöhlt, ein hartnäckiger Tinnitus klingelte ihr in beiden Ohren. Das war verdammt knapp gewesen. Ihr ganzes Leben wäre den Bach runtergegangen. Aber ein Gedanke hatte sich in ihr festgebissen. Außer ihr hatte nur noch Franz Zugang zu den Aufnahmen. Es gab keine andere Erklärung. Ohne zu zögern, rief sie in Skogome an.
McLean ging ans Telefon
.
»Sie wollen schon wieder vorbeikommen? Sie waren doch gestern erst da.«
»Als würde Sie das etwas angehen«, fauchte Anna-Maria. »Ich habe eine wichtige Angelegenheit und muss ihn heute Vormittag besuchen können.«
McLean seufzte.
»Meinetwegen. Kommen Sie vorbei.«
Kaum hatte der Wärter die Tür des Besuchsraums hinter ihnen geschlossen, brüllte sie los. Oswald reagierte weder überrascht noch verärgert. Er fing an zu lachen.
»Sollen die Wachen gleich wieder hereinkommen, bevor wir geredet haben?«
»Pfui Teufel, was du getan hast, ist so abstoßend und ekelerregend.«
Sie warf sich mit geballten Fäusten auf ihn und trommelte damit auf ihn ein. War von sich überrascht, dass sie das überhaupt wagte. Aber er lachte nur lauter.
»Jetzt hör mal auf damit. Was ist denn passiert?«
»Wie ist es dir überhaupt gelungen, die Aufnahmen hier herauszuschmuggeln? Ich hab doch alle Umschläge abgetastet, die du mir mitgegeben hast. Da war nie etwas drin.«
»Ja, das ist richtig. Warum sollte ich so etwas Dämliches auch tun?«
»Jemand hat eine der Aufnahme kopiert und sie Bauman geschickt. Die Polizei hat meine Wohnung durchsucht und alles rausgerissen. Hätte ich das Aufnahmegerät nicht rechtzeitig entsorgt, wäre ich am Ende gewesen. Kannst du mir das bitte erklären?«
Im Eifer des Gefechts hatte sie beim Sprechen gespuckt und dabei Oswalds Wange getroffen. Sofort schämte sie sich dafür und fühlte sich nur noch schlechter
.
»Vielleicht solltest du dich mal mit deinem Buddy unterhalten. Damian heißt er doch, stimmt’s? Für ein bisschen Kohle macht der doch alles. Außerdem kommt er in jede Wohnung rein. Oder hast du ihm einen Schlüssel gegeben?«
»Was? Und wie hast du mit ihm Kontakt aufnehmen können?«
»Kannst du dir doch denken, Fräulein Neunmalklug. Du bist doch meine Botin.«
Anna-Maria fiel auf den gelben Sessel, verbarg ihr Gesicht in den Händen und weinte. Etwas anderes konnte sie nicht tun. Sie war ohnmächtig.
»Du kannst ihn fragen, aber wahrscheinlich wird er alles abstreiten«, hörte sie Oswalds Stimme, zynisch und nüchtern.
»Und ich habe dir vertraut«, flüsterte sie. Ihre Stimme klang piepsig, wie die eines kleinen Kindes, und sie hatte sie nicht unter Kontrolle.
Oswald zog sie hoch, damit sie stand, nahm sie in seine Arme, wiegte sie hin und her. Tat das, wonach sie sich so lange gesehnt hatte.
»Komm, jetzt beruhig dich mal wieder. Ich kann dir erklären, warum das notwendig war. Du glaubst mir doch, dass ich dir niemals absichtlich etwas Böses antun würde?«
»Aber so kann das wirklich nicht weitergehen«, schniefte sie. Sie hatte den Kopf in seiner Gefängniskluft vergraben, die verbrannt und nach billigem Waschmittel roch. Sie atmete tief ein, wollte seinen ganz eigenen Körpergeruch inhalieren, der doch so klar und frisch war. Da legte er ihr einen Finger unter das Kinn und hob ihr Gesicht an.
»Aber, meine süße Annie. Es hat doch gerade erst angefangen. Von jetzt an wird es richtig lustig!«